CHEMIE IST EINE Heimsuchung mit komplizierten Formeln? Wissenschaftler sind wundersame Wesen mit flaschenbodendicker Brille auf der Nase und blubberndem Reagenzglas in der Hand? Dr. Mai Thi Nguyen-Kim ist der lebende Gegenbeweis, nicht nur, weil sie statt weißen Laborkitteln lieber Kostüm oder selbstironische Statement-Shirts trägt. Mai Thi ist Chemikerin aus Leidenschaft, Journalistin des Jahres 2018 in der Kategorie Wissenschaft und nun auch Autorin eines druckfrischen Pop-Science-Buchs.

Wie schon die Liebeserklärung an Ihre Eltern am Anfang Ihres Buches zeigt, ist der Verdacht auf eine Tiger-Mum bei Ihnen falsch. Woher kommen Ihr Lerneifer und Ihre schulischen Bestleistungen?
Ich bin eine intrinsische Streberin. Mir macht Lernen großen Spaß und zu Schulzeiten habe ich gute Noten wie eine Art Sport verfolgt. Da gab es natürlich manchmal Interessenkonflikte, denn für einen Teenager gibt es ja nichts Schlimmeres, als einem Klischee zu entsprechen.

Würden Sie sagen, diese sympathische Art von Strebertum steckt gewissermaßen noch immer in Ihnen und beflügelt Sie?
Naja, „sympathisch“ … Während der Schule habe ich eher versucht, meine Freude am Lernen zu verheimlichen. Ich tat so, als wären die guten Noten aus Versehen. Heute kann ich das natürlich perfekt ausleben. In meinem Beruf werde ich ja quasi fürs Lernen bezahlt. Und meine Freude vermittelt sich hoffentlich beim Erklären. Mein Strebertum ist die beste Voraussetzung für meine Arbeit.

In Ihrer Familie scheint es einen Virus zu geben, denn fast alle sind Chemiker: Ihr Vater, Ihr älterer Bruder, Ihr Ehemann und Sie selbst. Wie erklärt sich das?
Ganz einfach. Sobald das „Chemie-Virus“ die richtige Mutation besitzt, ist es hoffnungslos ansteckend. Chemie eröffnet Zutritt zu einer sonst unsichtbaren Welt von Atomen und Molekülen, die unser Leben steuern. Wer kann das nicht faszinierend finden? Die Chemie ist wie ein unglaublich wunderbarer Mensch, der aber unglaublich schlecht im Smalltalk ist und deshalb bei den meisten nicht über den schlechten, ersten Eindruck hinauskommt.

Sie zitieren Ihren Vater, der die Überzeugung vertritt, dass gute Chemiker auch gut kochen. Würden Sie ihm zustimmen?
Klar! Im Labor macht man nichts anderes als in der Küche.

Trifft die Kochtalent-Unterstellung Ihres Vaters auch auf Sie zu?
Aber sicher, sonst wäre ich ja keine gute Chemikerin! Spaß beiseite, ich koche zumindest unglaublich gerne. Ob ich Talent habe, müssen Sie meine Freunde fragen. Backen macht mir auch viel Spaß, das ist sogar noch näher an der Chemie als das Kochen. Ich mache zum Beispiel einen ziemlich guten Fondant au Chocolat. Das Rezept verrate ich übrigens auch in meinem Buch.

Wonach schmecken Ihre schönsten Kindheitserinnerungen?
Bei uns zu Hause gibt es natürlich das beste vietnamesische Essen Deutschlands, klar. Trotzdem war als Kind eines meiner Lieblingsgerichte Nürnberger Würstchen mit Reis. Zum Glück entwickelte ich mit dem Alter einen vernünftigen Geschmackssinn und konnte bald das kulinarische Privileg wertschätzen, im Hause Nguyen-Kim aufzuwachsen. Meine Mama und mein Papa kochen beide sehr gut. Nur meine Mama kocht vorrangig aus der Motivation heraus, ihren Liebsten etwas Gutes zu tun, während es bei meinem Papa die pure Freude am Kochen ist. Typische Familienszene: Das Essen ist fertig, wir setzen uns alle an den Esstisch – nur mein Papa flitzt noch durch die Küche, weil er doch noch schnell ein Sößchen oder Ähnliches zaubern muss. Nur durch wiederholtes Rufen kriegen wir ihn irgendwann an den Tisch. In 31 Jahren habe ich es noch nie erlebt, dass mein Vater pünktlich mit uns am Esstisch saß.

Sich nur im Labor zu vergraben, war noch nie Ihr Ding. So haben sie z.B. schon während des Studiums an Science-Slams teilgenommen. Was empfanden Sie dabei als größte Herausforderung?
Als ich damals bei „funk“, dem Online-Angebot von ARD und ZDF, anfing, wurde ich manchmal gefragt, ob ich mich denn nicht unterfordert fühle – von Forschung im Labor zu YouTube-Videos? Es ist genau das Gegenteil. Je einfacher man etwas erklären muss, desto schwieriger wird es. Meiner Empfindung nach fordert mich mein Beruf als Wissenschaftsvermittlerin stärker als mich die Doktorarbeit damals forderte. Und da ich wie gesagt eine kleine Streberin bin, liegt genau in dieser Herausforderung auch das große Vergnügen.

„Wissenschaftler … das unbekannte Wesen?“

Während Normalsterbliche während der Doktorarbeit manchmal nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht, haben Sie nebenbei Ihren YouTube-Kanal gestartet: „The Secret life of Scientists / Das geheime Leben der Wissenschaftler“. Ihr Antrieb?
Mich hat es genervt, dass ich regelmäßig Leute überraschte, wenn ich ihnen sagte, ich sei Chemikerin. Wie stellen die sich Chemiker denn vor? Wissenschaftler sind anscheinend unbekannte Wesen, niemand weiß, wie wir aussehen, ob wir Hobbies oder gar Freunde haben?! Das wollte ich mit „The Secret Life of Scientists“ ändern. Dieses Image umzustoßen, war damals der erste, zündende Antrieb.

Dürfen wir Sie um eine Kostprobe bitten? Das Thema Ihrer Doktorarbeit war: „Physikalische Hydrogele auf Polyurethan-Basis“. Wie lautet Ihre Übersetzung für interessierte Nicht-Chemiker kurz und knapp?
Stellen Sie sich vor, Sie brauchen eine neue Leber. Und Sie müssten nicht auf Organspenden angewiesen sein, sondern man könnte Ihnen aus Ihrer Haut eine kleine Gewebeprobe mit Stammzellen entnehmen und aus diesen Stammzellen eine Leber züchten – Ihre Leber, gewissermaßen. Das ist die Zukunftsvision von Tissue Engineering, der Herstellung künstlicher Organe. Nun bestehen Organe hauptsächlich aus Zellen, doch eine Handvoll Zellen macht ja noch kein Organ. An dieser Stelle sind Chemiker gefragt! Die können dreidimensionale Gerüste für diese Zellen bauen, auf denen sie ordentlich wachsen können. Solche Gerüste habe ich in meiner Doktorarbeit entwickelt.

Als Dozentin für Wissenschaftskommunikation verstehen sie sich nicht nur auf die Theorie, sondern auch auf die Anwendung. 2018 wurden Sie in der Kategorie Wissenschaft als „Journalistin des Jahres“ ausgezeichnet. Wie würden Sie Ihren Idealanspruch an sich selbst auf den Punkt bringen?
Wissenschaft und Wissenschaftsjournalismus basieren im Grunde auf denselben Idealen. Verifizierbarkeit, Sachlichkeit, Differenziertheit – alles im Sinne der Aufklärung. Das spielte für mich in meiner Forschung eine genauso große Rolle wie jetzt.

„Leute – Ihr verpasst was!“

Nun geben Sie Ihr Debüt als Buchautorin. Was ist Ihre Mission mit dem Buch?
Natürlich möchte ich, dass sich die Leserinnen und Leser genauso sehr in die Chemie verlieben wie ich. Die Leute verpassen was! Aber mein eigentliches Motto ist: Wir brauchen mehr wissenschaftlichen Spirit. Chemie ist dabei nur eine Waffe der Wahl. Zu einem wissenschaftlichen Spirit gehört eine Freude an komplexen Zusammenhängen und die Bereitschaft, sich nicht mit der einfachsten Antwort zufrieden zu geben. Es ist die Fähigkeit, die Welt so zu betrachten, als würde man sie zum ersten Mal sehen und die ständige Suche nach neuen Erkenntnissen. Und die Offenheit, auch mal die eigene Meinung zu ändern, wenn neue Erkenntnisse es verlangen. Es ist eine schöne und wertvolle Grundhaltung, die wir in allen Teilen unserer Gesellschaft gebrauchen können.

Ihr Hauptargument, um auch Leute mit eher schlechten Erinnerungen an den Chemieunterricht als Leser zu gewinnen?
Man sollte sich mal fragen, warum es so seltsame Menschen gibt, die Chemiker werden. Sind diese Leute nur verrückt? Oder – hat man vielleicht irgendwas Tolles in der Schule verpasst? Glauben Sie mir, Sie haben etwas Tolles verpasst. Lesen Sie mein Buch!

„Formeln sind doof?“

Was entgegnen Sie Formel-Hassern und Periodensystem-Verweigerern?
Das Schöne ist, mein Buch verstehen Sie auch ohne Formeln und Periodensystem. Manche chemischen Strukturen sind einfach nur deswegen im Buch, weil ich sie hübsch finde, das gebe ich zu. Andere lösen aber kleine Aha!-Momente aus. Formeln sind nur doof, wenn man sie nicht versteht. Doch der Moment, in dem aus einer unverständlichen Formel ein sinnvolles Bild wird, ist richtig cool. Und ich verspreche Ihnen, diesen Moment werden Sie haben.

Welche Ihrer Tipps versprechen uns Nutzen für den eigenen Alltag?
Wann man morgens am besten seinen Kaffee trinkt, welches Reinigungsgel nun wirklich mild ist, wie der Handyakku länger hält oder wie man das perfekte Fondant au Chocolat backt – die Liste könnte ich noch lange weiterführen. Es gibt keinen Alltagsbereich, in dem Chemie nicht nützlich wäre. Das Buch ist voll von Beispielen dafür!

Das Finale widmen Sie einem Aspekt, der nun wirklich alle interessieren dürfte: ob die Chemie zwischen Menschen stimmt oder eben nicht – lässt sich das mit Molekülen erklären?
Ich könnte jetzt viel Schönes über die Chemie der Liebe erzählen, etwa wie das „Kuschelhormon“ Oxytocin nicht nur Mutter-Kind-Bindungen stärkt, sondern auch den monogamen Präriewühlmäusen bei der Partnerwahl hilft. Oder warum unsere Körperchemie manchmal nicht zwischen Verliebtsein und Säbelzahntigern unterscheidet. Doch das Geheimnis einer glücklichen Beziehung wird noch lange geheim bleiben. Aber das ist eigentlich auch schön. Offene Fragen sind wissenschaftlich fast spannender als faszinierende Antworten.

Auf Ihre Erfolge stoßen Sie wohl nicht – oder zumindest nicht freiwillig – mit Champagner oder anderen alkoholischen Getränken an. Schuld daran ist der „Asian Flush“. Was hat es damit auf sich?
In meinem Alkohol-Abbau-Enzym ist ein kleiner Baustein vertauscht, was es inaktiv macht. Alkohol baut sich bei mir also deutlich langsamer ab und selbst kleinste Mengen führen zu Übelkeit, Herzrasen und einem besonders ulkigen Symptom (zumindest für Außenstehende) – einer krebsroten Hautfarbe, vor allem im Gesicht. Doch haben Sie kein Mitleid, dieses Asian-Flush-Syndrom ist letztendlich nur ein Schutz gegen Alkoholismus, denn ich bin ja gar nicht dazu in der Lage, größere Mengen zu trinken. So werde ich zur Gesundheit gezwungen – ist doch auch nicht schlecht.

Mit welchem Fuß sind Sie eigentlich heute aufgestanden?
Ich stehe fast ausnahmslos mit dem falschen Fuß auf. Zumindest ist das frühe Aufstehen für mich meistens eine Qual. Seit kurzem habe ich die wissenschaftliche Begründung dafür: Meine innere Uhr, die von Genen und Proteinen angetrieben wird, ist bei mir 2,5 Stunden zu früh gestellt. Das heißt, wenn morgens um 7 Uhr mein Wecker klingelt, ist es in meinem Körper erst 4:30 Uhr! Das habe ich im Rahmen einer Quarks-Sendung bei Berliner Chronobiologen erfahren. Die legten mir nahe, mich stärker nach meiner inneren Uhr zu richten – alles andere ist auf Dauer nämlich ungesund. Ich werde mir also vornehmen, in Zukunft später aufzustehen. Die wissenschaftliche Lizenz hab ich ja nun.