EIN SCHOCK? Nein, A. J. Finn empfand es eher als Befreiung, dass er 2015 eine klare Diagnose bekam. Nach 15 Jahren im Schatten schwerer Depressionen wurde seine bipolare Störung erkannt – endlich eine Chance auf die richtige Behandlung. Finns Lebensgeister erwachten wieder, seine Kreativität ebenfalls. So schrieb der promovierte Literatur­profi mit Jobstationen bei namhaften Verlagen in England und den USA seinen ersten Psychothriller – eine unheimliche Hitchcock-Hommage.

Als Lektor und Programmleiter arbeiteten Sie mit den großen Stars der internationalen Literaturszene zusammen, darunter Stephenie Meyer, Patricia Cornwell, Nicholas Sparks und J.K. Rowling, auch während ihrer Zweitkarriere als Robert Galbraith. Inwiefern wurden Sie dadurch beeinflusst?
Ich habe gelernt, Autoren wertzuschätzen, die ihre Arbeit ernst nehmen, sich an Zeitpläne halten und zuvorkommend und höflich mit ihren Verlegern umgehen (ich habe aber auch gelernt, Autoren zu vermeiden, die sich schlecht benehmen). Egal welchen Beruf man ausübt, gute Manieren und harte Arbeit beeindrucken mich immer.

Empfanden Sie die Zusammenarbeit mit berühmten Autoren ermutigend oder eher einschüchternd, als Sie Ihren Debütthriller schrieben?
Ich war nicht sehr eingeschüchtert, was aber vor allem daran liegt, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass mein Roman jemals seinen Weg auf den Tisch eines Lektors finden wird. Ich habe ihn hauptsächlich für mich geschrieben.

Haben Sie damit gerechnet, dass Ihr Buch so begeistert aufgenommen werden würde? Oder hatten Sie eher Zweifel an sich selbst, der Idee und Umsetzung des Romans?
Mein einziges Ziel war es, das Wörtchen »Ende« nach Abschluss des letzten Kapitels tippen zu können. Ich habe wirklich nicht gedacht, dass sich irgendjemand für den Roman interessieren würde.

Glauben Sie, Bestseller sind planbar?
Nein, auf keinen Fall. Man kann sich nie sicher sein, dass eine Veröffentlichung
erfolgreich verlaufen wird. Das macht die Verlagsbranche ja auch so spannend (und frustrierend!). Man weiß vorher nie, was bei den Lesern ankommt.

Wie würden Sie Ihren Roman in einem Satz beschreiben?
Es ist ein Thriller, der davon erzählt, wie schwierig es sein kann, andere zu verstehen und eine Verbindung zu ihnen herzustellen – und wie gefährlich es werden kann, wenn es schief geht.

Wie haben Sie das Thema gefunden?
Eines Abends, als ich gerade „Das Fenster zum Hof“ in meiner New Yorker Wohnung angeschaut habe, sah ich, wie meine Nachbarin gegenüber das Licht in ihrem Wohnzimmer anknipste. Ich beobachtete sie – und plötzlich begann die Idee zum Roman Gestalt anzunehmen.

Ihre Protagonistin Anna Fox ist Psychotherapeutin, und sie selbst ist wahrscheinlich ihr schwierigster Fall. Was war Ihnen beim Entwerfen ihres Charakters wichtig?
Ich wollte erreichen, dass Anna sich wie eine echte Person anfühlt, dass sie vielschichtig ist, Hobbies und Eigenarten hat. Am wichtigsten war mir, dass sie sympathisch, intelligent und aktiv ist, es gibt viel zu viele passive Heldinnen in psychologischen Thrillern, die ihr Wohlergehen von Männern abhängig machen.

Wie erging es Ihnen als Sie das Buch geschrieben haben? War die Tatsache, dass Sie selbst von Depressionen und Angstzuständen betroffen waren, hilfreich oder hat es den Prozess eher erschwert?
Ich empfand es als eine sehr läuternde Erfahrung. Als ich begann, den Roman zu schreiben, ging es mir besser als zuvor und definitiv besser als Anna. Ich nutzte die Gelegenheit, meine eigenen Schwierigkeiten durch Annas Perspektive zu betrachten – quasi aus sicherer Entfernung.

Anna hat im Internet ein Selbsthilfebuch für Menschen mit psychischen Problemen veröffentlicht. Was sind Ihrer Erfahrung nach die wichtigsten Tipps für Betroffene?
Drei essentielle Tipps für jeden, der an psychischen Problemen leidet: 1. Mit Ihnen ist alles in Ordnung – Ihre Probleme sind nicht Ihre Schuld. 2. Mit anderen darüber zu sprechen, sei es ein Freund, Familienmitglied oder am besten ein Therapeut, nimmt den Druck und hilft, Abstand zu gewinnen. 3. Keine Angst vor Medikamenten! Ärzte verschreiben sie, weil sie helfen. Man muss sich nicht dafür schämen, sich behandeln zu lassen. Psychische Probleme sind nichts anderes als jede andere Krankheit.

Anna und ihr neuer Nachbar, der junge Ethan Russel, sind sich einig, dass es harte Arbeit sein kann, in eine neue fremde Nachbarschaft zu ziehen und dort Freunde zu finden. Wie erging es Ihnen, als Sie für Ihr Studium nach Großbritannien zogen und dann wieder in die USA?
New York ist eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, trotzdem kann man sich dort sehr einsam fühlen, gerade wenn man von so vielen Menschen umgeben ist, die ihre eigenen Leben, Freunde und Pläne haben. Allerdings komme ich ziemlich gut allein klar, für mich ist es essentiell, eine Wohnung für mich allein zu haben, wo ich ganz für mich sein kann.

Annas einzige Gesellschaft ist ihr eigensinniger Kater Punch. Welches Tier bevorzugen Sie?
Hunde, gar keine Frage. Hunde sind soziale Wesen, Katzen eher nicht so. Anna könnte ohnehin keinen Hund haben, sie müsste mit ihm rausgehen, ihre Komfortzone verlassen.

Welche Abneigungen oder Vorurteile teilen Sie mit Anna?
Abgesehen von den psychischen Problemen haben Anna und ich ein paar Dinge gemeinsam. Wir lieben Filmklassiker und Film-Noir, wir sprechen Französisch, wir gehen gerne segeln und benutzen Schimpfwörter, wenn wir allein sind.

 

„Keine billigen Tricks …“

Inwiefern sind Filmklassiker Vorbilder für Sie als Schriftsteller?
Klassische Kinofilme, vor allem Noir-Thriller und die Filme von Alfred Hitchcock, zeichnen sich durch Zurückhaltung, Stil und Können aus. Deswegen sind sie auch so zeitlos – sie verlassen sich nicht auf billige Tricks oder blutige Effekte. Hitchcock hat Spannung einmal mit einer Bombe verglichen, die unter dem Tisch tickt – im Gegensatz zur Überraschung, die er als Bombe definiert hat, die unter dem Tisch explodiert.

Im Gespräch mit Ethan erklärt Anna, warum sie einen bestimmten Film empfiehlt: „Er ist spannend, aber nicht gruselig“. Trifft diese Beschreibung auch auf Ihren Roman zu und entspricht das Ihrem Ideal?
Ich bin sehr zufrieden mit dieser Beschreibung. Einige Leser haben mein Buch „gruselig“ oder „angsteinflößend“ genannt, aber (und ich weiß, ich riskiere, selbstgefällig zu wirken) ich würde den Roman spannend nennen, in der Tradition von Hitchcock – auf jeden Fall war das mein Ziel!

Es scheint, als ob Anna das Beobachten ihrer Nachbarn noch interessanter findet als ihre geliebten Filme. Sie betrachtet das Privatleben ihrer Nachbarn im kleinsten Detail – warum tut sie das? Wie sind Sie auf diese ziemlich unheimliche Idee gekommen?
Ob sie es weiß oder nicht – Anna sehnt sich verzweifelt danach, eine Verbindung zu anderen aufzubauen. Aber sie besteht darauf, es auf ihre Art zu tun, ohne die Menschen tatsächlich kennenzulernen, an denen sie interessiert ist. Da liegt ihr Fehler. Ich stehe dem Internet ziemlich skeptisch gegenüber, dort interpretieren die Leute sich selbst und andere ständig falsch. Es ist so leicht, jemandem online zu glauben, oder ihn in einem falschen Licht zu sehen. Obwohl die digitale Welt uns näher zusammenbringt, macht sie es auch sehr einfach, einander zu missverstehen.

Wie haben Sie sich für den Erfolg Ihres Debütromans belohnt?
Ich habe meine Schulden aus Studiengebühren abbezahlt, was sich toll angefühlt hat. Ich werde später in diesem Jahr eine Wohnung in London kaufen und zwei Hunde: einen Labrador aus dem Tierheim und einen Welpen, eine französische Bulldogge.

Abgesehen vom Erfolg Ihres Buches: Was macht Sie glücklich?
Lesen, Bücher sammeln, Filme, Schwimmen, Segeln, Hunde, Reisen (zumindest mag ich es, an anderen Orten zu sein, den Weg dorthin nicht so sehr – ich fliege ungern), Musik – manchmal drehe ich die Musik in meiner Wohnung ganz laut auf und tanze ganz allein, obwohl ich wirklich ein schlechter Tänzer bin. Außerdem machen mich meine Freunde und meine Familie glücklich. Es gibt mir auch ein gutes Gefühl, wenn ich andere glücklich machen kann, egal ob es Freunde oder Fremde sind.

Was ist Ihr Lebensmotto?
Es klingt kitschig, aber ich glaube fest daran, dass man andere wohlwollend behandeln sollte. Man weiß nie, was andere gerade durchmachen, unter welchem Druck sie stehen und so weiter. Ich habe es noch nie bereut, freundlich zu jemandem gewesen zu sein, aber ich bereue die Momente, in denen ich netter hätte sein können.

Wie sieht ein perfekter Tag in New York für Sie aus?
Ich stehe gern früh auf, obwohl ich eigentlich kein Morgenmensch bin. Zum Frühstück gibt es vier Rühreier, einen Heidelbeer-Smoothie und eine Tasse Earl Grey mit Milch und Honig. Dann schreibe ich ein paar Stunden, skype mit einem Freund, esse einen Salat mit gegrilltem Huhn zu Mittag, gehe nachmittags ins Fitnessstudio und vor dem Abendessen in einen Buchladen. Abends sehe ich mir dann einen Film an (gerade schaue ich die deutsche TV-Serie Dark). Ich bin allein ziemlich zufrieden, aber ich sehe auch gerne meine Freunde. Natürlich werde ich noch mehr schreiben müssen, und irgendwann dieses Jahr wird mein Tagesplan auch Gassi gehen beinhalten.