AUS DER REIHE tanzen und das Außergewöhnliche kulti­vieren: Längst ist dies zum Markenzeichen von Matthes & Seitz geworden. Alle Ehre macht sich der Berliner Verlag mit seinen „Naturkunden“: Sie sind der leidenschaftlichen Erforschung der Welt verschrieben und das wohl Schönste, was derzeit über Tiere, Pflanzen, Pilze, Steine, Sterne und Landschaften in Buchform erscheint. Jeder der inzwischen 44 Bände ist ein eigenständiges Kunstwerk. Die Besonder­heiten erläutert die Herausgeberin Judith Schalansky, Schrift­stellerin, Gestaltungskünstlerin und zwei Mal mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet. 

Welches Naturerlebnis hat sie zuletzt beglückt? ­
Ich war gerade in der Uckermark und sah einen Fuchs in seinem wunderbar dicken Winterfell durch ein verschneites Feld schnüren. Es ist ein seltsam trabender, aber durchaus eleganter Gang. Und heute entdeckte ich einen Buntspecht in meinem Hinterhof, mitten in Berlin. Es vergeht kaum ein Tag ohne Naturerlebnis: Die bloße Sonne, eine bestimmte Wolkenformation.

Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie einen Apfel essen? K1, K3 und K4?
Nein. Aber ich denke durchaus an die unglaubliche Vielfalt des Kulturapfels und bewundere maßlos Menschen, die die verschiedenen Sorten bestimmen können. Auf einem Erntedankfest erlebte ich einmal einen solchen Pomologen: Er begutachtete fachmännisch Stiel, Kelchgrube und Kerngehäuse der mitgebrachten Äpfel und sagte dann so etwas Schönes wie „Marmorierter Sommerpepping“, „Grüner Winterrambur“ oder „Blutroter Kardinal“! Auch eine Form der Poesie!­

Korbinian Aigners Apfel- und Birnenstudien dürften das bisher gewichtigste Werk in der „Naturkunden“-Reihe sein. War das verlegerischer Mut oder Wahnsinn? ­
Ja, das Aigner-Buch (erschienen 2013) war ein Wahnsinn, wie er wohl für Neugründungen typisch ist. Man versucht das Unmögliche. Bezeichnenderweise ist der Band mit den fast 900 Aquarellen von Apfel- und Birnensorten heute vergriffen und wird antiquarisch für beinahe das Dreifache gehandelt. Es ist im Grunde nicht möglich, solche Bildbände in Deutschland zu produzieren. Das war uns aber wichtig. Aber wer von Äpfeln spricht, sollte die Pilze nicht verschweigen. Ein mindestens ebenso gewichtiges wie wahnsinniges Unternehmen war es, die gesammelten Pilz-Aquarelle des vor allem als Insektenforscher bekannten Jean-Henri Fabre herauszubringen. Aber mit solchen Büchern erfüllt man sich Wünsche.­

Reihe bedeutet für gewöhnlich: Wiedererkennungseffekt. Die „Naturkunden“ sind zwar alles andere als gewöhnlich, aber wir fragen dennoch: Was ist das Markenzeichen? Was ist unverwechselbar und besonders?
Als Signet der Reihe haben wir nicht ohne Grund eine Koralle gewählt, die unter all den staunenswerten Wesen im Reich der Natur wohl zu den wundersamsten zählen, allein weil sie so verstörend vielgestaltig auftreten. Lange wusste man nicht, was sie nun eigentlich sind: Pflanze, Tier oder Stein, oder womöglich alles zugleich? Sie sind wahre Tausendsassas: Baumeisterinnen von Riffen, Filter der Ozeane und Prunkstücke jeder barocken Wunderkammer. Die Bücher der „Naturkunden“ wollen ebenso erstaunlich und vielgestaltig sein, und zeigen, wie vital das gedruckte Buch ist.

Der „Krähen“-Band spielt mit dem rabenschwarzen Image und wirkt wie ein eigenständiges bibliophiles Kunstobjekt. „Sprechende Blumen“ oder der neue Band „Nelken“ mit dem nostalgischen Lexikon-Flair ebenfalls. Was macht denn aus so unterschiedlichen Einzeltiteln ein Gesamtkunstwerk als Reihe?
Eine Gestaltung, die trotz verschiedener Materialien und Formate ihrem jeweiligen Gegenstand angemessen begegnet. Normalerweise haben Reihen immer das gleiche Format, die Naturkunden jedoch mittlerweile fünf verschiedene Formate, die – ausgehend von den klassischen Proportionen von Kleinoktav, Oktav, Kleinquart und Folio – die Vielfalt und Qualität buchgestalterischer Möglichkeiten aufzeigen. Der farbige Kopfschnitt, das Frontispiz und die Fadenheftung sind Ausdruck einer Haltung, die den Inhalt ernst nimmt, ihn angemessen umsetzt, und ihn sinnlich erfahrbar macht.

Von Anleitungen zur Hühnerhaltung bis zur Imkerei: Auf dem Buchmarkt scheint „Zurück zur Natur“ zu boomen. Wie erklären Sie sich diesen Trend?
Die Natur ist immer auch Projektion. In der Antike stand sie für die ungezähmte, bedrohliche Wildnis, die es zu überwinden galt, heute eben für die Lust, selbst Brot zu backen oder einzuwecken. Ohnehin lässt sich diese ambivalente Beziehung gut am Essen ablesen: Vor fünfzig, hundert Jahren gab es noch jemanden in der Verwandtscha­ft, der auf dem Dorf lebte, selber schlachtete oder ein Feld bewirtscha­ftete. Heute sind wir von deren Produktion abgeschnitten. ­Dass das ebenso praktisch wie problematisch ist, zeigt Thomas Macho in seinem Schweine-Portrait.

„Kröten sind die, die nicht geküsst werden.“

Die „Naturkunden“ sind weder reine Wissenschaft­ noch Wohlfühlausflüge zu Kuscheltieren. Was sind sie stattdessen? ­
Im besten Sinne Naturgeschichte. Wir glauben daran, dass man die Natur vor allem im Erzählen erfahrbar machen kann. ­

Thematisch scheint sich die Reihe keine Einschränkungen aufzuerlegen. Was ist bei der Themenwahl ausschlaggebend?
Unsere Begeisterung. Alles ist erlaubt. Wir haben auch schon Bücher über Kakteen oder Gespenster gemacht.

Angesichts der ­Themenfülle – wie entstand das neue Programm? ­
Nachdem wir im letzten Frühjahr mit den „Brennnesseln“ unsere Pflanzenportraitreihe gestartet haben, folgt nun deren Nachfolger „Nelken“. Die Nelke gehört wohl zu den am meisten geschmähten Blumen überhaupt. Eva Meijers Buch „Die Sprachen der Tiere“ widmet sich einem der großen utopischen Sehnsüchte der Menschheit: Endlich mit unseren Mitgeschöpfen kommunizieren zu können. Und Roger Deakins Buch „Wilde Wälder“ ist nichts geringeres als erlebte Kulturgeschichte des wohl grundlegendsten Rohsto­ffes überhaupt: des Holzes. Die Programmgestaltung ergibt sich mittlerweile beinahe organisch.

Frösche sind ja den meisten von uns noch aus Märchen vertraut. Aber Kröten?
Dass sind eben diejenigen, die nicht geküsst werden: Ungeliebt, hässlich und verdammt. Ein perfektes Tier für unsere Portraitreihe. Wir haben eine Vorliebe für unterschätzte Tiere wie Krähen, Schnecken oder Esel. ­

In der Verlagsvorschau behauptet der Ankündigungstext kühn: „Ob es uns gefällt oder nicht, in jedem von uns steckt – nicht nur evolutionsgeschichtlich – eine Kröte.“ Das klingt im ersten Moment nicht gerade schmeichelhaft. Wie ist es gemeint?
Ja, unsere Abneigung gegenüber Tieren wie Schweinen, Ratten oder auch Kröten verrät viel über den menschlichen Wunsch, sich von einem bestimmten evolutionsgeschichtlichen Erbe abzugrenzen, bloß nicht daran erinnert zu werden, wie viel domestiziertes Wildschwein, Laborratte oder Froschlurch in uns steckt.

Die „Naturkunden“-Bände wirken wie Gegenstücke zur auf Sensationen bedachten Eventkultur. Was versprechen die „Naturkunden“?
Ich glaube, dass man sehr schnell merkt, dass hier ein Gegenstand inhaltlich wie gestalterisch ernst genommen wird. Schönheit hat ja etwas mit Angemessenheit zwischen Form und Inhalt zu tun. Die Bücher sprechen für sich.

In welchem Verhältnis stehen Text und Illustrationen?
Das Verhältnis zwischen Text und Bild ist im Idealfall so symbiotisch wie zwischen Putzerfisch und Zackenbarsch. Der Putzerfisch schwimmt dem Zackenbarsch ins Maul und säubert diesen. Die Fische könnten zwar auch ohne diesen Putzdienst überleben, aber dennoch ist er so begehrt, dass die Fische mitunter Schlange stehen, bis sie an der Reihe sind.

Welches Buch war für Sie das größte künstlerische Abenteuer? Und warum?
Die foliantengroßen Bildbände – Aigners Äpfel, Fabres Pilze oder auch Burians Urzeitbilder – stellten naturgemäß die größte Herausforderung dar, weil solche Bücher allein von ihrem schieren Umfang her sehr zeit- und kostenintensiv sind. Aber als wir für das Sachbuch „Insektopädie“ ein sehr effektvoll violett-grün schillerndes Leinen aussuchten, waren wir auch nicht sicher, ob das dann ganz schlimm oder richtig gut aussieht. Gottseidank wurde es letzteres.

Was glauben Sie: Welcher Lesertypus hat Vergnügen an den „Naturkunden“?
Ich bilde mir ein, dass ein Buch wie beispielsweise Peter Krauss’ Handwörterbuch der Vogellaute „Singt der Vogel, ruft er oder schlägt er?“ jedem Menschen Freude macht, der eine Amsel von einem Star unterscheiden kann. Und das, hoff­e ich, sind doch einige und werden womöglich gerade wieder mehr.