KAUM EIN KAPITEL der deutschen Geschichte verursacht so heftige Kontroversen wie das Ende des Ersten Weltkriegs 1918, die Schuldfrage und die Folgen. 2018, zum 100-jährigen Gedenken, ist es höchste Zeit, die Ursachen neu zu beleuchten – und die Frage, wie in der Weimarer Republik eine solche Unkultur des Hasses entstehen und um sich greifen konnte. Genau darum macht sich Gerd Krumeich verdient, einer der profiliertesten Historiker hierzulande und Autor eines der wichtigsten Bücher zum Thema: „Die unbewältigte Niederlage“, eine Studie von alarmierender Aktualität.

Für Ihre Abschiedsvorlesung an der Universität Düsseldorf haben Sie das Thema „Vom historischen Erzählen“ gewählt. Die Quintessenz?
Wie kann man die Subjektivität des historischen Erzählens zusammenbringen mit der Kritik der Quellen und Traditionen? Das ist gar nicht möglich? Oder doch? Die große Herausforderung ist halt, sich in die Zeit zu versenken, die man beschreibt, ohne deshalb an quellenkritischer Distanz zu verlieren. Große Historiker – von Mommsen bis Nipperdey – haben das gekonnt. Ich versuche es ebenfalls.

 Geschichtsvermittlung betreiben Sie auch auf Exkursionen, etwa nach Verdun. Warum ist es Ihnen wichtig, direkt am Ort der Schlacht Anschauung zu gewinnen?
In Verdun ist der Krieg noch in die Landschaft eingegraben. Meine Studis wurden ganz still, wenn man mit dem Bus durch das dünenartige Gelände fuhr und ich ihnen erklärte, dass das keine natürlichen Dünen sind, sondern der Aushub von Granattreffern im Boden Und dass dazwischen Hunderttausende von Menschen versuchten zu überleben. Oder die aufgeschichteten Knochen von 130.000 unbekannten Gefallenen im Beinhaus vom Douaumont. Da brauche ich nichts mehr zu erklären, jeder erkennt, was Krieg bedeutet und was sich hier vor Verdun abgespielt hat. Und dafür braucht man auch keine Kriegsinszenierung mit Geballer und Blitzen.

Sie setzen sich schon sehr lange für den internationalen Dialog von Historikern ein und fördern den Austausch auf verdienstvolle Weise. Ihre Motivation?
International vergleichende Geschichte muss sein, sonst versteht man gar nichts. Es gilt, die „Selbstverständlichkeiten“ der nationalen Geschichtstradition mit den Selbstverständlichkeiten der anderen Nationen zu konfrontieren. Das war auch meine Ursprungsidee für das europäische Museum in Brüssel. Die Verantwortlichen fanden das aber zu komplex und eventuell dissoziierend. Aber es geht doch gar nicht anders, wenn man die Nachbarn verstehen will.

„Weimar ist ein Kind des Krieges.“

Wie definieren Sie Ihre Hauptaufgabe als Historiker? Wie Ihr Selbstverständnis?
Als Professor habe ich mich als Trainer gefühlt und hoffentlich auch so gehandelt. Leute auf die Spur bringen, damit sie Dinge, die ich nicht beherrsche, genauer ansehen. Als Historiker geht es mir um ein größtmögliches Eintauchen in die beschriebene Zeit.

Sie waren maßgeblich beteiligt am Aufbau des „Centre de recherche – Historial de la Grande Guerre“ in der französischen Stadt Péronne. Was zeichnet die gemeinsame Arbeit dort aus?
Unser internationales Forschungszentrum – dem Weltkriegsmuseum von Péronne angeschlossen – ist eine Brutstätte von Ideen mit international vergleichender Absicht. Wir praktizieren das, was man Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs nennt, seit nahezu dreißig Jahren. Ich habe mich z.B. einmal darauf spezialisiert, den anderen begreiflich zu machen, dass die Deutschen wirklich glaubten, zur Vaterlandsverteidigung an der Somme zu stehen. Das ist ja auch noch Thema in meinem neuen Buch. Auch hier wie immer: Durchbrechen der Selbstverständlichkeiten der nationalen Denkmuster und Traditionen. Hin zu Vergleich und Relativierung des eigenen Standpunkts, das ist unser großes Ziel.

In Ihrer Habilitation haben Sie sich mit Jeanne d’Arc – also mit Johanna von Orléans – befasst. Was macht die Auseinandersetzung mit der französischen Nationalheiligen und generell mit großen Mythen einer Nation so aufschlussreich?
Meine Ausgangsfrage war, warum sich die Franzosen im 19. Jahrhundert so um die Geschichte und Bedeutung der Pucelle gestritten haben. Es gab eine „rechte“ Jeanne und eine „linke“. Und ich habe mich getraut, das in die Tradition der Jeanne-Erzählung seit dem 15. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Auch hier das Bemühen, meinen eigenen Standpunkt – nämlich links – zu relativieren – beziehungsweise die Bemühungen und Ansichten der Konservativen genauso ernst zu nehmen. Die Arbeit ist fast 30 Jahre alt und jetzt gerade in Frankreich unverändert neu erschienen, mit einem Vorwort von Pierre Nora. Darauf bin ich stolz!

Würden Sie zustimmen, dass Mythen und das kollektive Gedächtnis eine Hauptrolle in Ihrem neuen Buch „Die unbewältigte Niederlage“ spielen?
Das ist exakt das, was ich sagen möchte. Hoffentlich habe ich es klar genug ausgedrückt.

„Jeder erkennt, was Krieg bedeutet.“

In Ihrem neuen Buch nehmen Sie gleich zwei Jahrhundert-Phänomene in den Blick: das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und den Anfang der Weimarer Republik. Was war Ihr gedanklicher Ausgangspunkt?
Mein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die traditionelle Weimar –Geschichtsschreibung nahezu gänzlich auf den Ersten Weltkrieg und das Kriegsende als Gründungsbelastungen der Republik verzichtet. Das spreche ich im Vorwort meines Buches an. Zeigen will ich, dass Weimar ein Kind des Krieges war und blieb.

Welche Geburtsfehler und Kinderkrankheiten diagnostizieren Sie bei genauer Untersuchung der Weimarer Republik?
Geburtsfehler war sicherlich, dass die Niederlage Deutschlands vielfach nicht akzeptiert wurde und viel zu viel geredet wurde von „im Felde unbesiegt“. Zugegeben, anderenfalls hätten die zurückkehrenden Soldaten noch ganz anders marodiert, als sie es ohnehin taten. Dann die Naivität gegenüber dem Kriegsende und die so weithin geteilte Auffassung, eine neue und gut demokratische Republik werde bessere Friedensbedingungen bekommen.

Was erschwerte die Situation?
Man hatte kein Bewusstsein, was in Frankreich alles kaputt gehauen worden war. Und zumindest Kinderkrankheit, wohl aber mehr, ist der Mangel an Bereitschaft, sich um das symbolische Kapital der Ehre der heimkehrenden Soldaten zu kümmern. Das ist ja ein wichtiger Teil meines Buches. Keine Feiern für den „unbekannten Soldaten“, kein gemeinsames Gedenken. „Stellungskrieg“ der Denkmalskultur, Ordensverbot in der Verfassung. Ja, haben die geträumt?

Welches Erkenntnisinteresse und welche Fragen haben Sie bei den Forschungen zu Ihrem Buch geleitet?
Eben genauer herauszufinden, was es mit dem Grundmythos vom „Dolchstoß“ auf sich hatte. Und wieso der Antisemitismus so unsäglich explodiert ist. Überhaupt die ungeheure neue Brutalität – wie der politische Gegner zum Todfeind wurde. Wie konnte es dazu kommen und was waren die Konsequenzen dieser „Brutalisierung“ der Weimarer Gesellschaft?

„Forschung auf vermintem Terrain …“

Im Vorwort sprechen Sie von „vermintem Terrain“. Weshalb?
Lang haben die Historiker versucht zu erklären, dass Weimars Hauptbelastung der Versailler Vertrag gewesen ist, dass also in gewisser Weise die Alliierten Schuld sind an Weimars Katastrophe und Hitlers Aufstieg. Die Generation der Wolfgang Mommsen und Hans Ulrich Wehler wollte das nicht mehr hören. Und sie hatten ja auch recht, mit dieser Apologie aufräumen zu wollen. Aber unter der Hand wurde bei ihnen allen Versailles zu einem guten Vertrag. Wie Heinrich August Winkler gesagt hat: Wenn die Deutschen nicht so verrückt gewesen wären, hätten sie verstehen müssen, dass Versailles zukunftsfähig war. Tja, sie waren eben so verrückt, das nicht zu verstehen – verrückt geworden durch den Krieg. Genau das will ich beschreiben. Aber die Historiker dieser Generation und ihre Schüler halten dieses Terrain noch ziemlich fest besetzt. Und wenn man sagt, dass Versailles kein Vertrag, sondern eine Erpressung war, gilt man plötzlich als reaktionärer Nationalist und wird so taxiert. Das meine ich mit vermintem Terrain.

Für Aufsehen haben Sie in letzter Zeit weit über Historikerkreise hinaus gesorgt: durch Ihre Beurteilung der Schuldfrage am Ersten Weltkrieg sowie die Zuschreibung der Hauptverantwortung dafür. Ihr Fazit?
Ja, ich war ziemlich der Einzige, der Clark vehement widersprochen hat, als er versuchte zu zeigen, dass in Wirklichkeit die Franzosen und Russen doch viel schuldiger waren. Alle haben sich gefreut und er hat 350.000 verkauft. Es war nicht leicht, dagegen anzusprechen, ich hab es versucht, weil ich halt der Überzeugung bin und ziemlich gute Quellen dafür habe, dass die Deutschen das Pulverfass  in Brand gesetzt haben. Aber auch nur, weil sie nicht bedachten, wie der Krieg sich entwickeln könnte. Man glaubte wirklich, in drei Monaten mit den Franzosen und  dann auch mit den Russen rasch fertig zu werden.

Stichwort „Dolchstoßlegende“: Was genau hat es damit auf sich? Wie sind Sie zu Ihrer neuen Beurteilung gelangt? Und was veranlasst Sie, der Dolchstoßlegende einen wahren Kern zuzuschreiben?
Ich habe schon in meinem Dolchstoß-Artikel in den „Deutschen Erinnerungsorten“ gemeint, dass so viel Rauch nicht ohne ein zumindest kleines Feuer entstanden sein kann. Und nehme die revolutionären und Aufstandsaktivitäten von „Spartakus“ und anderen insoweit ernst, als sie der Rechten ein prima Argument lieferten. Das muss man sehen, um die Zeitgenossen zu verstehen. Es hilft zum Verstehen überhaupt nichts, wenn man – wie die meisten Historiker – sagt, dass doch Spartakus nur ganz klein gewesen ist und keine große Bedeutung erlangt hat. Genau so die Schuldeingeständnisse von Eisner, Mühlon, Lichnowsky u.a., um die Alliierten davon zu überzeugen, dass Deutschland sich gebessert habe. Tja, die Antwort darauf war eben Versailles. Wer will denn der Rechten verdenken, wenn sie sagt, dass ohne die Revolution sicherlich bessere Friedensbedingungen hätten erzielt werden können. Es ist übrigens äußerst schwierig, so zu argumentieren, ohne dass alle guten Demokraten und alte Freunde sagen, dass man wohl altersbedingt reaktionär geworden ist. Manchmal ist Geschichtsschreibung wirklich ein gefährlicher Beruf.

Sie beklagen ein wissenschaftliches Defizit, was das kollektive Trauma betrifft. Wie würden Sie es deuten und was lässt es Ihnen so wichtig erscheinen, die Forschungslücke zu schließen?
Ich bin da kein Fachmann, aber ich weiß, dass die Traumaforschung sich weitestgehend auf individuelle Traumata bezieht. Und wenn Hunderttausende von Individuen dieselben traumatischen Erfahrungen haben, was wird dann? Das ist meine einfache Ausgangsfrage, mit ein paar Versuchen, Material beizusteuern, damit wir in dieser Frage endlich weiterkommen.

Zu den großen Verdiensten des Schriftstellers Walter Kempowski gehört das „Echolot“-Projekt, eine Collage, die eine Vielfalt von Sichtweisen und Erfahrungen rund um den Zweiten Weltkrieg vereint. Inwiefern versuchen Sie, einen solchen Ansatz in Ihre Geschichtsforschung und -schreibung zu integrieren?
Exakt das haben Gerhard Hirschfeld, Irina Renz und ich in unserem Buch „1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution“ versucht. Ich würde mein Verfahren nicht mit dem von Kempowski vergleichen wollen. Er hat viel mehr Gestaltungskraft und auch viel mehr Zettel als ich. Aber grundsätzlich geht es schon darum, möglichst viele Stimmen aus verschiedenen Lagern gleichwertig zu behandeln.