Mit großem Bedauern haben wir heute von Inge Feltrinellis Tod erfahren. In bester Erinnerung ist uns bis heute das Exklusiv-Interview, das wir mit ihr im Sommer 2007 führen durften. Für alle Interessierten präsentieren wir unser damaliges Gespräch hier zum Nachlesen.

Auch im Urlaub können Sie von Büchern nicht genug kriegen? Und Sie zählen zu den Glück­lichen, die eine Reise nach Italien vor sich haben? Dann empfehlen wir ihnen, unbedingt ausführlich in einer der 95 Buch­hand­lungen von Feltrinelli vorbei­zuschauen. Das Unter­nehmen, zu dem auch ein renom­mierter Verlag gehört, ist familien­geführt wie Hugendubel. Eine weitere Gemeinsam­keit ist die inspirierende Atmosphäre. Ihre Philosophie schildert uns Inge Feltrinelli, seit nahezu 50 Jahren erfolgreich in der Buchbranche.

2007 ist für Feltrinelli ein Jahr wichtiger Jubiläen. Vor 50 Jahren fand das erste Großereignis in der Erfolgsgeschichte des Verlagshauses statt: die Sicherung der Weltrechte an Boris Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“. Wie erklären Sie es sich, dass Ihrem Mann Giangiacomo Feltrinelli reihenweise solche verlegerischen Coups gelangen?
Giangiacomo hatte einfach die Eigenschaften, die ein guter Verleger braucht: eine echte Passion für sein Metier, Neugier, Fleiß. Er war überzeugt von seiner Sache, und stur, wenn es darauf ankam wie im Fall Pasternak. Damals suchte uns sogar der sowjetische  Kultusminister auf und versuchte, Feltrinelli von der Veröffentlichung von „Doktor Schiwago“ abzuhalten, die in der Sowjetunion  unterbunden wurde, weil das Buch dem politischen System gefährlich wurde. Giangiacomo ließ sich aber überhaupt nicht beeindrucken,  sondern gab zu bedenken, dass für ihn die sowjetischen Verordnungen keine Gültigkeit hatten. Seine Beharrlichkeit erwies sich als richtig: Ein Jahr später, 1958, bekam Pasternak den Literatur-Nobelpreis.

Welche Rolle spielt Glück für verlegerischen Erfolg?
Eine große Rolle. Ohne Glück hätte Feltrinelli damals kaum binnen eines Jahres zwei Sensationserfolge wie Pasternaks „Doktor Schiwago“ und Lampedusas „Leopard“ verbuchen können.

Was trieb Giangiacomo Feltrinelli damals an?
Giangiacomo hatte sich einer großen Mission verschrieben. Er wollte im nachfaschistischen Italien durch neue, moderne Literatur die geistigen Grenzen öffnen. Deshalb engagierte er eigene Literatur-Scouts in den USA und in Russland. 

„Mann muss schneller sein als Modewellen“

Heuer darf man Ihnen auch zum 50-jährigen Bestehen Ihres Buchhandelsunternehmens gratulieren. Ihre Geschäfte wurden immer mehr und immer moderner. Welche Idee inspiriert diese Entwicklung?
Pioniergeist hat bei Feltrinelli schon immer einen hohen Stellenwert. Mein Mann führte beispielweise als Erster in Italien die Selbstbedienung im Buchhandel ein und importierte eigens aus Deutschland spezielle Regale, die eine frontale Präsentation der Bücher erlauben, bei der man die Buchcover sieht. Dadurch können sich die Kunden ganz leicht selbstständig orientieren.

Welche Besonderheiten bietet Feltrinelli buchbegeisterten Menschen denn genau?
Zum Erlebniswert trägt schon die hervorragende Lage unserer Buchhandlungen in Städten mit Traditionsarchitektur bei. Ein Prinzip aus der Gründerzeit unseres Unternehmens, an das wir uns aus gutem Grund immer noch halten, sieht vor, dass sich Feltrinelli immer in der besten Straße im historischen Viertel findet, z.B. in Bologna, Ferrara, Florenz, Ravenna, Pisa und Siena. Außerdem ist die ganze Vielfalt der Buchproduktion Italiens in unserem Programmangebot präsent.

Die neueste Feltrinelli-Buchhandlung wurde in diesem Frühjahr in Mestre bei Venedig eröffnet. Was wird kulturinteressierten Menschen hier Besonderes geboten?
Das ist unsere erste Buchhandlung mit richtigem Bistro mit beheizter Terrasse. Es hat eine wunderbare Lage in der obersten Etage. Von dort kann man bei gutem Wetter sogar den Campanile auf dem Markusplatz in Venedig sehen. Das Schönste aber ist, dass man inmitten der Bücher sitzt und sich fühlt wie in einer Bibliothek.

Davon hätten Sie wahrscheinlich nicht einmal zu träumen gewagt, als Sie 1972, nach dem Tod ihres Mannes, vor der Notwendigkeit eines Neuanfangs standen. Wie ist es Ihnen gelungen, das Unternehmen wieder auf Erfolgskurs zu steuern?
Ich habe das nicht alleine geschafft, sondern mir stand ein sehr gutes Team von Mitarbeitern mit großer Leidenschaft zur Seite. Ihnen ist viel zu verdanken. Ich musste ja erst in meine Rolle als Präsidentin des Unternehmens hineinwachsen und mir langsam die nötigen Qualifikationen erarbeiten. Kurskorrekturen waren nötig, denn die Gesellschaft hatte sich verändert – und damit auch die Interessen der Leser. Entsprechend erweiterten wir unser internationales Angebot und erschlossen die wichtigsten literarischen Strömungen von Spanien bis Südamerika.

Welche persönlichen Stärken erwiesen sich angesichts solcher Herausforderungen als besonders hilfreich?
Ich glaube, ich bin ein ganz guter Katalysator. Dadurch gelingt es mir, die Mitarbeiter zu stimulieren und ein konstruktives Klima zu schaffen. Ein Verlag ist von Natur aus ein etwas nervöser, manchmal sogar neurotischer Apparat. Ich glaube, zu meinen wichtigsten Stärken gehören – neben der ansteckenden Begeisterungsfähigkeit für neue Ideen – mein Kommunikationstalent und meine Neigung, Kontakte zu knüpfen und zu pflegen.

„Neue Pasternaks und Lampedusas wären schön.“

Wie würden Sie Ihre Philosophie als Verlegerin beschreiben?
Ich habe die Philosophie Giangiacomos übernommen: Es reicht nicht, auf der Modewelle zu schwimmen, sondern man muss schneller sein. Ebenso wichtig ist es, nicht nur für die Saison zu produzieren. Stattdessen geht es darum, an Büchern zu arbeiten, die sich auch in 20 Jahren noch verkaufen. Entsprechend muss man versuchen, Autoren zu pflegen – auch wenn einer ihrer Titel kein Verkaufsschlager wird. Und man muss lernen, mit Fehlern zu leben.

Was waren die bisher größten verlegerischen Erfolge von Feltrinelli?
Da wäre eine lange Liste fällig. Darauf stehen Klassiker wie Isabel Allende, Gabriel Garcia Marquéz und Amos Oz, aber auch Vertreter einer neuen Autorengeneration wie Federico Moccia. Allein von seinem Roman „Drei Meter unter dem Himmel“, einer modernen Version von „Romeo und Julia“, haben wir 1,5 Millionen Exemplare verkauft. Bei den jungen Lesern unter 20 hat er Kultstatus.

Wenn Sie die rund 50 Jahre Revue passieren lassen, die Ihre Lebensgeschichte und die Feltrinelli-Firmengeschichte nun schon untrennbar miteinander verbunden sind: Was war für Sie das aufregendste Ereignis?
Schwer zu entscheiden (überlegt kurz). Es war mir eine große Freude, in Stockholm dabei zu sein, als Imre Kertész den Nobelpreis bekam. Auszeichnungen für unsere Autoren sind für mich Glanzpunkte des Verlegerdaseins.

Wer verdient den Literatur-Nobelpreis als nächstes?
Amos Oz und Antonio Tabucchi sind meine persönlichen Favoriten.

Sie sind als leidenschaftliche Leserin bekannt. Wann findet ein viel beschäftigter Mensch wie Sie überhaupt Zeit zum Lesen?
Ich versuche, mir das Wochenende von Terminen freizuhalten. Wenn mir das gelingt, fahre ich in unser Haus im Piemont – mit einer großen Reisetasche, die bis oben mit Lektüre gefüllt ist. In zweieinhalb Tagen schaffe ich fünf oder sechs Bücher und einige Literaturzeitschriften, so dass ich für die neue Woche jede Menge Motivation und Anregungen bekomme.

Sie leiten Feltrinelli in bewährter Aufgabenteilung mit Ihrem Sohn Carlo. Welche Vorteile hat so ein familiengeführtes Unternehmen?
Ein ganz entscheidender Pluspunkt ist, dass sich niemand einmischt. Wenn mein Sohn beispielsweise etwas Neues auf den Markt bringen möchte, hält ihm keiner vor, das sei zu riskant. Allerdings zahlt man auch den Preis für solche Abenteuer selbst.

Was ist Ihr größter Wunsch als Unternehmerin in der Buchbranche?
Dürfen es auch mehrere große Wünsche sein? Über Nobelpreis-Auszeichnungen für Autoren unseres Verlags würde ich mich sehr, sehr freuen. Und dass wir auch in Zukunft interessante neue Autoren entdecken. Neue Pasternaks und neue Lampedusas wären schön! Ziemlich unbescheiden, oder!?

Feltrinelli Verlag & Buchhandlungen

1955 gründete Giangiacomo Feltrinelli (1926-1972) in Mailand sein Verlagshaus, heute das drittgrößte in ganz Italien. 1957 wurde in Pisa die erste Feltrinelli-Buchhandlung eröffnet. Alle der mittlerweile 95 Geschäfte der Kette sind genau auf das jeweilige Zielpublikum zugeschnitten. Die Buchhandlungsmodelle reichen von Media-Stores mit Riesenangebot an Büchern, CDs und DVDs auf Präsentationsflächen über 1.000 Quadratmeter bis zu „Feltrinelli Village“ in Shoppingcentern und Flughäfen sowie „Feltrinelli Express“ in Bahnhöfen. Seit fast 40 Jahren prägt Inge Feltrinelli (1930 geb. in Göttingen, Niedersachsen) die Erfolgsgeschichte des Unternehmens. Ehe sie ihre Liebe zu Giangiacomo Feltrinelli und ihre Begeisterung für Bücher entdeckte, war sie als Fotoreporterin tätig und portraitierte unter anderem literarische Größen wie Hemingway.