Großer Bahnhof für Maxim Leo: Wer in der EU Rang und Namen hatte, war anwesend, als der „Europäische Buchpreis“ 2011 an den Berliner Bestsellerautor, Reporter und Kolumnisten verliehen wurde. Der damalige Jury-Präsident, Booker-Preisträger Julian Barnes, würdigte ihn als klugen und unterhaltsamen Erzähler deutscher Geschichte. Im Mittelpunkt: die eigene dramatische Familiengeschichte zu DDR-Zeiten. Nun bestätigt Leo sein Renommee als literarischer Familienforscher. Für sein druckfrisches Buch hat er sich auf schicksalhafte Reisen begeben – auf den Spuren der Leos, die auf der Flucht vor den Nazis in alle Winde zerstreut wurden. Ein Epos voller bewegender Lebensgeschichten und Begegnungen!

Die meisten Leser kennen und schätzen Sie wahrscheinlich als Alltagssatiriker und Kolumnenschreiber. Aber Sie können auch anders, nämlich beispielsweise literarische Langstrecke mit poetischen Bildern. In welchem Genre beziehungsweise welcher Tonlage fühlen Sie sich am meisten in Ihrem Element?
Ich bin eigentlich froh, beides machen zu können. Die Langstrecke ist manchmal ganz schön lang und auch einsam und sehr fordernd. Da ist es schön, zwischendurch mal etwas Schnelles, Witziges zu schreiben.

Eines Ihrer großen Themen als Autor ist Familie. Ihre persönliche Definition? Und die Bedeutung von Familie für Sie?
Es ist das Zuhause. Es ist der Rahmen, der mich formt, prägt und hält. Ohne meine Familie bin ich nichts.

Schon für Ihr preisgekröntes Buch „Haltet euer Herz bereit“ wurden Sie zum „Familienforscher“. Ihre Erfahrung?
Schreiben hat ja immer etwas Therapeutisches. Familienbücher zu schreiben, verschärft diesen Prozess gewaltig.

Und wie erleben Sie den Balanceakt zwischen persönlicher Verbundenheit als Familienmitglied einerseits und professioneller Distanz andererseits?
Das lässt sich gar nicht so auseinanderhalten. Ich nutze ja meine persönliche Verbundenheit, um mein professionelles Werk zu vollbringen. Würde ich mich da herausziehen, verlöre mein Buch an Echtheit und Gefühl. Aber es hilft schon, diese Rolle als Familienforscher zu haben. Einmal habe ich meine Mutter interviewt, irgendwann saß sie weinend vor mir. Der Sohn hätte das Gespräch vielleicht an der Stelle abgebrochen. Der Familienforscher hatte ein Taschentuch dabei – und die nächste Frage.

In „Haltet euer Herz bereit“ schreiben Sie über die drei Generationen Leos einst in Ihrem Elternhaus: „Wir waren wie eine kleine DDR“, wegen der Fronten mitten durch die Familie und der ideologischen Reibungsfläche – Zündfunken zum Schreiben. Wie war denn die Ausgangssituation bei Ihrem neuen Familienbuch „Wo wir zu Hause sind“? Was war der Auslöser?
Ein Familienfest. Die Hochzeit meines Bruders, bei der Verwandte aus der ganzen Welt eingeladen waren. Und auf einmal war das ganze Haus voller Leos – und ich habe mich gefragt, warum wir nicht immer so eine große Familie sein können. Warum die anderen gehen mussten. Und gleichzeitig spürte ich die Sehnsucht meiner Cousins aus Israel und England, die neidisch auf mich waren, weil ich in Berlin aufwachsen durfte, der Heimat, aus der sie vertrieben wurden.

Welche Fragen haben Sie bei diesem Recherche- und Schreibprojekt am meisten interessiert oder umgetrieben?
Im Grunde ist es die Frage, die dem Buch den Titel gegeben hat: Wo sind wir zu Hause? Und die Antwort, die jeder meiner Protagonisten mit seinem Lebensweg gibt, zeigt, wie unterschiedlich die Menschen damit umgehen. Ich glaube, die Frage des Zuhause ist heute wichtiger denn je. Alles verschwimmt, die Welt verändert sich in rasender Geschwindigkeit – und fast jeder sehnt sich nach einem Ort, der ihm gehört.

Sie haben nicht einfach eine Chronik geschrieben. Mit welchem Plan haben Sie sich auf den Weg gemacht?
Es ist ein Buch, das auf wahren Geschichten beruht, vor allem aber auf der Erinnerung meiner Verwandten. Wer weiß, wie unexakt die menschliche Erinnerung funktioniert, der weiß auch, dass ein solches Buch im Grunde ein Roman ist. Deshalb habe ich versucht, es auch wie einen Roman zu schreiben, ohne die Erinnerung der anderen zu stark zu verfremden.

Beim Recherchieren sind Sie weit herumgekommen: vom Berliner Universitätsarchiv bis zu Verwandten in aller Welt. Welcher Kompass hat sie da geleitet?
Ich habe mich für meine Hauptheldinnen entschieden. Daraus folgte der ganze Rest.

Diese Heldinnen sind Ihre Großtanten Irmgard, Hilde und Ilse. Was war oder ist Ihnen an diesen Persönlichkeiten und Lebensgeschichten wichtig? Wofür stehen sie aus Ihrer Sicht?
Diese drei Frauen haben in Berlin gelebt. Irmgard war Jura-Studentin, Hilde spielte als Schauspielerin in kleinen Kabarett-Theatern an der Friedrichstraße und Ilse war Gymnasiastin. Alle drei wurden nach der Machtübernahme der Nazis aus ihren Leben gerissen, weil sie jüdisch waren und die falschen Männer geheiratet haben. Und alle drei haben Unglaubliches erlebt, haben in ihrem Leben Dinge erreicht, die sie womöglich nie erreicht hätten, wenn das Schicksal sie nicht so früh auf die Probe gestellt hätte.

„Einen Knacks haben alle!“

So unterschiedlich die einzelnen Lebensgeschichten auch verlaufen – eine Gemeinsamkeit scheint bei den meisten prägend zu sein: etwas, das Roger Willemsen einmal sehr treffend als „Knacks“ bezeichnet hat, etwas schwer Heilbares, nämlich der große Bruch in einer Biografie, der alles verändert, etwa bei Hildes erstem Ehemann, dem Psychologen Dr. Fritz Fränkel, und bei Ilses Vater, dem Rechtsanwalt Dr. Walter Leo. Haben Sie das beim Recherchieren und Schreiben ähnlich wahrgenommen?
Ja, einen Knacks haben sie sicher alle irgendwie abbekommen. Aber mein Eindruck ist, dass die Frauen mit den Schwierigkeiten des Lebens viel besser und mutiger umgegangen sind als ihre Männer.

Und noch etwas scheint wie ein Refrain immer wieder anzuklingen: die Wirkung der großen Geschichte in einem kleinen Leben. Zu welcher Bilanz sind Sie gelangt?
Ich würde es eher umgekehrt formulieren: Es ist die Summe der kleinen Geschichten und Leben, die letztlich die große Geschichte ergibt. Deshalb ist es unabdingbar, die kleinen Geschichten zu kennen, wenn man die große Geschichte verstehen will.

Nicht zuletzt dürften Sie auch Ihren Großvater Gerhard – der einst wie ein lebendes Denkmal gewirkt hatte – neu kennengelernt haben. Wie hat sich Ihr Bild gewandelt?
Ich habe einen sensiblen, verletzlichen Menschen entdeckt, wo ich davor nur ein schroffes Denkmal sah. Vor allem aber habe ich verstanden, wie ähnlich ich ihm bin. Das ist übrigens auch so eine Sache, die man beim Schreiben von Familienbüchern lernt: Dass man seine eigene Individualität nicht überschätzen sollte, weil man nur ein kleines Glied in einer langen Kette ist.

Ihr Buch beschränkt sich nicht auf das Familienporträt, sondern entwirft ein Panorama aus Zeitgeschichte und Kultur. Worauf kam es Ihnen beim Schreiben an?
Ich will verstehen, was meine Helden antreibt. Warum sie dieses tun und jenes nicht. Oft sind diese Motivationen ohne den Kontext der Zeit nicht zu verstehen. Ansonsten versuche ich eigentlich immer, so nahe wie möglich an meinen Figuren zu bleiben.

In Ihren Gesprächen mit Verwandten aus Israel, England und Frankreich kam ein Thema immer wieder zur Sprache: Berlin als Sehnsuchtsort. Können Sie verstehen, was die Anziehungskraft ausmacht? Die Hoffnungen?
Es ist die verlorene Heimat. Mein Cousin Andrew hat gesagt: „Wir hätten doch alle Berliner sein können.“ Und da hat er verdammt Recht. Ich glaube, die Sehnsucht nach Berlin ist durch die Generationen gereist, wurde immer weitergegeben. Auch das Gefühl der Ungerechtigkeit, des Ausgestoßenseins. Eine Möglichkeit, diese Gefühle zu zähmen, ist die Rückkehr in die verlorene Heimat.

Wie hat die Arbeit an Ihrem Buch Ihr eigenes Bild von Berlin beeinflusst?
Ich war immer wieder überrascht, wenn ich begriff, dass die Orte, an denen meine Heldinnen gelebt haben, ja immer noch da sind. Ich stand im Foyer der Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, die heute Humboldt-Universität heißt, und ich habe mir vorgestellt, wie Irmgard dort stand und Hans, ihrer ersten Liebe, begegnete. Die Geschichte ist längst vorübergeweht – aber die Orte sind alle noch da. Insofern gehe ich heute mit anderen Augen durch Berlin.

Und wie haben sich die intensiven Gespräche über den Verlust der Kindheitsheimat, über Verfolgung, Flucht und Neuanfang auf Ihre eigenen Vorstellungen oder Ihr eigenes Empfinden von einem Zuhause oder Heimat ausgewirkt?
Ich glaube, mein Zuhause war vorher schon fest definiert. Ich bin jetzt vielleicht nur noch etwas dankbarer dafür, eines zu haben.

„Es gibt ein Familien-gedächtnis.“

Sie stellen sich die Frage, ob es eine Art Familiengedächtnis gibt. Welche Eindrücke haben Sie gewonnen?
Ja, es gibt dieses Familiengedächtnis, denke ich. Es ist ein seltsames Gedächtnis, eine Art Filter, der den Teil des Lebens heraussiebt, den man als eigene Geschichte verstanden wissen will. Das geschieht nicht bewusst, aber jeder hat, denke ich, so ein kleines Sieb, mit dem man erinnern und verdrängen kann.

Was hat Ihr Buch in der Familie und weitläufigen Verwandtschaft bewirkt? Wie war das Echo?
Ich habe das große Glück, dass meine Familie – bisher zumindest – sehr großzügig und tolerant mit mir umgegangen ist. Sie haben mir vertraut, haben mich in ihre Geheimnisse eingeweiht – und haben mir dann die Freiheit gelassen, mit ihren Geschichten umzugehen. Ich habe mich bemüht, ihnen allen gerecht zu werden, auch wenn das natürlich nicht immer gelingt. Und es stimmt, unsere Familie ist zusammengerückt. Das ist schön!