Welch ein Glück, dass Cay Rademacher eine Provenzalin geheiratet hat! Durch sie hat er seine Liebe zu diesem besonderen Landstrich entdeckt und ist dort sesshaft geworden. Der deutsche Journalist und Schriftsteller ist u.a. bekannt durch seine Provence-Krimireihe mit Capitaine Roger Blanc und durch den deutschen Kommissar Stave, der in der Hamburger Nachkriegszeit ermittelt. In seinem jüngsten Roman spürt er dem Bösen unter der provenzalischen Sonne nach. Mehr Wissenswertes jenseits von Mord und Totschlag finden Sie unter: provencebriefe.blogspot.com von Cay Rademacher.

Als Journalist sind Sie weit auf der Welt herumgekommen und kennen entsprechend viele interessante Städte und Landschaften. Wie erklärt es sich, dass Sie sich ausgerechnet in die Provence verliebten?
Ich habe mich nicht in die Provence verliebt, sondern in eine Provenzalin – meine Frau stammt aus Südfrankreich. Über sie habe ich dann auch diese tolle Landschaft kennengelernt.

Leben wie Gott in Frankreich – was macht Ihr Provence-Lebensgefühl aus?
Vielleicht erwarten Sie jetzt Sonne, Rosé, Savoir-vivre. Tatsächlich aber ist die Provence eine Landschaft der Gegensätze: Trockene Hitze im Sommer und mörderisch kalter Mistral im Winter, mittelalterliche Dörfer und Marseille, Schäfer und Europas größte Hubschrauberfirma … Die Provence ist das Land der Kontraste – und das ist jeden Tag überraschend großartig.

Seit 2013 leben Sie in der Nähe von Salon-de-Provence – in einer alten Ölmühle. In welchem Zustand war sie bei Ihrem Einzug?
Sagen wir so: Die Ölmühle stammt aus dem 18. Jahrhundert und sah bei unserer Ankunft noch viel älter aus. Die drei wichtigsten Eigenschaften für die Renovierung eines derartigen Gemäuers sind: Gelassenheit. Gelassenheit. Und Gelassenheit. Es funktioniert eh nichts beim ersten Mal, nichts und niemand ist pünktlich, und die Arbeit hört niemals auf.

Ihr größtes Erfolgserlebnis beim Renovieren?
Mein größtes Erfolgserlebnis: Sachen zu bauen, bei denen sich zukünftige Archäologen mal fragen werden, was zum Teufel sich der Typ dabei gedacht hat. Im übrigen gilt: Der Weg ist das Ziel.

„Die Provence ist das Land der Kontraste“

Die Provence hat die Literatur-Nobelpreisträger Frédéric Mistral und Albert Camus sowie etliche weitere namhafte Schriftsteller hervorgebracht. Ihre persönlichen Favoriten? Und was beeindruckt Sie jeweils?
Camus – für alles. Giono – für seine Landschaftsbeschreibungen. Und drei provenzalische Krimi-Kollegen, die ich mag: Gilles Del Pappas, Xavier-Marie Bonnot und Jean-Claude Izzo.

Frédéric Mistral hat die Provence „Imperium der Sonne“ genannt. Wie würde Ihre poetische Kompaktdefinition lauten?
Hier trinke ich mir die Augen satt an Farben.

Was schätzen Sie als Autor an Ihrer Wahlheimat?
Meer und Berge nebeneinander. Im Frühjahr: der Pinienduft nach einem Regenschauer im Wald. Im Sommer: der Lärm der Zikaden. Die Hitze der Nacht. Im Herbst: das große Blau des Mittelmeers. Im Winter: unverhoffte Sonne, mittags, bei Windstille. Ganz leicht bitteres Olivenöl. Kühler Rosé. Alter Banon. Warme Baguettes in der Küche und das ganze Haus duftet.

Wie bei der Zubereitung von Pot-au-feu und Bouillabaisse verhält es sich auch beim Schreiben: Jeder Autor entwickelt und verfeinert sein eigenes Rezept. Wie würden Sie Ihr Krimikonzept beschreiben?
Der Urknall bei der Entwicklung des Plots ist immer ein echtes Verbrechen. Ich suche mir einen aktuellen Fall und baue darum eine erfundene Geschichte. Genauso verhält es sich mit den Personen. Die sind erfunden, aber jede und jeder hat irgendwo in dieser Welt ein sehr reales Vorbild …

In Ihre Kriminalromane um Capitaine Roger Blanc fließt immer auch das gesellschaftliche Klima ein. Wie sondieren Sie, was Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus bewegt?
Na ja, ich lebe ja hier, da muss man gar nicht bewusst horchen. Wenn ich zum Bäcker gehe, die Kinder zur Schule bringe oder einfach mit Freunden quatsche – automatisch saugt man da alles auf. Habe ich mich allerdings, siehe oben, erst einmal für ein echtes Verbrechen entschieden, dann recherchiere ich ganz normal wie der Journalist, der ich eigentlich noch immer bin.

Was sind die markantesten Veränderungen, die Sie feststellen, seit Sie 2013 angekommen sind und Land und Leute immer besser kennenlernen? Was wirkt sich momentan am stärksten aus?
2013 war Frankreich ein tolles Land mit einer mies gelaunten Bevölkerung. Man hatte das Gefühl: hier stockt alles, nichts geht voran. Seit zwei Jahren krempeln nun Parteien (Macrons LREM) und neue Bewegungen (Gelbwesten) das Land ordentlich um. Vielleicht bekommt man das in Deutschland gar nicht so richtig mit, aber hier findet, vom Präsidentenpalast bis zu besetzten Kreisverkehren, gerade eine Revolution statt. Das ist mal schön, mal hässlich, aber immer spannend. Großartige Zeiten für einen Krimiautor jedenfalls.

Werden Ihre Krimis ins Französische übersetzt?
Die Sache ist ganz einfach: die Provence-Krimis werden nicht übersetzt.

„Mal schön, mal hässlich, aber immer spannend“

Welchem Kompass folgen Sie bei der Wahl der Schauplätze?
Meinem Gefühl. Schauplätze werden die Orte, die ich mag. Oder die, an denen ich mir besonders schreckliche Verbrechen vorstellen kann. Oder beides.

Welche Bedeutung hat bei Ihnen das Schreiben für das Heimischwerden? Kann man sagen, dass Sie sich mit jedem Band aus Ihrer Krimireihe Ihre Wahlheimat erschreiben?
Ja, ganz genau so: ich erschreibe mir die Provence.

„Ein letzter Sommer in Méjean“ spielt hauptsächlich in Südfrankreich. Im Mittelpunkt steht eine Abi-Clique von 1984. Kristallisationspunkt und Katastrophenzentrum ist ein Mord, der auch 2014 alles andere als verjährt ist. Ihr Hauptinteresse?
Mein Interesse war: Was hat das Leben aus dir gemacht? Und was hast du aus dem Leben gemacht? Ich wollte Leute zusammenführen, die sich dreißig Jahre lang nicht gesehen haben. Sie stellen sich einem dunklen Geheimnis – und stellen dabei fest, dass sie auch sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen müssen: Was hast du getan? Hast du deine Träume gelebt? Das alles an einem ebenso schönen wie abgeschlossenen Ort … Voilà, schon hat man ein düsteres Kammerspiel.

Abi 1984 – das ist auch Ihre Generation. Wie war der junge Cay Rademacher damals drauf? Hat er auch auf dem Weg in die große Freiheit der Sommerferien singend das Autoradio übertönt?
Jein. Ich bin gerne gereist und wollte unbedingt raus. Aber das ging eher mit dem Zug, als Rucksackreisender. Ich war aber nicht der einzige aus meiner Generation, der auf diese Idee gekommen ist!

Das Verhängnis in „Ein letzter Sommer in Méjean“ beginnt nicht erst mit dem rätselhaften Mord, oder?
Ein Mord ist immer das Ende eines Verhängnisses, nicht sein Anfang.

1984 schreibt eine Ihrer Heldinnen mit dem Mut der Verzweiflung einen Brief. Eine der Schlüsselstellen klingt wie Adornos berühmtes Diktum, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, oder?
Selbstverständlich hat man nicht immer die Wahl: Du wirst krank, du hast einen Unfall, in deinem Land bricht ein Krieg aus … Da hat man bei dem, was man tut, oft keine Wahl mehr. Aber so lange uns derartige Katastrophen nicht übermannen, gilt: Ja, man hat immer die Wahl. Ja, das kann manchmal schwer sein und tut weh. Ja, dafür braucht man vor allem Mut. Die Phantasie, uns die möglichen Alternativen auszudenken, haben wir nämlich meistens. Es fehlt dann aber leider manchmal am Mut, die richtigen Konsequenzen zu ziehen.

„Man hat immer die Wahl“

„Ein letzter Sommer in Méjean“ ist die Premiere von Commissaire Marc-Antoine Renard als Ermittler. Warum ist er genau der Richtige in diesem Fall?
Renard hat den Tod gesehen. Und wenn du den Tod gesehen hast, dann siehst du sehr genau hin.

Mindestens fünf Personen haben ein plausibles Motiv. Wie haben Sie Ihre so verschiedenen Hauptfiguren zusammengewürfelt? Was war das Spannende?
Das klingt bei einer Mordgeschichte zynisch, bitte verzeihen Sie mir: Aber es hat mir wahnsinniges Vergnügen bereitet. Ich habe Menschen, die ich kenne – von früher und heute, aus Deutschland und Frankreich – zu neuen Personen zusammengesetzt und dann einfach losgelegt. Das ist wie eine chemische Reaktion, wenn man was zusammenmischt. Es brodelt und qualmt und irgendwann knallt es. Mordmotive sind im Übrigen gar nicht so schwer zu finden. Wenn man mal darüber nachdenkt, dann haben ziemlich viele Menschen ziemlich viele Gründe, um bestimmte andere Menschen aus dem Weg zu räumen. Eigentlich und zum Glück ein Wunder, dass es dann doch so selten geschieht. Wir sind zivilisierter, als wir uns das manchmal selbst einreden.

Sie tauchen tief ein in die unterschiedlichen Milieus und Lebenswelten der einzelnen Romanfiguren. Besonders intensiv beschäftigt haben Sie sich offenbar mit dem Künstlerkosmos Rüdiger von Schwarzenburgs …
Als Künstler ist Rüdiger von Schwarzenburg ein Experte für Dämonen, für seine eigenen wie für die der anderen –
da hat er ein gutes Auge.

Den Erfolg gepachtet hat scheinbar auch Claudia Bornheim, die es von der Lila-Latzhosen-Rebellin bis in die Landespolitik bringt. Was war für Sie das Interessanteste oder Erstaunlichste am Blick hinter ihre Fassade?
Wir Jugendlichen, die Mitte der Achtziger Jahre erwachsen wurden, waren sehr politisiert: Friedenspolitik, Anti-AKW-Demos und ungefähr eine Million Dinge mehr haben uns bewegt – und darüber hat man auch gut gestritten, denn die Kids waren keineswegs alle derselben Meinung. Interessant ist bei Claudia Bornheim, dass sie diesen Weg auch nach dem Abitur konsequent weitergegangen ist. Sie hat einfach nie aufgehört. Erstaunlich ist, was dabei aus ihr geworden ist.

Neben den Erfolgreichen lassen Sie auch ganz durchschnittliche Existenzen lebendig werden. Was macht diese Leute interessant?
Es gibt Menschen, die führen ein scheinbar gewöhnliches, ja sogar langweiliges Leben. Aber wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass das für manche ein ungeheurer Triumph ist: normal zu leben.

Lassen Sie uns kurz auf Capitaine Roger Blanc zurückkommen. Er hat sich doch offenbar in der Provinz eingelebt, aber anscheinend haben Sie ihm nun nach fünf Fällen ein Sabbatical verordnet? Was wird aus ihm?
Mais non! Blanc ist ein Sturkopf und macht weiter – der nächste Band ist schon fertig und kommt im Herbst (Anmerkung: „Verhängnisvolles Calès“ erscheint im September 2019). Und der übernächste ist in Arbeit …

Alle Fotos: © Joachim Hauser

Eine Reihe Ihrer Krimikollegen hat passend zu den jeweiligen Schauplätzen Kochbücher herausgebracht. Und Sie? Haben Sie auch vor, Ihren Radius kulinarisch zu erweitern?
Ich koche ganz gerne, wenn auch längst nicht in derselben Liga wie meine Frau. Deshalb verspreche ich feierlich: Von mir wird es niemals ein Kochbuch geben! Ein Rezept nur? D’accord, ganz simpel und nur saisonal: Sie gehen im März in die Wälder auf den Hügeln. Dann wächst dort für ein paar Tage – versteckt im Gestrüpp der Garrigues – wilder Spargel aus dem Boden, kaum größer als ein Grashalm. Diesen Spargel schneidet man klein, mischt ihn in ein Rührei, nimmt frische Baguettes und Rosé dazu – voilà, mehr braucht es nicht, um glücklich zu sein.

Commissaire Renard im Profil

Berufsauffassung …
… Er will Dich kennenlernen. Sehr, sehr gründlich kennenlernen.
Status …
… Ein Mann auf der Klippe, die Füße halb in der Luft.
Eigenschaften …
… Gibt nicht auf. Einzelgänger. Hört mehr, als die Leute ihm sagen.
Wichtigste Waffe …
… Er geht einfach nicht fort.

Ermittlungsmethode …
… Er stellt Fragen so, dass du ihn nicht anlügen kannst. Nicht zu unterschätzen, weil er nach jeder Antwort eine neue Frage abfeuert!
Stärken … 
… Der Typ ist wirklich zäh.
Schwächen …
… Sein verdammter Körper.
Aussichten als Serienheld …
… Gering.

Provenzalisch für Anfänger

„Mangetout“ ist keine Einladung zum hemmungslosen „All you can eat“, sondern … eine Schüssel voll köstlich frittierter Fische, die man ganz isst, vom Kopf bis zur Schwanzflosse.
Das perfekte petit-déjeuner (wo und was bitte) … Café au lait, warmes Croissant, ein Café in Aix-en-Provence, mit einer schönen Frau
Sundowner der Saison … Suze mit Eis
Le Midi … Südlich von Lyon fängt das gute Leben an
Côte Bleue … Hier war Gott Bildhauer
Calanques … Du musst aufs Meer, um sie wirklich zu sehen
Pointu und bester Fang … Buntes Boot, aber die meisten Fischerkähne sind heute genau das: Kähne. Egal: Gut ist alles, was die Fischer gerade herausholen, Doraden etwa.
Selbst in See stechen … mit einem kleinen Segelboot. Oder dem Kayak. Motorboote sind unschön, Jetskis ein Verbrechen.

Seeigel … ein alter Freund, der langsam verschwindet. Ich hoffe, er kommt wieder.
Serpentinen und andere Heraus­forderungen für Auto- und Radfahrer: An der Côte Bleue lernt man Autofahren. Und ich glaube, ich habe in und um Méjean noch nie einen Radfahrer gesehen; ändert sich vielleicht jetzt dank E-Bikes …
„Palais de Roure“ in Avignon … Kulturzentrum, aber, tja, kenne ich kaum …
Marseille: Hier spielt auch nach dem Kulturhauptstadt-Jahr 2013 die Musik, weil … es nirgendwo so viel Schönes und Schlechtes auf so engem Raum gibt wie hier. Keine Minute ist in Marseille je langweilig gewesen.
Méjean … Das Paradies. (Und die Hölle, falls man einen Mord auf dem Gewissen hat.)
Ideale Reisezeit … alles außer Juli und August
Die drei wichtigsten Utensilien im Provenceurlaub … Das gilt für jeden Urlaub: Zeit. Neugier. Und falls irgend möglich: mindestens ein paar Brocken Landessprache.