

Auch als eBook auf Hugendubel.de erhältlich.
Die Medizinethikerin Alena Buyx, bis 2024 Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, wurde mehrfach ausgezeichnet für ihre Verdienste um gesundheitliche Aufklärung und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sie ist an der Technischen Universität München Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologie – Themen, die uns alle angehen. Ihr neues Buch ist eine Handreichung für gute, ethisch begründete Entscheidungen.
Man spürt sofort, dass Sie Ihre Berufung gefunden haben. Was ist der Kern Ihrer Arbeit und was begeistert Sie an Medizinethik und ethischer Entscheidungsfindung?
Dass man mit einem eigentlich theoretischen Fach und dem entsprechenden Rüstzeug Menschen in ganz schwierigen Situationen helfen kann. Entscheidungen werden vielleicht nicht einfacher durch medizinethisches Nachdenken – aber sie werden besser.
Warum ist Medizinethik für jede:n von uns elementar wichtig?
Weil die meisten von uns irgendwann in die Situation kommen, Entscheidungen im Kontext von Krankheit und Gesundheit treffen zu müssen. Für uns selbst oder für Menschen, die man liebt. Meistens ist das unproblematisch, aber manchmal kann es auch herausfordernd werden – und weil das dann oft sehr wichtige Entscheidungen sind, sollte man ethische Abwägungen bedacht und informiert vornehmen.
Kann man sagen: Je komplizierter und schwerwiegender eine Entscheidung, desto wichtiger ist Medizinethik?
Ja. Das trifft’s ganz gut. Bei sehr vielen Entscheidungen braucht es keine große medizinethische Analyse. Die ist tatsächlich besonders dann hilfreich, wenn es kompliziert, kontrovers oder konflikthaft wird.
Welches Ziel haben Sie sich mit Ihrem Buch „Leben und Sterben“ gesetzt?
Das Fach der Medizinethik einem breiteren Publikum vorzustellen und es hoffentlich zu befähigen, im eigenen Leben bessere Entscheidungen zu treffen, wenn es um Gesundheit und Krankheit geht.
„… für konkrete Fragestellung auch direkte Orientierung.“
Bei welchen Situationen und Fragen bewährt sich Ihr Buch als Kompass und welche Fähigkeiten vermitteln Sie Ihren Leser:innen?
Ich hoffe, dass es für viele Situationen in der Medizin und viele Debatten Anregung bieten kann und für manche ganz konkrete Fragestellung auch direkte Orientierung. Vor allem aber ist das Ziel, dass die Leserinnen und Leser ethisch herausfordernde Situationen danach besser gerüstet angehen können.
Was zeichnet für Sie eine gute Entscheidung aus?
Dass sie wohlbegründet, gut informiert und unter Berücksichtigung der jeweils relevanten Alternativen selbstbestimmt getroffen wird.
Was macht Ihnen Vernetzung so wichtig und mit welchen Fachbereichen sind Sie intensiv im Austausch?
Medizinethik ist sehr interdisziplinär – das sagt ja schon der Begriff selbst. Ich arbeite daher sehr regelmäßig mit verschiedenen ärztlichen Kolleg:innen, aber auch mit Jurist:innen, Sozialwissenschaftler:innen, Psycholog:innen, Robotiker:innen oder anderen Technikwissenschaftler:innen zusammen. Das ist mit das Beste an meinem Fach.
„ … das Buch ist wirklich aus mir ‚herausgeflossen‘.“
Sie versetzen uns Ihr ganzes Buch hindurch immer mitten ins Geschehen: von der Intensivstation bis zum Hörsaal. Warum haben Sie diese Live-dabei-Perspektive gewählt?
Ich hatte fest vor, ein anschauliches Buch zu schreiben, kein akademisches Fachbuch. Und dann sind mir die verschiedenen Formen tatsächlich einfach beim Schreiben eingefallen. Ich muss das mal sagen – das Buch ist wirklich aus mir ‚herausgeflossen‘. Ich wollte das jetzt seit mindestens zehn Jahren schreiben und entsprechend hatte ich viel Vorbereitung und hab immer wieder darüber nachgedacht, also das war wirklich eine reine Freude, das zu schreiben, was weiß Gott nicht immer der Fall ist bei mir!
Beim Lesen bangen wir um das Frühchen Tim, um den schwerkranken Herrn K. und andere Menschen, für die es um Leben und Tod geht. Wie real sind Ihre berührenden Fallbeispiele und schöpfen Sie dabei aus Ihrer eigenen Praxis?
Das sind alles echte Fälle. Ich habe die natürlich abgewandelt, um die Identitäten aller Beteiligten zu schützen, aber die Fälle habe ich alle selbst erlebt, beraten oder war irgendwie beteiligt. Ich mache jetzt seit über 20 Jahren klinische Ethikberatung – ich konnte aus unzähligen Fällen aussuchen, die ich über diese Zeit erlebt habe.
Tim ist viel zu früh auf die Welt gekommen. Was fürchten seine Eltern und was macht den Konflikt zwischen ihnen und dem medizinischen Team zur Herausforderung für die Medizinethik?
Seine Eltern fürchten eine schwere Behinderung und schätzen seine zukünftige Lebensqualität und sein Wohl als niedrig ein; sie wollen die intensivmedizinische Behandlung beenden und ihn sterben lassen. Das medizinische Team unterstreicht, dass Tim sich gut entwickelt und dass eine mögliche Behinderung kein Grund ist, ihn nicht mehr zu behandeln. Hier werden die ethischen Prinzipien der Fürsorge und der Schadensvermeidung sehr unterschiedlich ausgelegt und es besteht ein Konflikt zwischen der elterlichen Selbstbestimmung und dem Kindeswohl.
Wie ist das Ringen um das Leben des Winzlings Tim ausgegangen?
In der ethischen Abwägung steht letztlich die Fürsorge für das Wohl aus der vorgestellten Sicht von Tim über der elterlichen Selbstbestimmung und Entscheidungsmacht. Ein wirklich schwieriger Fall.
„Respekt, Fürsorge, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit.“
Welche Grundprinzipien gelten in der Medizinethik und helfen uns allen verlässlich bei essenziellen Entscheidungen?
Im Buch werden vor allem die vier Prinzipien Respekt vor Selbstbestimmung, Fürsorge/Wohltun, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit besprochen, die teils noch ergänzt werden, je nach Thema und Kontext.
Eine Vielfalt von Fragen gilt es in den Bereichen künstliche Befruchtung und pränatale Diagnostik zu lösen. Worin bestehen die Kernkonflikte und was möchten Sie bewusstmachen?
Eines ist sicher die Frage nach dem moralischen Status des frühen menschlichen Embryos. Dessen Schutz kann zudem mit der reproduktiven Selbstbestimmung der Frau bzw. der elterlichen Selbstbestimmung und grundsätzlichen Möglichkeit von Eltern, über das ungeborene Leben zu entscheiden, manchmal – selten – in Konflikt geraten. Und schließlich wird in diesem Bereich auch immer wieder diskutiert, ob man alle Fortschritte, die die Reproduktionsmedizin macht, gesellschaftlich umgesetzt haben möchte.
Warum möchten Sie uns besonders für den Umgang mit Dammbruch-Argumenten sensibilisieren? Wo sind wir damit konfrontiert und warum ist Besonnenheit geraten?
Die hört man wirklich oft: ‚wenn wir Präimplantationsdiagnostik bei bestimmten Fällen erlauben, dann kommt das Designerbaby‘, ‚wenn wir KI-Algorithmen in der Diagnostik zulassen, kommt der autonome Roboter-Arzt‘, und so weiter. Das sind zumeist, wenn man sie sich sorgfältig anschaut, keine überzeugenden Argumente. Sie haben aber oft eine intuitive Wucht, weil sie Szenarien und Gefühle wie Angst nutzen, deshalb sollte man sie erkennen und sich damit ernsthaft auseinandersetzen. Manchmal stecken in zunächst plakativen Dammbruchargumenten auch begründete Sorgen. Die sollte man aus den teils überzogenen Furchtszenarien sozusagen ‚herausschälen‘. Es geht also oft um eine argumentative Versachlichung und darum, einen relevanten Sachstand mitzudenken.
„… wie wir einen guten Tod gestalten können.“
Ein großes Kapitel widmen Sie dem Sterben. Was spricht für die ausführliche Behandlung und wozu möchten Sie ermutigen?
Um die 70 % der Deutschen sterben in Einrichtungen des Gesundheitswesens, mehr als 10 % sterben künstlich beatmet – das ist wirklich nicht das, was die meisten Menschen sich wünschen würden, wenn sie in Ruhe über ihren Tod nachdenken. Ich hoffe, dass ich dazu beitragen kann, dass wir alle uns ein wenig mehr, ein wenig informierter und mit guten Argumenten damit befassen, wie wir einen guten Tod gestalten können, für uns selbst und unsere Lieben – und dass wir im Gesundheitswesen dafür offen sind. Ich halte das angesichts der demografischen Entwicklung für eine der großen Aufgaben, die wir als Gesellschaft, als Gesundheitswesen, aber eben auch als einzelne Individuen zu meistern haben.
Was hat für Sie bei der Auseinandersetzung mit dem kontrovers diskutierten Thema Sterbehilfe Priorität?
Mir ist wichtig darauf hinzuweisen, dass es in der Praxis gar nicht immer um die sehr umstrittenen Formen von Sterbehilfe geht, um die öffentlich und gesellschaftlich gerungen wird (also etwa ärztlich assistierten Suizid, oder gar aktive Sterbehilfe). Es gibt dazu natürlich viele Fragen zu klären – aber in der Breite geht es vor allem darum, gut vorauszuplanen und beispielsweise sicherzustellen, dass nicht am Lebensende Dinge unternommen werden, die die Betroffene oder der Betroffene gar nicht mehr will oder die man nur macht, weil unklar ist, was er oder sie sich gewünscht hätte. Das geht besser, und darauf möchte ich hinweisen.
Als „absoluten Goldstandard“ bezeichnen Sie „Advanced Care Planning“, also vorausschauende Vorsorgeplanung. Was ist das und warum brauchen wir es dringend?
Wie der Name schon sagt, das ist ein Prozess, bei dem Menschen in Ruhe, unterstützt von Ärzt:innen und anderen Fachkräften im Gesundheitswesen, darüber nachdenken, wie sie behandelt werden möchten und was sie vielleicht am Ende ihres Lebens ganz besonders, oder aber auch nicht mehr möchten bzw. unterlassen wollen. Alles möglichst gut beraten und informiert, wohlüberlegt und gut dokumentiert und dann auch weitergeleitet, so dass die Wünsche auch dort ankommen, wo sie wichtig werden – in der Notfallsituation, im Krankenhaus, im Pflegeheim usw. Das finde ich wirklich wichtig. Vorausschauende Versorgungsplanung ist aber etwas, das wir als Bürger:innen selbst anstoßen und tun müssen. Ich möchte den Prozess erklären und Leser:innen ermutigen und befähigen, so etwas informiert und überlegt zu tun.
„Gemeinsame und tragfähige Lösungen für wirklich schwierige und wichtige Probleme finden.“
Eine Ihrer Lieblingsformulierungen ist „Korridor der Gemeinsamkeit“. Was verbirgt sich da Konstruktives dahinter und was macht es wichtiger denn je?
Der ist vor allem bei politischen Regelungsdebatten wirklich wichtig. In pluralen Gesellschaften wie der unseren ist es vollkommen normal, dass es verschiedene, kurz gesagt ‚moralische Bauchgefühle‘ und begründete ethische Positionen gibt. Dennoch muss man sich ja zumeist auf etwas einigen, das für möglichst viele Menschen akzeptabel ist, etwa wenn es um eine neue gesetzliche Regelung geht. In den Debatten im Ethikrat, bei denen es um so etwas ging, hieß das dann, dass man sich auf einen Kompromiss einigen muss, bei dem alle ein bisschen abgeben müssen – man am Ende aber dann zueinander finden kann. Dieser Korridor der Gemeinsamkeit scheint mir gerade heute, in Zeiten, in denen die Demokratie unter Druck steht, enorm wichtig, denn nur so kann man überhaupt gemeinsame und tragfähige Lösungen für wirklich schwierige und wichtige Probleme finden.