Als literarischer Großmeister des Vereinigten Königreichs ist der vielfach preisgekrönte Andrew O’Hagan längst bekannt. Der „Guardian“ bezeichnet ihn als „Charles Dickens der Post-Brexit-Ära“. Nun übertrifft er sich selbst als Chronist Großbritanniens der Gegenwart – durch sein Opus magnum „Caledonian Road“, ein Monumental-Panorama, das alle Milieus lebendig werden lässt.

Ihr Lebensmotto lautet: „Immer neugierig!“. Wie wirkt sich diese Haltung in Ihrem Alltag als Autor aus?
Ich wache mit Fragen auf, nicht mit Antworten. Wir alle sind – als Leser, als Bürger – von Menschen umgeben, die behaupten, sich sicher zu sein. Gewissheit ist die Sprache der Politik, der Kulturkriege, der Zeitungen. Aber die Sprache der Fiktion und die Sprache unseres gemeinsamen Lebens ist die Ungewissheit. Das Leben ist auf diese Weise spannender und ehrlicher. Die Menschen lesen Romane, weil sie genug von Leitartikeln und Meinungen haben. Sie wollen Leben.

Sie sind als Journalist und Schriftsteller aktiv. Wie beeinflussen sich beide Bereiche?
Der Reporter in mir hält sich an die Fakten. Der Romanautor in mir hält sich an das, was die Fakten verbergen.

„The Guardian“ hat Sie als „Dickens der Post-Brexit-Ära“ bezeichnet. Wie treffend finden Sie dieses Kompliment?
Große Literatur sollte der Leserschaft helfen, ihr Land, ihre Familie, ihre Zeit, sich selbst zu sehen. Dickens hat das für die Welt des 19. Jahrhunderts getan, Thomas Mann für die Welt des 20 Jahrhunderts. Ich freue mich über das Kompliment und hoffe, dass ich ihm gerecht werden kann.

In Ihrem neuen Roman „Caledonian Road“ entwerfen Sie ein monumentales Panorama. Worum geht es Ihnen dabei?
Es geht um das moderne London und um Geld. Es geht um die Ungleichheit in unserem Leben. Es ist ein moralisches Abenteuer, das im heutigen Großbritannien spielt, wo wir uns aus Europa zurückgezogen und zugelassen haben, dass unsere Städte durch Korruption und Lügen wachsen.

Und es ist ein Gesellschaftsporträt mit viel Satire.
Ja, „Caledonian Road“ ist auch eine große Komödie: ein Roman über die High Society, in dem die königliche Familie neben Kriminellen auftaucht, in dem Zeitungsredakteure mit russischen Oligarchen trinken, in dem die Kunstwelt sich mit Fälschungen überschlägt, in dem Models und Filmstars gefallene Helden sind. Und in dem ein Mann, mein Kunsthistoriker Campbell Flynn, zusehen muss, wie alle Geheimnisse seines Lebens von seinem brillanten Studenten aufgedeckt werden.

„Es war das Forschungsprojekt meines Lebens.“

Wie haben Sie Ihren Recherche-Enthusiasmus ausgelebt?
Die Arbeit an dem Buch dauerte zehn Jahre. Ein Großteil davon war Recherche – ein wahnsinniger Aufwand. Ich verfolgte Straßenbanden und ihr kriminelles Tun. Ich aß mit der Queen zu Mittag, hing mit Filmstars ab und blickte hinter die Kulissen der Pariser und Mailänder Modeschauen. Ich tauchte ein in die Welt der ethischen Computerhacker in London und Berlin, lernte die Leute kennen, die Bitcoin erfunden haben, sprach mit Arbeiterinnen in den Bekleidungsfabriken und verschaffte mir Insiderwissen über russische Oligarchen in London … Es war das Forschungsprojekt meines Lebens und ich gewann erstaunliche Einblicke. Ein amerikanischer Journalist sagte kürzlich, das Buch sei wie ein Backstage-Pass für London – genau das hatte ich vor.

„Caledonian Road“ beginnt am 21. Mai 2021. Was macht dieses Datum und die folgende Zeit interessant?
Es war direkt nach der Covid-Pandemie. Überall auf der Welt herrschte eine Art Katerstimmung. Eine Zeit, in der wir uns verändern und verbessern wollten. Eine Zeit der Abrechnung. Also verlegte ich mein ganzes Drama in diesen Zeitraum von einem Jahr ab Mai 2021. Das gab dem Buch eine solche dramatische Aufladung – ein Gefühl von Spannung und Druck. Wir wollten die Welt wieder aufbauen, mussten aber feststellen, dass ein Großteil unserer Gesellschaft in Trümmern lag. Das ist die Geschichte: Großbritannien war so stolz auf sich selbst, aber es war in der Mitte korrumpiert worden.

Was macht die Caledonian Road für Sie zur unerschöpflichen Inspirationsquelle?
Sie ist eine der großen Straßen im Zentrum Londons, ähnlich wie in Berlin Unter den Linden. Eine große urbane Straße ist wie ein lebendiger Organismus – es gibt so viel Leben dort. So viel Komödie und so viel Tragödie. Als ich mit 21 Jahren nach London zog, wohnte ich in der Nähe dieser Straße und war immer wieder erstaunt über die Kontraste. Auf der einen Seite viktorianische Luxusimmobilien, auf der anderen Seite Sozialwohnungen und Unterkünfte für Migranten. Drama an jeder Ecke. Nebeneinander junge Straßenbanden, Handwerker und Politiker der Mittelschicht. Die Gegend um die Caledonian Road, King’s Cross, hat sich in den letzten 20 Jahren zu einem großen Kommunikationszentrum entwickelt. Google, Facebook, der Guardian, Expedia: Sie alle haben dort ihren Sitz. Die Caledonian Road war im viktorianischen Zeitalter Schauplatz großer sozialer Ungleichheit – ich wollte zeigen, wie es heute ist. Als Romanschauplatz ist diese Straße also unwiderstehlich.

Was ist Ihnen bei Ihrem Großaufgebot an Romanfiguren wichtig?
Sechzig Figuren. Es brauchte jede einzelne von ihnen, um alles abzudecken: die Dramen, die Geheimnisse und die gesellschaftliche Vielfalt. Jede einzelne Romanfigur ist für die Handlung bedeutsam.

„Campbell Flynn ist ein Jedermann.“

Was verkörpert Ihr Protagonist, der 52-jährige Campbell Flynn?
Er ist im Moment ein Jedermann. Er ist ein liberaler Mann, der wie selbstverständlich davon ausgeht, gut zu sein. Er hat es genossen, auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen. Doch ist er wirklich gut? Hat er genug getan, um die Welt zu verbessern? Oder ist er jetzt verletzlich, ein Heuchler, ein gefallener Mann? Ich wollte, dass Campbell Flynn die Unsicherheit weißer Männer mittleren Alters darstellt. Dieser Mann, der immer das Sagen hatte, ist jetzt eine Zielscheibe. Überall. In Großbritannien, in Deutschland, in Amerika. Verändert sich unsere Gesellschaft?

Was sind Flynns größte Stärken und Schwächen?
Seine Stärken sind Charme, Attraktivität, Neugier, seine Bereitschaft, mehr als nur eine Person zu sein, seine unberechenbare Intelligenz, sein Vertrauen. Seine Schwächen sind dramatisch und sehr zeitgemäß. Er ist sentimental. Und er macht sich schuldig, weil er glaubt, Teil der Lösung zu sein, obwohl er Teil des Problems sein könnte. Dies ist die Art von Drama, die sich langsam abspielt und es dem Leser und der Leserin ermöglicht, zu entscheiden, wer Flynn wirklich ist.

Warum haben Sie Flynn zum Kunsthistoriker gemacht? Und warum zur Koryphäe für das Goldene Zeitalter in den Niederlanden?
Im Zeitalter des Internets lautet unsere wichtigste Frage: Was ist Realität? Diese Frage habe ich in den Mittelpunkt von „Caledonian Road“ gestellt. In meiner Vorstellung war Flynn schon immer ein Kunsthistoriker, ein Wahrsager von Illusion und Realität. Und ich wollte, dass er Experte für Vermeer ist. Spannend, sich zu fragen, ob Vermeer der große Maler der fotografischen Realität aus dem Goldenen Zeitalter der Niederlande ist. Oder ist er der große Maler der Illusion? Dieses Rätsel ist Campbells Problem. Er schreibt eine berühmte Biografie über Vermeer, einen Künstler, über den fast nichts bekannt ist.

Flynn wird gefeiert für seine Biografie über Vermeer. Warum hat dieser Maler einen so hohen Stellenwert für Flynn?
Weil Vermeer eine Leerstelle ist. Er ist eine schöpferische Leistung mit einer Signatur, aber ohne eine echte Biografie, die wir kennen. Er destilliert Leben. Aber wo ist Vermeer in dem Leben, das er destilliert? Er ist ein Rätsel. Und das reizt Flynn.

„Es könnte auf einen Schmerz in seinem Inneren hinweisen.“

Heimlich hat Flynn ein weiteres Buch geschrieben: „Warum Männer in ihren Autos weinen“. Was ist das Bedeutsame daran?
Er schreibt es, weil er gierig nach mehr finanziellem Erfolg ist. Aber auch, weil er am Puls der Zeit ist und weiß, dass Berühmtheit und Selbsthilfe heute als lebendige Philosophien angesehen werden. Daran will er teilhaben. Er versucht, sich selbst auf den neuesten Stand zu bringen und Teil der aktuellen Welle des bewussten Lebens zu sein. Dabei sieht er vielleicht nicht, dass dieses alberne Buch auch auf einen Schmerz in seinem Inneren hinweisen könnte.

Ihr Roman spielt sich zwischen Tradition, Umbruch und Aufbruch ab. Würden Sie sagen: an der Schwelle zwischen alter und neuer Welt?
Ja, an der Schwelle zum Wandel. Ganz bewusst habe ich die Handlung so nah am Zeitpunkt der Veröffentlichung angesiedelt: Ich wollte, dass die ersten Leser das Buch als eine Art Backstage-Pass zur aktuellen Realität erleben und diesen Moment für künftige Generationen festhalten. Das Buch experimentiert mit der „realistischen“ Tradition des Romans, indem es die anti-realistischen Elemente des Internets und der Kunstwelt einbezieht. Durch die Mischung alter und neuer Modelle wollte ich etwas ganz Neues schaffen. „Caledonian Road“ soll einen Weg in die Zukunft aufzeigen.

Flynns Ehefrau Elizabeth ist ein vielschichtiger Charakter …
Elizabeth ist eine Stimme der Vernunft und des Verstandes inmitten all dieses Wahns. Aber sie ist auch ein vielbeschäftigter Mensch. Sie bemerkt nicht, wie sehr ihr Mann leidet. Ich wollte, dass diese Spannung im Mittelpunkt des Familienlebens steht – eine Art glückliche, sexuelle und emotionale Bindung, die auch viele Geheimnisse in sich birgt. Viele Ehen sind so.

Warum haben Sie Elizabeth zur Psychologin gemacht?
Um das Klassendrama zu vertiefen. Elizabeth gehört zur Oberschicht, sie ist intelligent und kümmert sich um die Menschen. Aber zugleich ist sie selbst Teil eines verblendeten Systems der Fairness, in dem es wichtiger ist, „den Menschen zu helfen“, als Chancengleichheit für sie zu schaffen. Dies ist ein wichtiger Punkt: Elizabeth ist eine gute Liberale und auf Wohltätigkeit bedacht – eine Art von Überlegenheit, die sie leugnen würde.

„Geld ist ein Hauptaspekt im Gesellschaftsroman.“

Nicht zuletzt verfolgen Sie die Spur des Geldes. Was ist für Sie das Spannende daran?
Geld ist ein Hauptaspekt im Gesellschaftsroman. Ob bei Dickens oder Thomas Mann: Die Klasse ist eine Funktion der finanziellen Unterschiede. Wenn wir in einem Roman dem Geld folgen, gelangen wir oft zum moralischen Problem der geschilderten Lebensweise.

Durch die Familie von Flynns ältestem Freund William Byre geht ein Riss. Welche Gegensätze prallen da aufeinander?
William Byre war ein schlechter Geschäftsmann, ein schlechter Ehemann, ein schlechter Vater und ein schlechtes Mitglied der Gesellschaft. Seine Familie ist ein Mikrokosmos der britischen Hysterie. Doch sein Sohn Zak möchte das alte Regelwerk abschaffen und echte Veränderungen herbeiführen. William Byre hat die Menschen und den Planeten ausgebeutet und missbraucht. Sein Sohn Zak zeigt einen Weg, der aus dieser Misere herausführt – zugegeben, mit Widersprüchen und Problemen. Aber als Mitglied einer jüngeren Generation, die die Ausbeutung unseres Planeten nicht mehr tolerieren wird.

Flynn schließt Bekanntschaft mit Milo Mangasha. Welche Rolle spielt er und welchen Stellenwert gewinnt er im Lauf der Handlung?
Milo ist ein ethischer Kämpfer. Er ist brillant, originell, aber auch leidgeprüft. Er ist überzeugt, dass seine Mutter aufgrund von Klassenvorurteilen gestorben ist. Und nun ist er auf seiner Mission, um diejenigen zu entlarven, die seiner Meinung nach nur vorgeben, gute Menschen zu sein, die aber egoistisch leben. Er entlarvt sie durch sein ethisches Hacking, auf dramatische Weise: Er gehört zu der Generation, die das Internet nutzt, um Veränderungen zu bewirken. Milo ist eine zentrale Kraft in der ganzen Geschichte, denn er stellt die alte Ordnung jeden Tag in Frage. Die Ergebnisse sind verblüffend.

„Caledonian Road“ umfasst nahezu 800 Seiten. Wie haben Sie sich gefühlt, als der letzte Satz geschrieben war?
Ich war überglücklich. Ich hatte das Gefühl, den Roman geschrieben zu haben, für den ich geboren war.