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Der erste Eindruck stimmt! So außergewöhnlich wie der Titel und das Cover präsentiert sich der ganze Debütroman von Anna Maschik. Die Wienerin, die in ihrer Heimatstadt Sprachkunst und in Leipzig literarisches Schreiben studiert hat, versteht sich nicht nur auf ihr Handwerk. Sie bringt auch Mut mit. So hat sie für ihren Familienroman ein eigenes, perfektes Format erfunden. Mit archaischer Wucht und spielerischer Leichtigkeit erzählt sie von vier Generationen, deren weitergetragenen Prägungen und Befreiungsversuchen. Die Entdeckung einer großen literarischen Stimme!
Bei Ihrem Debüt handelt es sich um einen außergewöhnlichen Familienroman. Was verbirgt sich hinter „Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten“?
Der Titel ist zugleich der erste Satz des Buches, das mit einer „Schwarzschlachtung“ beginnt. So hieß es, wenn im Nationalsozialismus ein Tier jenseits der staatlich genehmigten Rationen geschlachtet wurde. Nachdem die Bauern eingezogen worden waren, waren es vor allem die Bäuerinnen, die ein großes Risiko eingingen, um so ihre Familien zu ernähren. Was ursprünglich eine männliche und auch gemeinschaftliche Aufgabe war, wurde in jener Zeit in die Sphäre der Weiblichkeit und der Heimlichkeit verschoben. Dies als tragendes Bild für das Erzählen einer Familiengeschichte zu verwenden, war einer meiner Erzählimpulse.
Was hat Ihr Interesse an der bäuerlichen Lebenswelt Ihrer Urgroßmutter in einem Nordseedorf geweckt? Was macht den ländlichen Alltag für Sie romanreif?
Vom Dorf meiner Urgroßmutter wurde immer viel erzählt, selbst kannte ich es jedoch nicht. Es schien mir wie eine mythische Landschaft. Um die Geschichte in dieser Gegend ansiedeln zu können, versuchte ich, mir das Leben vorzustellen, die alltäglichen Arbeiten und Abläufe, die den Großteil eines Lebens ausmachen und in Familiengeschichten oft außer Acht gelassen werden. Mir war wichtig, das detailliert und wahrheitsgetreu darzustellen, auch um den magischen Begebenheiten, die sich um Almas Familie ranken, einen Anker in der Realität zu bieten.
„Die Familiengeschichte wird entlang der mütterlichen Linie erzählt.“
Die Aufmerksamkeit lenken Sie auf die Anfang 1900 geborene Henrike und die Frauen der drei nachfolgenden Generationen. Warum? Was interessiert Sie speziell an den weiblichen Lebensläufen und -welten?
Die männlichen Figuren spielen zwar auch wichtige Rollen, sie tauchen in der Geschichte aber erst auf, wenn sie den Frauen begegnen. Die Familiengeschichte wird also entlang der mütterlichen Linie erzählt. Das hat mich interessiert, weil wir oft gewohnt sind, Familienzugehörigkeit anhand der Männer zu denken – das zeigt sich schon an der Annahme des Familiennamens seitens der Frau.
Henrike, Hilde, Miriam, Alma: Was verbindet und was trennt diese Mütter und Töchter aus vier Generationen? Was macht ihr Verhältnis mitunter so kompliziert?
Sie verbindet eine gewisse Eigenwilligkeit, Einsamkeit und ihre Liebe zur Natur. Sie nehmen ihre Rolle als „Mutter“ eher widerwillig an und empfinden Missgunst, weil ihre Töchter schöner und gebildeter sein dürfen als sie selbst. Als Töchter wiederum sind sie fest entschlossen, alles anders zu machen als die eigene Mutter. Genau das jedoch führt oft unwillkürlich dazu, dass sich die Geschichte wiederholt. Irgendwie entkommen sie einander nicht.
Ihre Erzählerin stellt sich als Alma vor. Wer ist sie und welche Rolle haben Sie ihr zugedacht?
Alma ist das jüngste Mitglied der Familie und die einzige Vertreterin ihrer Generation. Gleichzeitig ist Alma – was auf Spanisch „Seele“ bedeutet – auch eine Art Familienseele. Sie spukt durch die Generationen und war überall dabei.
Warum ist es Alma wichtig, den Lebenslinien der vorherigen Generationen nachzuspüren?
Alma ahnt, dass ihr Leben geprägt ist von allen, die vor ihr kamen, selbst wenn sie einander nie begegnet sind. Im Grunde erzählt sie immer auch von sich selbst.
„Eingeweideschau – ein Blick ins Innere des familiären Geflechtes …“
Alma verkündet: „Meine Erzählung ist eine Eingeweideschau.“ Wie ist das zu verstehen und warum haben Sie diese archaische Bezeichnung gewählt?
Eine Familiengeschichte als Eingeweideschau zu erzählen, macht für mich auf mehreren Ebenen Sinn. Zum einen werfen wir einen Blick ins Innere des familiären Geflechtes und somit auch ins eigene Innere. Das ist eine blutige und intime Angelegenheit. Wir sehen die Organe, die uns am Leben erhalten, vermutlich graut uns aber auch. Zum anderen ist das Erzählen einer Familiengeschichte eine Art umgekehrte Wahrsagerei. Wir deuten Zeichen in der Gegenwart, nicht um vorauszusagen, was in der Zukunft passieren wird, sondern was in der Vergangenheit passiert ist. Dabei wissen wir von der Vergangenheit fast genauso wenig wie von der Zukunft.
Alma fügt die Familiengeschichte aus Fragmenten (auch optisch) zusammen. Was ist für Sie das Reizvolle und Schlüssige daran?
Ich wollte mit Absicht keine epische Familienchronik schreiben, denn von der Vergangenheit bekommen wir meist nicht mehr zu Gesicht als Bruchstücke und Anekdoten, die wieder und wieder erzählt werden. Erinnerungen sind lückenhaft und in den Leerräumen beginnt die Fantasie zu sprießen. Vieles wird durch die Lücke überhaupt erst sagbar, so wie in Almas Familie manches nur im Schweigen ausgedrückt wird – begonnen schon beim stillen Tod der Schafe. Die leere Seite macht zudem immer wieder deutlich: Das ist ein Text. Er wird nie alles verraten können.
Als eigene Erzählform haben Sie Aufzählungen entdeckt und variantenreich eingesetzt. Was ist Ihr Lieblingsbeispiel?
Traditionell haben Listen einen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie geben eine Ordnung vor. Mein Ziel war, dies zu durchbrechen, Dinge ungewohnt zu kombinieren und dadurch eine eigene Logik zu erschaffen.
Außerdem benennen Listen sehr direkt und unverblümt auch tragische Tatsachen. Das passte sehr gut zu Alma. Ein gutes Beispiel ist diese Liste aus dem Roman:
„Dinge, die hängen:
Das Schaf am Haken
Die Schinken in der Räucherkammer
Der Urgroßvater am Balken
Die Puppen an der Deckenlampe
Das Kind an der Nabelschnur“
Was ist für Sie das Aufschlussreiche an Ritualen wie den Schlafliedern?
An Ritualen offenbart sich vieles, das in einer Familie vor sich geht. Auch sind Schlaflieder oft unsere erste Begegnung mit dem Poetischen. Ich finde, wenn ein Schlaflied gesungen wird, ist das ein intimer und verletzlicher Moment.
Zum Beginn jeden Lebens taucht eine gewisse Anna auf. Sie ist aber nicht nur eine gewöhnliche Hebamme, oder?
Genau, das merkt man daran, dass Anna im Laufe der Geschichte nicht altert und immer sonderbar nah an Almas Familie wohnt. Es gab früher tatsächlich den Beruf der Dorfhebamme. Mich begeisterte die Vorstellung, dass alle in einem Dorf von derselben Frau „zur Welt gebracht wurden“. Anna treibt diesen Gedanken auf die Spitze: Nicht nur das Dorf, sondern alle Figuren werden von ihr ins Leben begleitet. Mit einem Augenzwinkern teilen wir uns auch den Vornamen, denn wir beide bringen die Figuren dieser Geschichte auf die Welt.
„Das Gebären und das Sterben sind Frauenarbeit.“
Am Ende des Lebens ist Nora zuständig. Auch diese lavendelumwölkte Frau wirkt geheimnisvoll. Was sehen Sie in ihr?
Auch der Beruf der dörflichen Leichenfrau ist ein historischer Fakt. Das Gebären und das Sterben sind Frauenarbeit. Genau wie Anna ist Nora alterslos, die beiden Frauen sind wie Wächterinnen der beiden Tore, durch die jede:r im Laufe des Lebens tritt.
Nur selten treten Anna und Nora gleichzeitig in Erscheinung. Ein solcher Ausnahmefall ist die schwere Geburt von Henrikes und Georgs Sohn Benedikt. Was hat es mit ihm auf sich?
Benedikt wird schlafend geboren und erwacht 15 Jahre lang nicht. In der Sorge um ihn wird seine kleine Schwester Hilde von den Eltern vernachlässigt. Diese Ungerechtigkeit zwischen den Geschwistern, setzt sich über Generationen fort. Man kann sich ihren Ursprung vielleicht genauso wenig erklären wie Benedikts sonderbaren Schlaf.
„Magie … erzählt etwas über die Realität.“
Mitten in den Härten der Alltagsrealität lassen Sie immer wieder Geheimnisvolles und Märchenhaftes aufblitzen. Was macht diese Abstecher ins Fantastische und Magische bedeutsam?
Die Magie ist nichts Phantastisches oder Unwirkliches, sondern erzählt uns etwas über die Realität. Sie tritt immer dann in Kraft, wenn die Sprache versagt. Das Gemüse wird weiß im Augenblick der Trauer, der Bruder will sein Geschwisterchen nicht und sieht darin nur eine Puppe aus Holz. Die Töchter haben die fixe Vorstellung, im gleichen Alter zu sterben wie die Mutter. Auch das gehört für mich zu einer Familiengeschichte: all die Dinge, die sich nicht erklären lassen und die doch wirken.
Inwiefern geht es Ihnen in Ihrem Debütroman um Ausbrüche, ob aus Verhaltensmustern innerhalb der Familie oder aus literarischen Konventionen des klassischen Familienromans?
Ich habe mich gefragt: Wie kommt es dazu, dass jede Generation, obwohl sie versucht, die Dinge anders zu machen als die Eltern und Großeltern, doch immer wieder zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt? Dieses wiederholte Abarbeiten an Dingen, die wir schon vor unserer Geburt mit auf den Weg bekommen haben, ist etwas, das sich auch in Almas Familie abspielt. Der Roman ergründet, ob und wie ein Ausbruch gelingen kann – nicht zuletzt auch erzählerisch.


