Ausnahmetalent Caroline Peters beeindruckt durch sagenhafte Wandlungsfähigkeit. Mehrfach als beste Schauspielerin des Jahres ausgezeichnet, wechselt sie mühelos von den namhaftesten Bühnen wie dem Wiener Burgtheater vor die Kamera. Und von Rollen in klassischen Stücken und progressiven Projekten – z.B. bei René Pollesch an der Berliner Volksbühne – zum Fernsehkrimi. Legendär: ihr Sinn für Situationskomik als Kommissarin Sophie Haas in „Mord mit Aussicht“ – mit über 7 Millionen Zuschauer:innen. Großes Einfühlungsvermögen beweist sie nun auch in ihrem grandiosen Romandebüt „Ein anderes Leben“.

Obwohl Sie mit Dreharbeiten und Bühnenauftritten voll ausgelastet sind, überraschen Sie nun mit Ihrem Debütroman. Wann und wie haben Sie das Schreiben für sich entdeckt?
Ich habe tatsächlich immer schon geschrieben, lange Zeit nur für mich selbst. Es fing mit intensivem Tagebuchschreiben an. Irgendwann wurden kleine Geschichten und Miniaturen daraus. 2022 habe ich einen Text für ein Solostück verfasst und bei den Wiener Festwochen aufgeführt. Und dann fühlte ich mich gestärkt genug für eine erste lange Geschichte.

„Heute ist die Beerdigung meines Vaters, und für mich ist es die Auferstehung meiner Mutter.“ Diesen ersten Satz in Ihrem Roman könnte man glatt für ein persönliches Bekenntnis von Ihnen halten. Ein Holzweg?
Ein Holzweg, was die private Ebene betrifft. Für den Roman ist der Satz programmatisch: Mit dem Tod des Vaters geht etwas zu Ende, und es wird bei der Tochter etwas Neues in Gang gesetzt – ein neuer Blick auf die Familie, Fragen an die Mutter, an das eigene Verhältnis zu ihr.

Wie wichtig ist Ihre eigene Familiengeschichte als Inspirationsquelle?
Nicht die Familiengeschichte, sondern die biographischen Eckdaten meiner Mutter waren die Inspirationsquelle. Ausgehend von ihr erzähle ich von einer Frau, die im Westdeutschland der 60er, 70er und 80er Jahre ihre entscheidenden Lebensphasen hatte.

„Der Wunsch nach einem anderen Leben ist mir nicht fremd.“

„Ein anderes Leben“ klingt – unter anderem – nach Sehnsüchten, Möglichkeiten und Veränderungen. Welche Bedeutung(en) verbinden Sie mit Ihrem Romantitel?
Der Wunsch nach einem anderen Leben ist mir nicht fremd. Immer wieder denke ich – es könnte auch alles ganz anders sein. Es hätte auch alles ganz anders laufen können, wenn diese oder jene kleine Situation anders verlaufen wäre. Das Lesen und Spielen und Schreiben bringt mich in mögliche Welten. In diesen Möglichkeitswelten ist alles wahr, aber nichts ist jemals so passiert.

Was ist „Ein anderes Leben“ für Sie? Ein Familienporträt? Oder eher poetische Familienforschung? Eine literarische Probebühne für neue Perspektiven?
Im Vordergrund steht für mich die intensive Verbindung zwischen der Nachkriegsmutter Hanna und ihrer Tochter. Welche Möglichkeiten hat Hanna? Inwiefern ist ihr Leben geformt durch Wiederaufbau, Kriegsvergangenheit der Vorgeneration, Rollenmuster für Männer und Frauen, denen man sich nicht entziehen kann?

„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Inwiefern trifft Kierkegaards Sicht auf Ihren Roman zu?
Oh, das ist gut, ja! Ich glaube allerdings nicht mehr daran, dass es vorwärts ODER rückwärts verstanden wird. Aber das Leben wird definitiv rückwärts erzählt. Im Roman versucht die Tochter, die schon sehr lange keine Tochter mehr ist, die eigene Stimme, die eigene Perspektive zu finden. Bisher hat im Kopf der Tochter die Erzählung der Mutter regiert. Nun, wo beide Elternteile tot sind, merkt sie, dass sie selbst die Erzählerin werden muss. Und durch ihre Stimme verändert sich der Plot, den die Vorgeneration gesponnen hat. Familie ist ein Garn, das alle Beteiligten zusammen spinnen. Oder ein Fischernetz, das man gemeinsam repariert und vergrößert.

Die Hauptrolle hat Hanna. Warum? Und wer ist sie?
Ich mag weibliche Helden. Und Hanna als Version meiner Mutter ist eine tolle Persönlichkeit. Sehr lustig, sehr auffällig und fantasievoll. Ein echter Stern in jeder Nacht. Aber sie ist eben auch für Kindererziehung und den Haushalt verantwortlich, für die Ehe. Für Zumutungen des realen Lebens also, und die vertragen sich nicht mit ihrer Natur und ihrem Intellekt. Ich bin sehr gern unter Leuten, die ausufernd und raumgreifend sind. Aber in einem Alltag mit Kindergärten, Schulen und Büros haben es solche Menschen schwer.

„Alle Eltern hinterlassen eine Flaschenpost für die Nachkommen.“

Für ihre Bestattung hat Hanna den Wunsch, im Meer versenkt zu werden – in einer Flaschenpost. Welche Symbolik oder welche Bedeutungen verbinden Sie damit und was macht sie so wichtig, dass die Flaschenpost im Roman immer wieder auftaucht?
Die Flaschenpost im Roman ist nicht so leicht zu fassen, denn es ist unklar, welche Botschaft sie enthält. Hanna will, dass ihre Asche am Meeresgrund wandert, „für Oberflächenblicke unsichtbar“ – eine Botschaft, die sich zugleich entzieht. Ich denke, alle Eltern hinterlassen eine Flaschenpost für die Nachkommen. Ich entdecke an mir so oft neue Seiten oder Verhaltensweisen, die mich verwundern. Und dann denke ich: So war mein Vater in seinen 40ern wahrscheinlich auch. Oder: So hat meine Mutter sich verhalten, als sie in meinem jetzigen Alter war. Plötzlich taucht die Flaschenpost auf, wird mit einem Mal angespült und lesbar. Dieses Bild trifft für mich das Verhältnis von Kindern und Eltern ganz gut.

„Hanna hat einen Platz in der Familienhistorie als die Verrückte“, heißt es ziemlich am Anfang in ihrem Roman. Wie kommt Hanna zu diesem Image und was verlangt nach einer neuen Sicht?
Vieles, was Hanna tut, irritiert, weil es von den Erwartungen abweicht. Für die anderen ist es das Einfachste, sie nicht ernst zu nehmen. Die Tochter versteht das erst, als sie erwachsen ist. Dann erst beginnt sie, sich zu fragen, wer Hanna wirklich war.

Sie reihen nicht einfach Ereignisse aneinander wie Perlen, sondern machen die Familiengeschichte selbst sowie Erzählrituale zum Thema. Was interessiert Sie dabei am meisten?
Das Erzählen von Geschichten ist ein großer Teil meines Berufes. Überzeugen mit Ansichten, mit Erfindungen, mit „Was wäre, wenn“. Es interessiert mich, wie auch alles außerhalb der Bühne und des Films von Erzählungen geprägt wird. Wie erzählen wir uns, wer wir sind oder wer wir sein wollen im Leben? Hanna macht die Familiengeschichte zu ihrem alleinigen Herrschaftsbereich und teilt sich und allen anderen damit Rollen zu, die manche in der Familie mögen, andere eher nicht. Wie kann die mütterliche Erzählung so viel Kraft haben? Woher kommt diese Kraft? Aus der aufwendigen Persönlichkeit der Mutter oder aus ihrer Rolle? Das sind Fragen, die ich mir nur stellen, aber nicht beantworten kann. Außer mit einer Geschichte, der Geschichte von Hanna und ihren Geschichten. Eigentlich ist sie eine Lügenbaronin, aber ihre Geschichten sind zu gut, um ihnen zu widersprechen.

Welchen Stellenwert haben eigentlich all die in der Familie nie gestellten Fragen und das Unausgesprochene? Wie prägend sind diese Leerstellen?
Ich glaube, die Leerstellen prägen uns genau so stark wie der Text um sie herum, den eine Familie herstellt. Nur auf andere Art, weil sie – vielleicht wie die Flaschenpost am Meeresgrund – schwer zu fassen sind. Das kann quälend sein. Die Tochter bemerkt die Leerstellen in Hannas Erzählungen, besonders wenn es um Hannas Vater, seine Vergangenheit im Krieg geht, aber sie kann sie nicht füllen. Solche Leerstellen können aber auch eine lustige Seite haben. Dann etwa, wenn etwas unverhofft auftaucht. Auf einmal hebt ein jüngeres Familienmitglied den Kopf wie die lang verstorbene Urgroßmutter. Und alle anderen in der Familie freuen sich, der Ahnin auf diese Art wiederzubegegnen.

Sie schreiben aus der Perspektive von Hannas jüngster Tochter. Was macht deren Perspektive am aufschlussreichsten für Sie?
Die Jüngsten in der Familie sind meines Erachtens oft diejenigen, die am meisten dazu verdammt sind, alles anzunehmen, wie es ist. „Much was decided before you were born“, hat die Künstlerin Jenny Holzer geschrieben. Wie geht man damit um? Als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene? Wie reagiert die Tochter auf das, was sie vorfindet? Sie imitiert in ihrer Kindheit viel, die Verhaltensweisen der Schwestern, die Mutter, den Vater, später will sie sich abgrenzen, sucht die Konfrontation mit der Mutter, will aus Mustern ausbrechen, eine typische pubertierende Teenagerin eben – fordert aber zugleich Dinge von ihrer Mutter ein, die vorgefundenen Familienmuster zu performen. Gerade diese Widersprüchlichkeit macht die Perspektive für mich so reizvoll.

„Meine Erfahrungen als Teenager im Köln der 80er Jahre haben im Roman zweifellos Spuren hinterlassen.“

Die Ich-Erzählerin hat wie Sie selbst ihre Kindheit und Jugend in Köln verbracht. Welche Gemeinsamkeiten teilen Sie mit ihr?
Meine Erfahrungen als Teenager im Köln der 80er Jahre haben im Roman zweifellos Spuren hinterlassen. Das Leben vor dem Mauerfall dort ist mir sehr bekannt, die Cafés, Kinos, die Buchläden. Die ganze Stadt war in meiner Erinnerung wie eingefroren, und es hat während des Schreibens großen Spaß gemacht, im Kopf dort wieder herumzulaufen. Die Zeit selbst war für mich damals eher trübe, denn ich war ein unglücklicher, häufig wutentbrannter Teenager. Aber im Rückblick fand ich die Erlebnisse auf einmal lustig, das Leben dieses wutentbrannten Halbkinds, das ich war.

Was ist für Hannas jüngste Tochter der Antrieb, das Leben ihrer verstorbenen Mutter neu zu beleuchten?
Die Tochter hat weder Antrieb noch Wahl. Der Vater wird beerdigt, und das setzt aus unerfindlichen Gründen eine Flut von Erinnerungen an die lang verstorbene Mutter frei. Sie kann sich nicht dagegen wehren und gibt den Erinnerungen den Raum, den sie fordern.

Die Familientradition der unkonventionellen Frauen reicht zurück bis zu Hannas Mutter Tita. Was ist das Imponierende an ihr? Was hat Hanna von ihr geerbt?
Großmutter Tita ist ein sehr dominanter Charakter, mit ausgeprägtem Hang zu großen Gesten und zur Angeberei. Hanna hat dieses Angeberische geerbt. Oder sich abgeschaut. Das hat – zumal in der damaligen Zeit – etwas Verwirrendes, Unangenehmes für die jeweiligen Kinder, aber auch Eindrucksvolles. Und es hat bei beiden viel mit Selbstbehauptung zu tun.

In Heidelberg beim Studium beginnt für Hanna und ihre Freunde ein neues Lebenskapitel. Inwiefern ist es eine Befreiung und was weckt „das Gefühl neuer Horizonte“?
Die jungen Menschen sind weg von ihren Eltern und bewegen sich in einer neuen Welt, die aus Büchern, Lernen und Offenheit besteht. Die bedrückende Enge, auch im Kopf, die in deutschen Nachkriegshaushalten vorgeherrscht haben muss, lassen sie hinter sich. Das Studium in Heidelberg bedeutet zum Teil auch einen richtigen Bruch mit den Eltern. Die drei zukünftigen Väter und Hanna als zukünftige Mutter fühlen sich frei und ausgelassen, wie in Truffauts Film „Jules und Jim“, der von Freundschaft, Liebe und Jugend in Kriegszeiten handelt. Aber so frei geht ihr Leben nicht weiter. Die Flaschenpost der Elterngeneration mit all ihren dunklen Verstrickungen folgt ihnen überall hin. Sie lehnen diese Verantwortung nicht ab, aber es ist ein schweres Leben mit diesem Erbe.

Hanna wird zur Schlüsselfigur in außergewöhnlichen Familienverhältnissen. Wie würden Sie diese Konstellation auf den Punkt bringen und wie kamen Sie auf diese Besonderheit?
Es gibt ein wunderbares Foto von Jane Birkin mit ihren drei erwachsenen Töchtern von drei verschiedenen Vätern. Alle vier sind großartige Künstlerinnen zum Zeitpunkt der Aufnahme, alle Stars auf ihre Art. In mir kam die Frage auf, wäre eine vergleichbare Konstellation in Deutschland denkbar? Wie sähe die deutsche Version dieses Mutter-Töchter-Gespanns aus Künstlerinnen aus?

„Alle drei Töchter sind Versionen meiner selbst, gerade auch in ihrer Gegensätzlichkeit.“

Was für Persönlichkeiten sind Hannas drei Töchter und auf welches Spannungspotenzial kommt es Ihnen bei dem Trio an?
Alle drei Töchter sind Versionen meiner selbst, gerade auch in ihrer Gegensätzlichkeit. Wie hätte ich werden können, wenn ich z.B. Juristin geworden wäre? Oder wie wäre ich als Off-Theater-Aktivistin? Oder wie als Mutter? Das Spannungspotenzial kommt aus dem Patchwork. Ich bin selber mit Geschwistern und Halbgeschwistern und verschiedenen Ehen der verschiedenen beteiligten Eltern aufgewachsen. Da gibt es viele Gemeinsamkeiten, aber genauso viel Konfliktpotenzial. In meiner Generation kenne ich kaum jemanden, der ebenfalls so aufgewachsen ist. Die Kinder meiner Freunde wachsen jedoch fast alle so auf.

Zu den Familienlegenden gehört das Tête-à-tête in der „Paris Bar“, als Hanna und der Architekt Peter Ramspeck ein Paar werden. Was macht diese Szene essenziell? Welcher Keim wird hier gelegt zwischen Ver- und Entzauberung?
Auch hier geht es um den Moment des Anfangs. Es ist der Anfang einer Liebe, eines verheißungsvollen gemeinsamen Weges. Um die beiden jungen Menschen herum tobt das Wiederaufbauversprechen von einer guten Zukunft. Von einem Land, das wie Phönix aus seiner Asche steigen will und dann doch nicht so hoch fliegen wird. Aber das weiß das junge Paar in der „Paris Bar“ noch nicht. Die Zeit steht still, und für einen Nachmittag scheint alles möglich. Daran wollen beide auch als Eltern weiter glauben. Ihre Töchter sollen mit diesem Wunsch aufwachsen.

Beim fehlenden Zimmer für Hanna in Peters Skizze von seinem „Architektenhaus“ denkt man gleich an Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“. Welchen Stellenwert hat dieser Essay für Sie? Und welchen Raum und welche Atmosphäre bevorzugen Sie zum Rollenlernen und Schreiben?
Virginia Woolf hat das Zimmer für sich allein vor so langer Zeit gefordert. Und immer noch ist es für wenige Frauen verfügbar. Ich finde den Gedanken sehr wichtig, dass jeder und jede in der Familie einen eigenen Raum braucht. Das ist in der heutigen Immobiliensituation nicht mehr so leicht zu erreichen. Genauso wichtig ist es aber auch, dass überhaupt ein Bewusstsein dafür besteht. In Hannas Umfeld denkt niemand, dass ein Raum für sie selbst wichtig wäre.

„Wie Hanna war meine Mutter eine Kulturenthusiastin.“

Hanna ist promovierte Germanistin und Slawistin – wie Ihre Mutter Johanne. Hat Hanna von Johanne auch den Enthusiasmus für ihr Metier?
Wie Hanna war meine Mutter eine Kulturenthusiastin. Bücher, Filme, Gemälde – alles konnte in ihr das Gefühl von Freiheit, Glamour und grenzenloser Ausgelassenheit hervorrufen. Das war für mich sehr ansteckend.

Wie haben Sie die Bücher und Theaterstücke ausgewählt, die Hanna beschäftigen? Hat Ihre Mutter auch am Sonntagvormittag mit Ihnen Puschkin gelesen?
Bei uns wurde am Sonntagmorgen gemeinsam gefrühstückt und nicht gelesen. Es sind Stücke, die ich selber gespielt habe und die mich sehr beschäftigt haben. Ich habe Salomé und Klytaimnestra in sehr konventionellen und texttreuen Aufführungen gespielt und hätte gern mehr aus den Figuren gemacht. Aber die Zeit ist jetzt reifer für ein anderes Erzählen klassischer Stoffe als noch vor einigen Jahren. Auch um diese Auseinandersetzung geht es im Buch. Die Erzählerin und Off-Theater-Aktivistin gerät in dieser Frage mit ihrer Schwester, einer erfolgreichen Filmschauspielerin, aneinander.

„Gedichte sind für Hanna Menschen, Gebäude, Orte, Länder – eigene Welten, die sie aus dem Alltag wegtragen.“

Was machen Gedichte so bedeutsam für Hanna?
Gedichte sind für Hanna Menschen, Gebäude, Orte, Länder – eigene Welten, die sie aus dem Alltag wegtragen, die ihr aber auch erlauben, sich mit dem Leben auf eigene Weise auseinanderzusetzen, besonders mit dem ansonsten Unausgesprochenen. In der Auseinandersetzung mit ihrem Vater sind Gedichte für sie eine Form der Bewältigung. Diese schwierige, sehr komplexe Auseinandersetzung prägt Hannas Leben bis zum Schluss. Ein Gedicht hat Rhythmus und Struktur, das kann ihr als sicherer Boden dienen.

In der Familienphase wirkt Hanna wie im fliegenden Rollenwechsel. Was muss sie unter einen Hut bringen und was verursacht die größte Zerreißprobe?
Hanna schreibt, und Hanna hat kleine Kinder – das passt nicht gut zusammen. Die Mutterrolle verlangt allergrößte Aufmerksamkeit für den Alltag. Die schreibende Hanna hingegen ist ausschließlich fokussiert auf Worte, Rhythmus und Sprachgefühl. Die reale Welt ist für sie dann fast unsichtbar. Dadurch wirkt sie auf die Kinder verrückt. Sie wissen ja nicht, dass ihre Mutter, während sie einkauft und Auto fährt, im Kopf auch noch am Schreibtisch sitzt und arbeitet.

Wer oder was hat eigentlich den stärksten Einfluss auf Hannas Leben?
Von den vielen Dingen, die Hanna geprägt haben, gibt es eines, das sie am allermeisten versucht, in ihren Geschichten auszulassen und zu umgehen: die dunkle Vergangenheit ihrer Eltern und aller anderen Erwachsenen, denen sie als junger Mensch begegnet; Hannas Kampf und Ringen mit ihrem grauenvollen, nicht zu überspielenden Erbe.

„Die eigenen Gedanken und Ideenwelten zum Maßstab zu machen, gibt ihr Mut.“

Was ist Hannas wichtigste Weichenstellung, um einen eigenen Weg zu wagen?
Es gibt keinen Weg, den sie in dieser Hinsicht wählen könnte. Irgendwann bricht ein innerer Sturm los, und sie verlässt die Familie. Das ist etwas sehr Abruptes, Energiegeladenes. Für Hanna wird eine Freundin, die als Künstlerin lebt, sehr wichtig. Allein die Beobachtung, dass ein Mensch nicht mehr versucht, bürgerlichen Anforderungen an das Leben gerecht zu werden, sondern die eigenen Gedanken und Ideenwelten zum Maßstab zu machen, gibt ihr Mut.

Wie entwickelt und verändert sich der Blick der jüngsten Tochter und Ich-Erzählerin auf Hanna?
Die Kleine kann Hanna endlich aus der Sicht der Erwachsenen betrachten. Am Ende hat sie die Perspektive der Tochter verlassen, die zu ihrer Mutter hochschaut und diese kopiert, kritisiert oder verantwortlich macht für alle Tragödien im eigenen Leben. Sie sieht nicht mehr die Mutter Hanna vor sich, sondern einen wundervollen, komplizierten, komplex beladenen, lustvollen Menschen.

Wie kamen Sie auf die Romangliederung in drei Teile? Welche Akzente setzen Sie jeweils?
Ich wollte das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern einteilen: Kindheit, Jugend und am Ende das schwer zu erreichende Ziel von Gleichzeitigkeit und Gleichberechtigung. Wie blickt ein Kind auf die Eltern, wie eine pubertierende Jugendliche, wie eine erwachsene Frau? Mir ging es um den Prozess, den die Tochter in ihrer Sicht auf die Mutter durchläuft, um die Frage, an welchem Punkt es ihr gelingt, sich in die Mutter hineinzuversetzen.

Ein wichtiges Motiv in Ihrem Roman sind Wurzeln. Was sind die wichtigsten Deutungen oder Vorstellungen Ihrer Romanfiguren und was gefällt Ihnen an dem Baumbild, das Hanna so geliebt hat?
Alle Figuren im Buch sind mit der Frage nach Heimat und Herkunft konfrontiert. Das Baumbild, von dem im Roman erzählt wird, ist abstrakt. Die Erzählerin erkennt nicht, wann es auf dem Kopf steht und wann nicht. Ist die Krone entscheidend für einen schönen Baum, für ein kraftvolles Leben? Oder sind es die Wurzeln? Die Erzählerin entscheidet sich, die Beantwortung dieser Frage nicht wichtig zu nehmen.