Wenn es um Verbrechen geht, ist Elisa Hoven ganz in ihrem Element: als Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig, als gefragte Expertin in den Medien und als Autorin. Nach dem Sachbuch „Strafsachen“ schrieb sie mit Juli Zeh das Kinderbuch „Der war’s“. Doch so eindeutig ist es fast nie, wie sie nun an den dramatischen Fällen in ihrem brillanten Debütroman „Dunkle Momente“ zeigt.

Ihre juristische Leidenschaft scheint Ihnen in die Wiege gelegt worden zu sein, Ihre Eltern waren beide Juristen. Wie sind Sie zwischen Paragrafen und Steuergeheimnissen aufgewachsen und wodurch ist der Funke von Ihren Eltern auf Sie übergesprungen?
Es ist ja ein verbreiteter Irrtum, dass Jura „trocken“ sein soll. Dabei ist das Gegenteil der Fall! In meiner Familie habe ich früh gesehen, welche spannenden Fragen sich stellen, wenn man sich mit dem Recht beschäftigt. Wir haben viel über Gesetze diskutiert, ob sie gerecht sind oder wie man sie verbessern könnte.

Wodurch wurde Ihre Mutter zu Ihrem Vorbild und wie prägt Sie das bis heute?
Meine Mutter war eine begeisterte Juristin, sie hat ein Finanzamt mit vielen Mitarbeitern geleitet und sich trotzdem immer die Zeit genommen, um mit mir zu diskutieren. Das hat mir immer imponiert – noch dazu in einer Zeit, wo es für Frauen nicht immer einfach war, Karriere zu machen, und in der die Kinderbetreuung noch selbstverständlicher als heute Frauen überlassen wurde.

Für Aufsehen als Schreibtalent haben Sie schon mit 18 gesorgt, und zwar als Sie 2001 den erstmals von der Stiftung Lesen ausgelobten Wettbewerb gewannen: mit einem Beitrag über Karl Philipp Moritz’ Roman „Anton Reiser“. Findet man da schon Indizien für Ihr ausgeprägtes Interesse an Psychologie und präziser Sprache?
Ich habe mich schon immer für Literatur und Sprache interessiert. Lange Zeit wollte ich Literaturkritikerin werden. Im ersten Semester habe ich parallel Vorlesungen in Jura und in Literaturwissenschaften gehört. Jura hat mich dann aber so begeistert, dass alles andere erst einmal vergessen war.

„Jede Tat hat eine Geschichte, und die wollte ich erzählen.“

Nach zahlreichen juristischen Veröffentlichungen und einem Sachbuch haben Sie jetzt Ihren ersten Roman veröffentlicht. Was hat Sie gereizt?
In den letzten Jahren habe ich mich mit sehr vielen Fällen beschäftigt, die mir nicht aus dem Kopf gegangen sind. Bei denen ich mich gefragt habe, was die Tat wohl mit den Menschen gemacht hat, wie sie das Leben der Opfer beeinflusst, und wie der Täter mit seiner Schuld umgegangen ist. Jede Tat hat eine Geschichte, und die wollte ich erzählen. Aus „A.“ und „B.“, wie die Täter in unseren juristischen Sachverhalten heißen, sollten echte Personen werden.

Was macht „Dunkle Momente“ zum perfekten Romantitel?
Der Roman erzählt gleich in zweifacher Hinsicht von dunklen Momenten. Da sind zum einen die Verbrechen, die ein Mensch meist in seiner schwächsten oder seiner schlechtesten Stunde begeht, in einem dunklen Moment. Aber auch die Hauptfigur Eva durchlebt dunkle Momente. Immer wieder überschreitet sie Grenzen, macht Fehler, weil sie ein dunkles Ereignis in ihrer Vergangenheit nicht loslässt.

Wie haben sich beim Romanschreiben die zwei Seelen in Ihrer Brust bemerkbar gemacht? Wie ergänzen einander da die Professorin für Strafrecht und die Autorin?
Die Geschichten hätte ich ohne meine Arbeit als Professorin nicht schreiben können. Denn viele der Fälle beruhen auf wahren Begebenheiten, und die Tücken des Rechts spielen nicht selten eine wichtige Rolle. Aber die Autorin in mir hat die Professorin auch immer wieder daran erinnert, dass sie einen Roman schreibt und keine Rechtsbelehrungen hören möchte!

„Die Strafverteidigerin kommt in viel engeren Kontakt zu den Menschen.“

Warum haben Sie Ihre Protagonistin Eva Herbergen nicht zur Staatsanwältin oder Richterin gemacht, sondern zur Strafverteidigerin?
Die Strafverteidigerin kommt in viel engeren Kontakt zu den Menschen. Sie vertritt die Beschuldigten, sie hört ihre Geschichten und ihre Gründe. Gleichzeitig ist ihre Rolle ambivalenter. Soll sie einen Freispruch für einen Mandanten erreichen, den sie für schuldig hält? Und zweifelt sie an sich, wenn es ihr nicht gelingt, einen Unschuldigen vor dem Gefängnis zu bewahren?

Was teilen Sie außer den Initialen noch mit Eva Herbergen? Welche Werte, Eigenheiten etc. hat sie mit Ihnen gemeinsam?
Wir lieben beide unsere Arbeit und nehmen sie auch mit in den Urlaub. Glücklicherweise haben Eva und ich wunderbare Ehemänner, die sich darüber zwar ein wenig beschweren, es aber letztlich doch tolerieren … Außerdem glauben wir beide an Gerechtigkeit – trotz allem.

Und worin besteht der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen und Eva Herbergen?
Eva ist disziplinierter als ich. Zum Joggen muss man mich schon zwingen. Außerdem gab es in ihrer Vergangenheit ein Ereignis, das sie sehr geprägt hat und das sie mit sich hadern lässt. Ihre Angst, einen früheren Fehler zu wiederholen, lässt sie unvorsichtig werden.

Mit welchen Stichworten würden Sie Eva Herbergen beschreiben?
Sie ist klug, involviert und engagiert, nachdenklich und zweifelnd, sie fühlt sich für andere verantwortlich, manchmal zu sehr.

„Einige der Geschichten beruhen auf echten Fällen.“

Haben die neun dargestellten Fälle reale oder fiktionale Ursprünge?
Einige der Geschichten beruhen auf echten Fällen. Sie waren ein Impuls, ich habe sie aber anders erzählt, ihnen eine neue Wendung gegeben oder einen anderen Hintergrund.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Auswahl der dargestellten Fälle getroffen? Wie wichtig waren Ihnen dabei die Aktualität und Relevanz für unsere Gesellschaft?
Für mich waren vor allem zwei Punkte entscheidend: Sind die Fälle spannend und fordern sie die Leser:innen heraus? Ich erzähle Geschichten, deren Ende man nicht vorhersieht. Wenn man meint zu wissen, was geschehen ist, kommt es doch anders. Gleichzeitig sollen sich die Leser:innen die Frage stellen, was sie für gerecht halten und was nicht, und wie sie wohl selbst gehandelt hätten.

Gerade in scheinbar aussichtslosen Fällen fühlt sich Eva gefordert. Was treibt sie an? Was ist ihr oberstes Ziel?
Eva kämpft für ihre Mandanten. Sie weiß, wie einschneidend eine Verurteilung sein kann und möchte ihnen die Strafe ersparen. Dabei treibt sie ein Fehler an, den sie in der Vergangenheit gemacht hat. Das ist der Grund, weshalb sie oft zu weit geht, moralische und rechtliche Grenzen überschreitet, sich manipulieren lässt.

„Eva sieht den Menschen hinter der Tat.“

Was ist das Besondere an Evas Blick auf die einzelnen Fälle und Angeklagten?
Eva sieht den Menschen hinter der Tat. Ihre Arbeit hat ihr gezeigt, dass jeder von uns mehr ist als sein dunkelster Moment – auch ein Mörder. Sie verurteilt nicht schnell, sie versucht zu verstehen. Und sie ist überzeugt davon, dass jeder eine gute Verteidigung verdient.

Eva scheut bei ihren detektivischen Recherchen keinen Aufwand. Wie sind ihre teilweise unkonventionellen Methoden einzuordnen?
Sie tut mehr, als eine Anwältin tun müsste – oder tun sollte. Ihr Mann Peter weist sie immer wieder darauf hin, aber Eva kann nicht anders …

Mit außergewöhnlichem Einsatz hat Eva viele schwierige Prozesse gewonnen. Warum hinterfragt sie diese Erfolge immer mehr?
Denken Sie an den Fall „Salz“. Eva hat das Verfahren in „Salz“ zwar „gewonnen“, aber ihr Ehrgeiz hat ihr den Blick dafür verstellt, was ihre Mandantin eigentlich gebraucht hätte. Eva stellt sich immer öfter die Frage, ob sie die Dämonen ihrer Vergangenheit überwinden und ihrer Arbeit als Verteidigerin noch gerecht werden kann.

„Eva bewegt sich immer wieder in Grauzonen.“

Inwiefern bewegt sich Eva auf einem schmalen Grat?
Eva bewegt sich immer wieder in Grauzonen. Sie verhindert nicht, dass einem jungen Mann Unrecht geschieht, sie hilft dabei, eine Straftat zu verdecken, sie benutzt die Presse, um einen Freispruch zu erreichen. Am deutlichsten überschreitet sie die Grenzen dessen, was rechtlich und moralisch richtig ist, in „Leben lassen“ und später in „Das Geständnis“. Dieser Fall veranlasst sie, sich endlich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Was ist für Sie persönlich das Faszinierende an unserem Rechtssystem?
Am meisten faszinieren mich die ganz grundlegenden Fragen, vor die uns die Beschäftigung mit dem Recht stellt. Im Strafrecht verhandeln wir wesentliche Werte unserer Gesellschaft. Wo liegen die Grenzen unserer Freiheit, welche Normen sind so wesentlich, dass ihre Verletzung mit Strafe bedroht ist? Am Ende eines Strafverfahrens soll ein gerechtes Urteil stehen. Doch nicht um jeden Preis: Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit können in ein Spannungsverhältnis treten. Was überwiegt, und weshalb?

Gibt es auch einen Aspekt an unserem Rechtssystem, der Sie persönlich frustriert?

Frustrierend ist, wenn der Justiz die Kapazitäten fehlen, um Strafverfahren konsequent und zügig zu führen. Und wenn Urteile für die Öffentlichkeit nicht verständlich sind, zum Beispiel wenn Strafen zu milde erscheinen und nicht gut erklärt werden. Dann entsteht schnell das Bild einer schwachen Justiz; dabei können wir mit unserem Rechtssystem in Deutschland ziemlich glücklich sein.

Von Anfang an bringen Sie immer wieder die Medien ins Spiel. Wie schätzen Sie deren Einfluss auf die Rechtsprechung und einzelne Jurist:innen sowie auf die Bildung der öffentlichen Meinung ein?
Die Medien spielen vor allem eine Rolle bei der Strafgesetzgebung. Häufig werden Änderungen erst dann von der Politik umgesetzt, wenn die Medien Druck gemacht haben. Und für die öffentliche Wahrnehmung der Justiz und auch von Kriminalität sind die Medien entscheidend. Studien haben gezeigt, dass die Kriminalitätseinschätzung eines Menschen nicht von den tatsächlichen Zahlen abhängt, sondern davon, wie viele und welche Medien er konsumiert.

„Eine „reine“ Wahrheit gibt es häufig nicht …“

Ist die reine Wahrheit in jedem Fall das Erstrebenswerteste? Antwortet da die Juristin anders als die Autorin?
Eine „reine“ Wahrheit gibt es häufig nicht, denn unsere Wahrnehmungen und unser Erleben sind unterschiedlich. Manchmal wird der Täter selbst nicht mit Gewissheit sagen können, welche Gründe ihn geleitet haben, ob er den Tod eines anderen in Kauf genommen hat oder nicht. Aber natürlich: Im Strafverfahren muss es darum gehen, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Außerhalb des Gerichtssaals kann das anders aussehen. Ich habe zum Beispiel Evas Entscheidung im Fall „Nachlass“ gut verstehen können.

Gibt es den perfekten Mord? Warum hängt von dieser im achten Fall aufgeworfenen Frage so viel Entscheidendes für Eva ab?
Es gibt gewiss unzählige Morde, die nie entdeckt oder nie aufgeklärt wurden. Manche Täter werden ihre Verbrechen minutiös geplant haben, anderen half einfach der Zufall. „Perfekt“ ist sicher kaum eine der Taten, eine Schwäche hat fast jede Lüge und die meisten Menschen machen Fehler – selbst der Mörder in meinem achten Fall. Eva kann den scheinbar perfekten Mord nicht akzeptieren, schließlich war sie, ohne es zu ahnen, selbst die entscheidende Figur in diesem Spiel.

Was ist die größte und vielleicht schmerzhafteste Herausforderung, der sich Eva stellen muss?
Eva muss sich den Erinnerungen an Stefan Heinrich stellen. Der Fall ist für sie schmerzhaft, weil sie sich die Schuld an dem gibt, was damals geschehen ist. Die Bilder von damals begleiten sie seitdem.

Natürlich ohne zu viel zu verraten: Sehen Sie den Schluss Ihres Romans als Triumph für Recht und Gerechtigkeit?
Die Gerechtigkeit bekommt am Ende zumindest eine Chance. Aber Eva muss dafür ein weiteres Mal zu zweifelhaften Mitteln greifen.