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Weibliches Empowerment pur! Heike Specht, Literaturwissenschaftlerin, „Deutschlands lässigste Historikerin“ (Micky Beisenherz) und preisgekrönte Autorin, ist bekannt für ihre akribisch recherchierten, brillant erzählten Lebensgeschichten außergewöhnlicher Frauen. Bekannt für biografische Glanzstücke über Pionierinnen wie „Die Frauen der Familie Feuchtwanger“ und „Die Ersten ihrer Art“, ermutigt sie nun in ihrem Debütroman „Die Frau der Stunde“, auf die eigenen Stärken zu vertrauen und Chancen zu ergreifen.
Zeitgeschichte und gesellschaftliche Verhältnisse erzählen Sie am liebsten an Biografien entlang. Warum?
Über konkrete Leben lässt sich so vieles, was sonst vielleicht abstrakt und theoretisch bleibt, in großer Vielfalt einfangen und erzählen. Eine Zeit wird auf einzigartige Weise lebendig, wenn man in eine pralle Biografie eintaucht: Lebensgefühl, Musik, Mode, aber eben auch Politik. Und die große Geschichte wird spürbar.
Was weckte Ihre Lust, mit Ihrem Debütroman erstmals Ihre Heldinnen selbst zu erschaffen?
In den letzten Jahren habe ich mich mit so vielen realen, herausragenden Frauen beschäftigt – von Simone Veil und Margaret Thatcher bis Angela Merkel, Annalena Baerbock bis Jacinda Ardern. Sie alle haben meine Fantasie angeregt und mich inspiriert. Ich bin ja in der Bonner Republik aufgewachsen und habe mich plötzlich gefragt: Was wäre passiert, wenn durch einen politischen Zufall schon viel früher eine Frau von der zweiten in die allererste Reihe gerutscht wäre? Wie hätten die Herren, wie hätten die Deutschen reagiert? Wie hätte sie den Bonner Männerladen aufgemischt?
Ihr Roman spielt in den Jahren 1978/1979. Was macht es für Sie spannend, diese Zeit lebendig werden zu lassen?
Diese Phase fasziniert mich aus verschiedenen Gründen. Im Iran reißt eine islamistische Bewegung die Macht an sich, der Kalte Krieg ist eingefroren, in der Bundesrepublik werden die Bürgerinnen und Bürger erwachsen, engagieren sich wie nie zuvor. Mit den Grünen betritt eine neue politische Kraft die Bühne. Frauen werden sichtbarer, öffentlicher, lauter.
„Sie fällt stets auf wie ein Einhorn in einer Mustangherde.“
Wer ist Ihre Titelheldin Catharina Cornelius?
Catharina ist eine sehr unabhängige Frau und genau das bringt sie immer wieder schwer in die Bredouille, denn als Politikerin ist sie natürlich allen möglichen Erwartungen und Zwängen unterworfen. Sie ist unverheiratet, sie hat keine Kinder, sie lebt für ihren Job, sie hat ein – sagen wir mal – unorthodoxes Liebesleben, in einer Männerwelt fällt sie stets auf wie ein Einhorn in einer Mustangherde. Sie meistert das alles mit einem manchmal fast schon aufreizenden Selbstbewusstsein, Humor, vielen Zigaretten und einer unschlagbaren Truppe an Freundinnen und Weggefährtinnen.
Ihren ersten Auftritt im Roman hat Catharina mit ihrer Clique. Wer sind diese wichtigsten Frauen in ihrem Leben?
Ihre Freundinnen aus Internatszeiten, Azadeh und Suzanne, sind ihre wichtigsten Begleiterinnen. Azadeh stammt aus dem Iran und brennt darauf, das Land nach der Flucht des Schahs mitzugestalten. Die Belgierin Suzanne ist Bonn-Korrespondentin und hilft Catharina immer wieder aus der Patsche, versorgt sie mit wichtigen Infos. Im politischen Betrieb hat Catharina mit der Grande Dame der Partei, Hilde von Rochow, eine mächtige Verbündete. Ihre Büroleiterin Sieglinde hat einen starken Beschützerinstinkt und versucht, alle Unbill von ihr fernzuhalten. Ihre unscheinbare Referentin Juliane schließlich wird als ihr Fangirl verunglimpft.
Als Politikerin ist Catharina keine Einzelkämpferin. Wie gelingt es ihr, die Frauen um sich herum zu Verbündeten zu machen und wie bewährt sich das Netzwerk?
Die Frauen in ihrer Umgebung erkennen, dass sie eine von ihnen ist, und Catharina sieht sich, bei allem persönlichen Ehrgeiz, auch so. Catharina muss es quasi für sie alle schaffen. Gerade Hilde von Rochow, die die Partei und sämtliche ihrer Platzhirsche mit all ihren Schwächen in- und auswendig kennt, coacht ihren Schützling – Ehrensache und ein bisschen auch Revanche für Schläge, die sie im Laufe ihrer eigenen Karriere einstecken musste.
Catharinas jüngste Mitarbeiterin Juliane Birkel wird von vielen gewaltig unterschätzt. Was ist das Debakel der Prädikatsjuristin?
Juliane sucht ihren Weg. Sie ist die Tochter eines mächtigen konservativen Richters, der unbedingt ans Verfassungsgericht berufen werden will. Der übermächtige Vater sieht es gar nicht gern, dass Juliane für die progressive Politikerin arbeitet. Sie steht zwischen den politischen Lagern. Im Roman sehen wir, wie sie sich emanzipiert, doch sie wird auf eine schwere Probe gestellt.
„Bonn … ganz überwiegend ein Männerladen.“
Wer oder was prägt die politischen Verhältnisse, in denen sich Catharina Cornelius und ihre Kolleginnen behaupten?
Bonn ist in den späten 70ern noch ganz überwiegend ein Männerladen. Männliche Politiker machen Politik vor allem für Männer, männliche Journalisten erklären Politik, wiederum ganz überwiegend für ein männliches Publikum. Catharina Cornelius gehört zu einer Generation Politikerinnen, die einen neuen Stil mitbringen und natürlich erstmal überall anecken. Aber mit viel Chuzpe, Witz und eben einigen starken Verbündeten gelingt es ihr immer wieder, den einen oder anderen Punktsieg zu erlangen.
Welche Ihrer Romanfiguren haben das vielversprechendste feministische Potenzial?
Am radikalsten und mutigsten ist sicher Azadeh. Die Iranerin erkennt die Chance, die sich für ihr Land ergibt, als der verhasste Schah endlich weg ist. Aber die Revolution wird sehr schnell von Kräften gekapert, die die Frauen unter den Schleier zwingen und aus der Öffentlichkeit verbannen wollen.
Catharina ist bereit, die Gunst der Stunde zu nutzen und wird Aussenministerin. Sie macht sich angreifbar, stellt sich ins Licht. Auch das ist mutig und die Charakterzüge, die sie dabei erkennen lässt, sind nicht durchgängig sympathisch. Wir können ihr durchaus dabei zusehen, wie die Macht sie verändert.
„Macht macht sexy!“
Was macht Catharina Cornelius zur „Frau der Stunde“?
Catharina Cornelius greift nach dem Zipfel der Macht, der sich ihr in einer absoluten Ausnahmesituation bietet. Und sie erkennt auch, dass für sie und die Frauen insgesamt viel auf dem Spiel steht. Wenn sie es vergeigt, heißt es: Die Frauen können es eben nicht. Catharina ist aber für mich auch die Frau der Stunde, weil sie für einen neuen Frauentypus steht, der in den 1970ern aufkommt. Eine Frau, die sich nimmt, was sie haben möchte. Das gilt nicht nur für die Karriere, sondern auch fürs Privatleben. Catharina macht eine ziemlich prickelnde Erfahrung, die lange Männern vorbehalten war: Macht macht sexy.
Was treibt Catharina im Innersten an, in den politischen Ring zu steigen und sich an die Spitze vorzuwagen?
Sie hat in der Schweiz das Internat besucht, hat in Paris und New York studiert, sie bringt etwas mit, was es in der deutschen Politik damals nicht so häufig gibt: Weltläufigkeit. Sie will das Land moderner, liberaler machen, möchte der etwas biederen Republik frischen Wind zufächeln. Aber klar ist auch, dass sie den Ehrgeiz hat, sich gegen männliche Konkurrenz durchzusetzen. Sie will das politische Spiel durchschauen und nach ihren eigenen Regeln spielen.
Ihren Roman könnte man als Hommage an außergewöhnliche Frauen verstehen. Wie würden Sie es selbst nennen?
In meinem Buch geht es um Freiheit. Um Frauen, die sich Freiheit nehmen, um den Preis, den sie dafür zahlen, aber auch das umwerfende Gefühl, die Geschichte in die eigene Hand zu nehmen. In gewisser Weise ist der Roman natürlich auch ein Bonner Schlüsselroman. Leserinnen und Leser, die sich selbst an diese Zeit erinnern, werden einiges wiedererkennen. Für jüngere Leserinnen und Leser sind die Ereignisse historisch, aber zugleich werden sie merken, dass viele Probleme, mit denen sich Catharina & Co. rumschlagen, heute noch nicht gelöst sind. Die Frauen im Iran stecken noch immer in einem System der Geschlechterapartheid. In Politik und Gesellschaft gilt hierzulande für Männer und Frauen allzu häufig auch heute noch ein niederschmetternder Double Standard.


