Wohin driftet Deutschland? Wer und was spaltet unsere Gesellschaft? Um die drängenden Fragen unserer Zeit zu diskutieren, trafen sich zwei profilierte Verfechter unserer bedrohten Demokratie zum mehrtägigen Gesprächsmarathon: der Politiker Bodo Ramelow (BR), seit 1990 im Osten Deutschlands engagiert und bis 2024 Ministerpräsident in Thüringen, und Ilko-Sascha Kowalczuk (IK), der „Punk unter den Historikern“ (FAZ), einer der besten Kenner der DDR-Geschichte und des Vereinigungsprozesses. Gemeinsam beleuchten sie die Perspektiven unserer Demokratie.
Was verbindet Sie mit Herrn Kowalczuk?
BR: Ich kannte Herrn Kowalczuk als Historiker und messerscharfen Analytiker. In seinen Veröffentlichungen spürte ich eine Klarheit und Tiefe, die mich neugierig gemacht hat. Mit meiner Partei geht er hart ins Gericht, aber einigen Argumenten konnte ich mich nicht verschließen. Das hat mich neugierig gemacht.
Was veranlasste Sie zu Ihrer spontanen Zusage zu diesem Buchprojekt in Form eines Marathongesprächs?
IK: Ich lese selbst solche Gesprächsbände sehr gern. Außerdem war ich gespannt, wie ich mit Bodo Ramelow zurechtkomme. Ich schätze ihn außerordentlich, die Partei, in der er lange Mitglied ist, eher weniger, weil ich in ihr immer noch viel PDS, aber auch so manches von der SED sehe.
BR: Die Klarheit und auch Schärfe, mit der Herr Kowalczuk seine Positionen vertritt, hat mich neugierig auf unsere Gespräche gemacht und ehrlich gesagt: Ich wurde nicht enttäuscht. Es war anstrengend, manchmal auch hart, aber eine positive Herausforderung für den Geist. Argumente im Austausch, die es lohnenswert gemacht haben, jedes Wort zu durchdenken.
„Dabei entstand bei mir eine neue Bewertung.“
Welche unterschiedlichen Prägungen und biografischen Erfahrungen machen Ihren Diskurs spannend für Sie?
BR: Die Innensicht eines in der DDR sozialisierten Menschen, der die Kraft hatte, die Zwänge des Systems zu durchschauen und sich an den Druck-Mechanismen abgearbeitet hat. Der die Erfahrungen der DDR nicht verleugnet, nicht glorifiziert und auch nicht wie eine Monstranz vor sich herträgt. Daraus konnte ich einen persönlichen Mehrwert ziehen, denn ich habe meine Westsozialisation damit abgleichen und mein Bild von der DDR kritisch überprüfen können. Dabei entstand bei mir eine neue Bewertung, auch eine Neubewertung manch eigener Nachwende-Erfahrungen.
IK: Mich reizte nicht so sehr das „berühmte“ Ost-West-Ding, sondern die Kombination von Politiker mit großer Verantwortung und kritischem Betrachter. Ich hoffte so, auch neue Einblicke zu gewinnen, um besser verstehen zu können.
Was alarmiert Sie am deutsch-deutschen Gesellschaftsklima zurzeit am meisten?
BR: Die Härte, Schärfe und die Geschwindigkeit, mit der Ost und West wieder auf Distanz gehen, sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen.
IK: Mich alarmiert am meisten, dass der Faschismus in unserem Land und in Europa auf dem Vormarsch ist, dass Meinungen als Fakten ausgegeben werden, dass der Hass blüht, dass Wissenschaft immer stärker verächtlich gemacht wird, dass Demokratie und Freiheit extrem bedroht sind.
„Der ,Aufbau Ost‘ als ,Nachbau West‘ ist und bleibt ein Irrtum.“
In den Fokus rücken Sie den Osten Deutschlands. Warum?
IK: In Ostdeutschland können wir Entwicklungen beobachten, die hier schneller, radikaler und früher verlaufen als anderswo. Für mich ist Ostdeutschland wie ein Abbild dessen, was sich mit zeitlicher Verzögerung auch anderswo zuträgt – das ist seit 20, 25 Jahren so.
BR: Einerseits lebe ich seit 35 Jahren im Osten und begleite aktiv die politische Entwicklung. Andererseits spüre ich die verpassten Chancen, aus den Transformationen in Ost und West, etwas Gemeinsames, Neues entstehen zu lassen. Der „Aufbau Ost“ als „Nachbau West“ ist und bleibt ein Irrtum.
Wie kamen Sie auf den Buchtitel „Die neue Mauer“? Wo und wie manifestiert sich diese Mauer am deutlichsten?
BR: Als Autoren haben wir uns daran gerieben. Uns kam es zu platt vor. Die Entscheider im Verlag hatten mehrere Vorschläge nebeneinandergestellt und spontan war deren Empfehlung sehr eindeutig. Tatsächlich waren die vorliegenden Texte aus dem Gespräch Ausgangspunkt für den Titel. Es geht am Ende um neue Mauern in den Köpfen und Herzen.
IK: Im Osten ist das, was oft der rechtsradikale Rand genannt wird, Teil der so genannten Mitte. Hier gehört Rassismus zu einer erschreckenden, massenkompatiblen Alltäglichkeit, was im Westen noch zu bemänteln versucht wird.
Herr Kowalczuk, welche Altlasten kommen bei der Entstehung der neuen Mauer zum Tragen?
IK: Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, Autoritarismus – es war durch die Zeit im Osten immer präsent – also auch vor 1989, vor 1933 und hat sich seit 1990 immer stärker offen aufgebaut.
Herr Ramelow, was wäre Ihre Vision jenseits der neuen Mauer?
BR: Aus der Ostsozialisation vom kollektiven „Wir“ zu einem handlungsfähigen „Ich“ zu gelangen, Streit als Chance zu spüren und nicht als Störung der vermeintlichen Harmonie und das Selbsterreichte selber als Wert zu erkennen und dem allgemeinen Genöle zu entfliehen.
„In der Unterschiedlichkeit liegt eine große Chance.“
Sie nehmen den Verlauf der Wiedervereinigung noch mal genau unter die Lupe. Warum?
BR: Weil in der Unterschiedlichkeit eine große Chance liegt und weil das Verschiedene ein Reichtum ist.
IK: Um unsere Gegenwart zu verstehen, müssen wir historische Zusammenhänge erklären. Was sich heute abspielt, hat Ursachen im Gestern, im Vorgestern und noch länger zurückliegend. Es gibt nicht die eine Ursache, sondern immer Ursachenbündel mit unterschiedlichen historischen Dimensionen – eine mit vielfältigen, die Gegenwart mitbestimmenden Ereignissen und Prozessen war die Transformation seit 1990.
Was war für die Menschen aus der DDR die größte Zäsur oder tiefgreifendste Veränderung durch die Wiedervereinigung?
IK: Das war der 1. Juli 1990, als die DM eingeführt worden ist. An diesem Tag änderte sich alles radikal, egal, ob es jemand wollte oder nicht. Der Osten wurde nun ganz anders – aber das war von etwa drei Viertel aller Menschen so gewollt damals – von mir übrigens nicht, ich wählte dagegen.
BR: Jeder Bürger der DDR weiß, wann die DDR weg war – egal ob er sie gehasst oder geliebt hat. Die Brüder und Schwestern im Westen wissen nicht so genau, wann die alte BRD verschwand. Der Prozess war schleichend.
„Ich halte von diesen ,Befindlichkeiten‘ nicht viel.“
Was macht die „Befindlichkeiten Ost-West“ zum großen Thema für Sie?
BR: Die Vorurteile, die mittlerweile wieder im wechselseitigen Umgang gegeneinander genutzt und bedient werden. Vom „Faulen Ossi“ und „Arroganten Wessi“, zu „Die Mauer muss wieder her, aber noch höher!“ (diesmal von West) und „Der Westen ist an allem Schuld oder die Ausländer“. Alles Chiffren für eine latente und laute Unzufriedenheit. Es sind gefährliche Vorurteile, die das Erreichte hinter dem Erhofften verschwinden lassen. Gift für ein gedeihliches Miteinander!
IK: Ich halte von diesen „Befindlichkeiten“ nicht viel. Als Ostler lebte ich viel im Westen, ich fühle mich nicht als Ostler, sondern als Berliner, als Prenzlauer Berger, als Friedrichshagener. Ich komme überall mit Menschen klar, kann die meisten sehr gut leiden, allerdings meist nur an meinem Schreibtisch in aller Frühe, wenn alles schläft und ich noch keine Nachrichten gehört habe.
Was war in Ihrem Diskurs das strittigste Thema und wie sind Sie mit dem Konflikt umgegangen?
BR: Die Bewertung meiner Partei. Wir haben uns dazu unterhalten und Differenzen, die bestehen, sichtbar gemacht.
„Ohne Freiheit ist alles andere nichts.“
Welche Perspektiven hat unsere Demokratie?
IK: Ich bin pessimistisch und wähne uns am Beginn einer autoritären Epoche im Westen, dagegen kämpfe ich mit meinen Mitteln an: als Historiker, Publizist und vor allem als Bürger. Für mich gibt es nichts Wichtigeres als Freiheit – ohne Freiheit ist alles andere nichts.
BR: Ich bin überzeugt, dass mehr direkte Demokratie mit Bürgerbegehren und Volksabstimmungen ein wesentlicher Impuls für unsere Demokratie ist. Dass der Artikel 146 des Grundgesetzes bis heute nicht umgesetzt wurde, halte ich für einen schweren Fehler –und Herr Kowalczuk hat zu Recht auch auf die Artikel 4 und 5 des Einigungsvertrages hingewiesen. Darin war der Weg aufgezeichnet.
Eines der letzten Kapitel steht unter dem Motto „Zukunft gestalten“. Wie lautet Ihre wichtigste Ermutigung?
BR: Den Einigungsvertrag ernst nehmen und als Vertrag für die ganze Bundesrepublik Deutschland endlich als einen umzusetzenden Auftrag angehen.
IK: 2024 schrieb Wolf Biermann zum vierten Mal das Lied „Ermutigung“. Darin heißt es: „Die finsteren Zeiten gehen vorbei/am Ende nämlich der Diktatur/schlägt ihr die Stunde der Weltenuhr.“ Das ist die Quintessenz der Geschichte – Wolf Biermann widmete mir das Lied, die größte Ehre meines Lebens.
Aus dem Jahr 1986 stammt Rio Reisers bekannter Satire-Song „König von Deutschland“. Was wären heute Ihre wichtigsten Taten in dieser Position?
IK: Ich würde das Königtum abschaffen, vorher aber noch die Abschaffung von Privilegien, die der Rassismus als Herrschafts- und Unterdrückungsform gewährt, verfügen.
BR: Ich verehre Rio Reiser, aber ich kann mit Königen nichts anfangen. Aber mit Rios „Keine Macht für niemand“ umso mehr.


