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Zum Weltstar wurde Isabel Allende 1982 mit ihrem Debütroman „Das Geisterhaus“. Seither glückt ihr ein Bestseller nach dem anderen, darunter „Paula“ und „Was wir Frauen wollen“. Nun bringt sie uns in ihrem aktuellen Roman „Der Wind kennt meinen Namen“ zwei ergreifende Kinderschicksale nahe – Erfahrungen von Flucht und Verlust, wie die Autorin sie selbst erlitten hat: Als sie nach dem Putsch 1975 ihre chilenische Heimat verlassen musste, nahm sie einen Beutel Erde mit, um darin in der Fremde Vergissmeinnicht zu pflanzen.
Was hat es für Sie zur Herzensangelegenheit gemacht, Ihren aktuellen Roman zu schreiben?
Ich habe eine Stiftung, die eng mit Einwanderern an der Grenze zusammenarbeitet. Da ich selbst ein Flüchtling und Einwanderer bin, kann ich die Notlage der Vertriebenen gut nachvollziehen. Die Zahl der verzweifelten Menschen, die aufgrund von Krieg, Kriminalität und Armut aus ihren Herkunftsländern fliehen müssen, nimmt zu. Die Weltgemeinschaft muss Lösungen finden. Mauern und Kugeln sind nicht die Antwort.
Sie glauben an das „Wunder der Literatur“. Was hat es damit auf sich und wie wirkt es?
Bücher haben eine große Reichweite und überdauern den Lauf der Zeit besser als Journalismus und andere Medien. Manche Geschichten haben die Macht, die Meinung des Lesers zu ändern, und manchmal können sie die Gesellschaft beeinflussen. Ich denke da zum Beispiel an Onkel Toms Hütte, das die Schrecken der Sklaverei in den Vereinigten Staaten aufdeckte.
Wie haben Sie die Kinderschicksale von Samuel im Jahr 1938 und Anita im Jahr 2019 ausgewählt?
Beide Geschichten ähneln sich, obwohl sie sich auf verschiedenen Kontinenten und achtzig Jahre voneinander entfernt ereignet haben. Die Tragödie ist für beide Kinder die gleiche.
„Ein Mensch, der für seine Überzeugungen einsteht …“
Ein bewegendes Beispiel für Ihre tiefgründigen Charaktere ist Theobald Volker. Was verkörpert er für Sie? Was ist für Sie seine schönste Geste?
Er verkörpert den Menschen, der für seine Überzeugungen einsteht, zutiefst menschlich, mutig und großzügig. Während andere in die Mob-Mentalität verfallen, riskieren diese einzigartigen Menschen ihr Leben, um anderen zu helfen.
Samuels Mutter Rachel muss die wohl schwerste Entscheidung ihres Lebens treffen. Welches Dilemma bricht Ihr fast das Herz?
Für Rachel ist es die schrecklichste Entscheidung, ihr einziges Kind loszulassen. Sie muss diese Entscheidung treffen, um Samuels Leben zu retten. Einige Flüchtlingseltern müssen heute das Gleiche tun. Tausende von Kindern kommen allein an der Südgrenze der Vereinigten Staaten an.
„Musik – eine Zuflucht, ein treuer Begleiter.“
Das Einzige, was Samuel aus seiner vertrauten Kindheitswelt retten kann, ist seine geliebte Geige. Worin sehen Sie die Bedeutung des Instruments und der Musik für ihn?
Musik ist für Samuel das, was das Schreiben für mich ist. Es ist eine Zuflucht, ein Schutz, ein treuer Begleiter. Die Stunden, die er mit dem Musizieren verbringt, sind die glücklichsten in seinem Leben.
Samuels Lebensweg verfolgen Sie von 1938 in Wien über England bis in die USA um 2020. Worum geht es Ihnen bei diesem großen geografischen und zeitlichen Bogen?
Ich habe mehrere historische Romane geschrieben. Ich recherchiere und schreibe gerne über die Vergangenheit. Wenn ich die Vergangenheit kenne, kann ich die Gegenwart verstehen und mir die Zukunft vorstellen. In den 40 Jahren, in denen ich schreibe, habe ich gelernt, dass geografische und zeitliche Unterschiede keine Rolle spielen. Die menschlichen Gefühle sind immer und überall die gleichen.
„… einem Leben nach dem anderen helfen.“
Bestimmt hatten Sie Mädchen wie Ihre Protagonistin Anita im Blick, als Sie Ihre „Isabel Allende Foundation“ ins Leben riefen. Welche Hoffnungen und Ziele verbinden Sie mit Ihrer Stiftung?
Das Ziel meiner Stiftung ist die Stärkung von Frauen und Mädchen in den Bereichen Bildung, Gesundheit (einschließlich reproduktiver Rechte) und Schutz vor Gewalt. Wir hoffen, dass wir einer Person nach der anderen, einem Leben nach dem anderen helfen können.
Wie Ihre Hauptfiguren Anita und Samuel mussten auch Sie selbst Ihre Heimat in schweren Zeiten verlassen und 1975 von Chile nach Venezuela fliehen. Wie ist diese Erfahrung in Ihren Roman eingeflossen?
Eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens war es, Chile zu verlassen und an einem anderen Ort ganz neu anzufangen. Auch für meine Kinder war es sehr schwer. In mehreren meiner Bücher habe ich über die Erfahrungen von Einwanderern geschrieben, weil ich sie nur zu gut kenne.
Welches reale Vorbild hat Anita?
Die Inspiration für Anita war ein kleines Mädchen namens Juliana, das an der Grenze von seiner Mutter getrennt wurde. Sie waren acht Monate lang getrennt, wurden schließlich wieder zusammengeführt und sofort abgeschoben. Wir haben sie in Mexiko aus den Augen verloren und konnten nie mehr über sie herausfinden.
Was macht die Situation des Mädchens besonders tragisch?
Juliana war ebenso wie Anita blind.
Wie typisch sind die Erfahrungen von Anita für Flüchtlingskinder?
Ich habe Anitas Reaktionen auf das Trauma auf die allgemeinen Erfahrungen von Kindern in dieser Situation gestützt. Es gibt eine Menge Untersuchungen dazu, und ich hatte Hilfe von Leuten, die direkt mit Flüchtlingskindern arbeiten.
Anita wäre wahrscheinlich völlig verloren ohne Menschen wie Selena Durán. Hat diese Sozialarbeiterin reale Vorbilder? Welchen Typus von professionellen Helfer:innen haben Sie bei Ihren Recherchen kennengelernt?
Die Recherche für dieses Buch fiel mir leicht, weil ich über meine Stiftung mit Organisationen in Kontakt stehe, die mit Flüchtlingen arbeiten. Ein paar Sozialarbeiter des Florenz-Projekts und kostenlose Anwälte von „Kind“ (Kids in Need of Defense) inspirierten Selena und Frank.
„Ein Bewältigungsmechanismus: ein unsichtbarer Freund.“
Was bewahrt Anita davor, an ihren schrecklichen Erfahrungen zu zerbrechen? Welche wichtige Schutzreaktion entwickelt sie und wie charakteristisch ist das für Kinder in ihrer Situation?
Viele Flüchtlingskinder, die von ihren Familien getrennt wurden, sind traumatisiert, sie nässen ins Bett, hören auf zu sprechen oder zu essen, sie entwickeln sich altersmäßig zurück usw. Einer der Bewältigungsmechanismen ist die Erfindung eines unsichtbaren Freundes (das kann auch ein unsichtbares Haustier sein) oder eines imaginären Ortes, an dem sie sich sicher fühlen können.
Sie geben Anita eigene Kapitel als Erzählerin – mit eigener Stimme. Wie haben Sie die Worte gefunden und wie die Tonlage? (Wie haben Sie herausgefunden, wie Kinder in ihrer Lage das eigene Schicksal in Worte fassen bzw. verstummen?)
Ich bin von Kindern umgeben; es war nicht schwer, mir vorzustellen, wie Anita sprechen würde. Auf Spanisch habe ich versucht, ihr den Akzent ihres Landes, El Salvador, zu geben.
Was erfüllt den betagten Samuel mit Zuversicht? Und welche Hoffnung haben Sie selbst?
Samuel ist 86 Jahre alt. Ich bin 81. Wir haben lange genug gelebt, um zu wissen, dass, egal wie düster die Welt auch aussehen mag, die Dinge besser werden. Die Menschheit entwickelt sich weiter. Wir machen keinen Rückschritt.
Wie ist Ihr Romantitel „Der Wind kennt meinen Namen“ gemeint?
Kinder in Haftanstalten und Heimen erhalten eine Nummer, um sie zu identifizieren und im Auge zu behalten, denn sie werden oft verlegt. Anita aber ist überzeugt, dass die Winde ihre Namen ganz sicher kennen.
„Ich vertraue meinem Herzen, um zu sehen, was die Augen nicht sehen können.“
Am Anfang und am Ende Ihres Romans zitieren Sie Saint-Exupéry. Wie prägt er über die Literatur hinaus Ihren Blick auf das Leben?
Ich schreibe über Beziehungen und Bewegungen. Für mich ist das meiste, was passiert, subjektiv. Ich vertraue meinem Herzen, um zu sehen, was die Augen nicht sehen können.