Jackie Thomae macht auf einzigartige Weise zu Literatur, was uns im Innersten bewegt und was die Debatten prägt. An den Erfolg ihres Debüts „Momente der Klarheit“ knüpfte die Berliner Autorin mit „Brüder“ an. Dieser Roman über Identität und Rassismus brachte ihr den Düsseldorfer Literaturpreis und die Nominierung zum Deutschen Buchpreis ein. Nun spürt sie in ihrem neuen Roman dem Glück nach. Kann eine Frau nur als Mutter Erfüllung finden? Oder auch anders?

Aus welchem Empfinden oder Eindruck ist Ihr neuer Roman „Glück“ entstanden?
Ich hatte den Eindruck, dass das Thema Mutterschaft allgegenwärtig ist. Wer Medien konsumiert, wird täglich darauf stoßen, denn es taucht in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik genauso auf wie in den Feuilletons, im Lifestyle und im Boulevard. Frauen bekommen Kinder, ja, die natürlichste Sache der Welt. Und was ist mit denen, die nicht Mütter werden? Sie werden öffentlich als die wahrgenommen, die sich entweder aktiv dagegen entschieden haben, oder als diejenigen, die eine tragische Geschichte hinter sich haben, nach der man lieber nicht fragt. So einfach ist das natürlich nicht. So aber entstehen meine Themen.

Was ist die Kernfrage in Ihrem neuen Roman „Glück“ für Sie?
Wie sieht Glück aus? Ist es ein Bild, das die Außenwelt uns vorgibt? Oder ist es ein ganz intimes Gefühl, das jeder nur für sich allein definieren und erleben kann? Letzteres natürlich, würden die meisten antworten. Aber sind wir wirklich so frei? Diese uralte, menschliche, nicht beantwortbare Frage hat mich gereizt.

„Du möchtest etwas haben? Da ist es! Los geht’s! Die Uhr läuft …“

Ihre Protagonistinnen Marie-Claire und Anahita sind 39 – fast 40. Warum rücken Sie gerade dieses Alter in den Fokus?
Mit der Frage nach dem Kinderwunsch hatte ich nicht nur die Möglichkeit, über so vieles zu schreiben, das Frauen unter Druck setzt. Ich hatte auch diesen klar definierten Zeitraum: Du möchtest etwas haben? Da ist es! Los geht’s! Die Uhr läuft …

Die biologische Uhr tickt für Ihre beiden Protagonistinnen. Was macht es Ihnen wichtig, die Problematik aus zwei Perspektiven zu beleuchten?
Anfangs habe ich an ein ganzes Ensemble gedacht. Dann kamen meine beiden Hauptfiguren zu mir: Marie-Claire, die Journalistin, und Anahita, die Politikerin. Das ist einer der schönsten Momente beim Schreiben, wenn diese Personen auftauchen und dann immer klarer werden, bis sie schließlich existieren. Doch die Idee vom Ensemble war nicht vom Tisch. Ich lasse Freundin, Schwägerin, Frauenärztin und jüngere Schwester in eigenen Kapiteln zu Wort kommen und habe damit auch andere Frauenperspektiven. Das war mir wichtig.

Was verkörpert Marie-Claire Sturm alias MC Storm für Sie?
Marie-Claire ist eine Medienfrau. Nicht nur, dass sie ihr gesamtes Berufsleben in dieser Branche verbracht hat, sie bewegt sich auch privat durch ein permanentes Medienecho: Wie sieht die perfekte Frau aus? Was verlangt man von ihr? Wie beurteilt man sie? Wie hat sich dieses Bild im Lauf der Jahrzehnte gewandelt? Wir begegnen Marie-Claire in einer Phase, in der sie nicht aufhören kann, sich mit prominenten Müttern zu vergleichen. Sie weiß, dass das nicht gesund ist, kann in dieser Situation aber nicht anders. Ansonsten sieht Marie-Claires Leben aus, als würde es bestens funktionieren. Ein unabhängiger Single mit Wunschberuf in einer großen Stadt.

Was sehen Sie in Anahita Martini?
Anahita steht für die Frauen, denen man gern von außen unterstellt, ihre Karriere sei das Wichtigste in ihrem Leben. Das ist auch eine einfache Erklärung für ihren Familienstand. Und dieses Klischee hält sich hartnäckig: Eine Frau, die viel arbeitet, wird sich wohl gegen ein Kind entschieden haben. Was soll sie dagegen sagen? Die Sache ist komplexer und zu privat, um sie öffentlich zu thematisieren. Das ist ein Konflikt, den viele Frauen mit sich allein ausmachen müssen.

Bei Anahita wirkt alles genau nach Plan, bei Marie-Claire eher spontan. Was macht diesen Kontrast für Sie spannend?
Ein lückenloser Lebenslauf ist ein interessantes Phänomen. Denn er sagt wenig bis gar nichts über das wirkliche Leben der Person aus. Anahita ist in die Politik gerutscht, weil ihr der Lehrerberuf überhaupt nicht lag. In ihrem Lebenslauf wirkt es aber, als wären diese Jahre die perfekte Qualifikation zur Bildungssenatorin. Und dann ist da das Privatleben. Ich war immer beeindruckt von Leuten, die ihre privaten Pläne verfolgen und umsetzen wie Berufsziele. Das scheint möglich zu sein, doch braucht es dafür andere Voraussetzungen als Fleiß oder Kompetenz. Eine davon ist Glück. Im Roman stehen beide Frauen, die zielstrebige und die spontane, vor dem Problem, dass sie nicht wissen, wie sie dieses private Lebensziel jetzt allein erreichen sollen.

„Jeder hat das Recht auf seine vielen Facetten.“

Auf den ersten Blick wirken Anahita und Marie-Claire ziemlich taff. Inwiefern täuscht das?
Erfolg und Unabhängigkeit bedeuten nicht, dass man frei ist von Schwächen, Unsicherheiten und wunden Punkten. Ich mag den Begriff „taff“ nicht besonders, wie ich auch den überstrapazierten Begriff „starke Frau“ nicht mag. Wieso sagt man das nie über Männer? Heißt das, dass die naturgemäß taff und stark sind? Ich finde, dass jeder das Recht auf seine vielen Facetten und vor allem Widersprüchlichkeiten hat.

Welche Prioritäten haben Marie-Claire und Anahita im Leben? Was steht ganz oben auf der Agenda?
Für Marie-Claire geht eine Lebensphase zu Ende. Wir begegnen ihr in einem Moment, in dem ihr ihre Freiheit fad vorkommt, wie ein Weg ins Nirgendwo. Sie findet, es ist Zeit für den nächsten Schritt. Und den sieht sie in der Mutterschaft. Anahita möchte weniger eine Freiheit aufgeben, sie will vielmehr ein Bild erfüllen. Ein Manko loswerden. Beide Frauen hadern mit ihrem Status der kinderlosen Singlefrau, der vorher in Ordnung war. Der uns gern als emanzipiert und akzeptiert verkauft wird, aber nie für immer, nur vorübergehend. Das ist ein Thema, über das Anahita als Familienpolitikerin nachdenkt, während Marie-Claire sich medial damit beschäftigt.

Wer oder was löst den Druck aus, unter dem Marie-Claire und Anahita stehen?
Beide Biografien hätten lange so weitergehen können, würde sich den Frauen nicht die Kinderfrage stellen. Der Druck lässt viele ihrer bisherigen Entscheidungen wie Fehler aussehen – und das tut weh. Und er entsteht natürlich durch die Außenwelt. Anahita bewegt sich als Politikerin in einem Berufsfeld, in dem die meisten Leute, wenn schon nicht traditionelle, dann zumindest „geordnete“ Beziehungsmodelle leben und dabei unter ständiger Beobachtung stehen. Und da ist Marie-Claire, die den Kinderwunsch, dieses Jetzt-oder-Nie-Gefühl auch körperlich spürt. Es verfolgt sie jeden Tag, zusammen mit dem Chorus, der von außen auf sie einredet. Mit all den Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Vollständigkeit, dem Glück.

„Ein dringender Wunsch, ein Verlangen.“

Würden Sie sagen, der Kinderwunsch bewegt Marie-Claire und Anahita im Innersten?
Marie-Claire auf jeden Fall. Es ist ein dringender Wunsch, ein Verlangen. Anahita neigt nicht so zur Raserei, sie leidet eher unter einer lähmenden Ratlosigkeit, die sie nach außen hin gut kaschiert.

Marie-Claire lädt Anahita für ihren beliebten Podcast zu einem Gespräch ein. Welche Chance birgt die Begegnung der beiden und was macht diesen zwei Medien-Profis die Kommunikation so schwer?
Dieser Podcast hatte auch für mich als Autorin einen Duell-Charakter. Mal war ich für Marie-Claire, dann wieder auf Anahitas Seite, verstanden habe ich beide. Marie-Claire stellt Fragen, um ihren Hörern eine interessante Show zu liefern, mit privaten Aussagen, mit Nähe, vielleicht sogar Intimität. Anahita fürchtet genau das. Sie will nicht zum x-ten Mal über ihren Migrationshintergrund sprechen. Sie will nicht über ihre Vergangenheit als Lehrerin sprechen. Und sie will auf keinen Fall über ihr Privatleben sprechen, das im Grunde nicht existiert. Sie stellt fest, dass es fast nichts in ihrem Leben gibt, worüber sie locker und gern plaudern würde, und das zeigt ihr einmal mehr, dass ihr Leben an diesem Punkt weder nach außen hin präsentabel noch im Inneren glücklich ist.

Anahita und Marie-Claire sind unabhängig und selbstständig. Welche Bedeutung hat das traditionelle Familienmodell dennoch für sie?
Das traditionelle Familienmodell wird mit ihrem Kinderwunsch plötzlich zum Idealbild. Das war es vorher nicht, sonst hätten sie es längst versucht zu leben. Ich habe oft gesehen, dass die klassische Kleinfamilie erst verschmäht und später für ein paar Jahre als der einzige Weg gesehen wird. Beide Frauen im Roman haben ein Problem damit, nach außen zuzugeben, dass sie nun auf einmal genau das wollen: einen Mann und Kinder. Es passt nicht zu ihrem Selbstbild, und doch ist da dieser Wunsch, der sich für beide auf ihre Art wie eine Schmach anfühlt. Man könnte auch sagen, sie sehnen sich nach Normalität. Ein Begriff, der genauso dehnbar ist wie Glück. In dieser Situation kommen sie nicht umhin, über ihre bisherigen Liebesleben nachzudenken, die auch einen Teil des Romans ausmachen.

Bei Marie-Claire in der Familie haben männerlose Frauen eine Art Tradition. Wie prägt sie das?
Marie-Claire liebt ihre Mutter und ihre Großmutter, ist aber auch auf der Flucht vor deren Lebensmodellen. Die alleinerziehende Mutter wird oft bewundert, gleichzeitig bemitleidet. In den letzten Jahren auch von den Medien. Und nicht nur die Kinder Alleinerziehender vergleichen sich früher oder später mit ihren Eltern, indem sie sich wahlweise sagen: Das war super, so mache ich das auch. Oder aber: So will ich das später auf keinen Fall.

„Heute gibt es da mehr Spielraum.“

Wie unsicher Marie-Claire auch sein mag – ihre Frauenärztin hat unerschütterlich neue Optionen parat. Wofür steht Dr. Henriette Nonnenmacher und wie hilfreich ist ihr Repertoire?
Die Frauenärztin, selbst Mutter, Mitte fünfzig, zeigt auf, was heute alles möglich ist, wenn eine Frau entschlossen ist, Mutter zu werden. Früher wurde die Frau entweder rechtzeitig schwanger oder der sogenannte Zug war abgefahren. Heute gibt es da mehr Spielraum, auch ohne Partner. Und im Roman gibt es auch noch ein kleines Science-Fiction-Element, das den Frauen noch mehr Zeit verschaffen soll. Die Voraussetzung ist, dass die Frau sich für eine dieser Methoden entscheidet. Und einer meiner Figuren wird dadurch klar, dass sie nicht um jeden Preis Mutter werden möchte.

Anahitas Schwägerin Lydia hat Kinder. Mit der Mutterrolle ist sie allerdings alles andere als glücklich. Womit hadert sie?
Für Lydia fühlt sich das Muttersein an wie ein neuer Job, umgeben von Streberinnen, sprich Supermüttern. Sie selbst hatte vorher keinen Top-Job, jetzt aber das Gefühl, auch das Muttersein würde nicht reichen. Es ist dieses ständige Nichtgenügen, das die Frauen in diesem Roman so ermüdet. Lydia ist übrigens eine Figur, die schon in meinem ersten Roman „Momente der Klarheit“ auftritt. Damals noch ohne Kinder, aber genauso grimmig. Ich mag sie sehr.

Was ist „Glück“ für Sie? Ein Gesellschaftsporträt? Ein Empowerment-Buch für Frauen?
Ein Gesellschaftsroman.

Und was empfinden Sie persönlich als Glück?
Glück ist ein flüchtiger Moment, in dem plötzlich alles stimmt. Und man muss Glück oder auch Übung haben, um diesen Moment überhaupt wahrzunehmen. Alles, was länger anhält, wie Gesundheit, Beziehungen, Wohlstand, und so weiter, würde ich eher glückliche Umstände nennen.

Ihr Roman heißt nicht etwa „Babyglück“, sondern einfach „Glück“. Warum ist das der perfekte Titel?
Der Roman behauptet nicht, dass das Glück in der Mutterschaft liegt. Er befasst sich eher mit der Frage, was Glück überhaupt bedeutet. Und ob es nicht eher Zufriedenheit ist, die die Figuren sich wünschen. Glück ist der perfekte Titel, weil damit jeder Mensch etwas anfangen kann, weil jeder versteht, dass man es sucht und weil jeder es sich wünscht.