

Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse 2025!
Auch als eBook | Hörbuch auf Hugendubel.de erhältlich.
Kristine Bilkau ist am Wasser ganz in ihrem Element: Mit ihrem literarischen Glanzstück „Nebenan“ am Nord-Ostsee-Kanal wurde die Hamburgerin Finalistin beim Deutschen Buchpreis 2022. Nun siedelt sie ihren neuen Roman an der Nordsee an. Wie das Meer mit Wucht die Landschaft formt, spiegelt die Veränderungen im Leben ihrer Heldinnen in „Halbinsel“. Die preisgekrönte Autorin macht mit feinem Gespür für Zwischenmenschliches die Höhen und Tiefen einer Mutter-Tochter-Beziehung spürbar und reflektiert zugleich die drängenden Fragen unserer Zeit. Eine Lektüre mit Sogwirkung!
Wie Ihre Heimatstadt Hamburg mit ihren Flüssen, Fleeten und Kanälen liegt auch eine Reihe Ihrer Romanschauplätze am Wasser. Woher kommt diese Vorliebe?
Meine Urgroßeltern und Großeltern haben an der Nordsee gelebt, meine Mutter ist dort aufgewachsen, mein Vater viele Jahre zur See gefahren. Wasser hat in unserer Familie immer eine große Rolle gespielt. Gewässer sind Orte der Sehnsucht und Freiheit, aber auch der Gefahr. Das Wasser erzählt von der Zerbrechlichkeit unseres Daseins.
„Wasser erzählt von der Zerbrechlichkeit unseres Daseins.“
Ihren aktuellen Roman „Halbinsel“ haben Sie in der Nähe von Husum an der Nordsee angesiedelt. Was ist für Sie das Faszinierende an dieser Landschaft?
Die Nordsee ist eine Naturgewalt, mit ihren Gezeiten, Stürmen und Fluten. Die Menschen haben sich in ihrer Nähe angesiedelt, schützen sich mit Deichen und Sperrwerken. Trotzdem sind sie der See ausgeliefert. Durch die Erderwärmung und den drohenden Anstieg der Meeresspiegel bekommt das eine neue Dimension. Das Thema prägt vor allem Linn, die fast 25-jährige Tochter meiner Romanfigur Annett.
In „Halbinsel“ ist das Wattenmeer nicht nur eine Kulisse, sondern es scheint für Sie eine Hauptrolle zu spielen. Welche Facetten sind Ihnen am wichtigsten?
Nebel, Sonne, Dämmerung – das Wattenmeer sieht jeden Tag anders aus. Diese stille, weite Landschaft trägt vielfältiges Leben in sich, dazu die Geschichten und Mythen. Man kann sich im Wattenmeer frei fühlen, aber auch verloren. Meine Romanfiguren erfahren beides. Das Watt lockt ihre tiefsten Ängste, aber auch ihre Stärken hervor.
„Annett ringt darum, die Zuversicht für ihre Tochter zu retten.“
Was ist für Sie das Hauptthema in „Halbinsel“?
Die Suche nach Zuversicht und Stabilität in einer von Krisen geschüttelten Welt. Im Zentrum der Geschichte steht eine Mutter, die darum ringt, die Zuversicht für ihre Tochter zu retten. Wie bringt man ein Kind in diese Welt? Wie bereitet man einen jungen Menschen auf eine Zukunft vor, die man selbst kaum begreifen kann? Und wie blickt unsere Gesellschaft auf junge Menschen, die einen Berg Probleme, wenn es um Umwelt und Gerechtigkeit geht, von uns erben werden?
In einem 1.300-Seelen-Dorf am Wattenmeer ist Ihre Protagonistin Annett beheimatet. Wer ist sie?
Sie steht vor ihrem fünfzigsten Lebensjahr, arbeitet in einer Bibliothek und lebt nach dem frühen Tod ihres Mannes allein. Ihre Tochter Linn ist voller Energie ins Erwachsenenleben gestartet, doch nun, mit kaum Mitte Zwanzig, hat sie einen Zusammenbruch erlitten. Das zwingt auch Annett dazu, ihr Leben neu zu betrachten.
Was hat Sie dazu bewogen, aus der Perspektive von Annett zu erzählen?
Annett steht vor der Frage, was ihre Tochter so erschöpft hat – und welche Rolle sie selbst dabei spielt. Ich wollte bei ihrer Sicht bleiben, um ihre Unsicherheit und ihre Suche für sich stehen zu lassen. Wenn wir uns um das eigene Kind oder einen anderen nahen Menschen sorgen und kümmern, müssen wir die Ungewissheit aushalten.
„Von außen betrachtet ist Linn eine Super-Performerin.“
Ihre zweite Protagonistin ist Annetts Tochter Linn. Wie sehen Sie die fast 25-Jährige?
Von außen betrachtet ist Linn eine Super-Performerin. Die perfekte Tochter. Eine tatkräftige junge Frau. Sie hat nach dem Abitur als Volontärin beim Aufforsten geholfen, im Ausland Umwelt-Management studiert, einen Beruf ergriffen, um etwas Gutes zu bewirken. Und dann landet sie an einem Nullpunkt.
Was prägt das Familienleben von Annett und Linn am stärksten?
Mutter und Tochter sind sich sehr nah, auch durch den Verlust des Lebenspartners und Vaters. Beide haben gelernt, in dieser Zweier-Familie perfekt zu funktionieren. Unterschwellig wirkt da ein starker Leistungsdruck.
Linn scheint ihre Berufung gleich nach dem Abitur gefunden zu haben. Was ist die Mission der jungen Frau?
Sie gehört zu der Generation, die mit den Nachrichten von Hitzerekorden, Gletscherschmelze, Artensterben, und von kippenden Ökosystemen aufgewachsen ist. Doch anstatt in Ohnmacht zu verharren, wollte sie aktiv an Lösungen mitarbeiten.
„Linn entwickelt ein starkes Bedürfnis nach Aufrichtigkeit“
Was ist für Sie das Brisante an der Branche, in der Linn landet?
Linn arbeitet für Aufforstungsprojekte, mit denen Firmen, Stiftungen und Investmentfonds Waldbau finanzieren oder riesige Waldgebiete kaufen, um damit CO2-Zertifikate zu verdienen. Zertifikate, mit denen Unternehmen den Ausstoß ihrer Treibhausgase kleinrechnen können. Doch dieser Emissionshandel hat riesige Schwachstellen, über die öffentlich kaum diskutiert wird. Wie sinnvoll ist dieses System? Was wird da wirklich geschützt? Der Planet oder die Geschäftsmodelle der Unternehmen? Linn entwickelt ein starkes Bedürfnis nach Aufrichtigkeit und der Anerkennung von Tatsachen. Sie erträgt es immer weniger, dass existentielle Probleme wie die Erderhitzung und ihre Folgen negiert und verharmlost werden.
Der Zusammenbruch von Linn erfüllt Annett mit Sorge, aber sie fühlt sich auch immer ratloser, was ihre Tochter bewegt und wie sie lebt. Woher rührt dieses Defizit?
Annett kann Linns Mutlosigkeit und Erschöpfung schwer akzeptieren. Sie möchte ihre tatkräftige und optimistische Tochter zurück. Alles soll so schnell wie möglich wieder gut werden. Aber so funktioniert es nicht.
Annett fühlt sich „gedimmt“ und weiß – genau wie Linn – nicht, wie es für sie weitergeht. Was macht ihr zu schaffen?
Sie hat sich als alleinerziehende Mutter um ihre Tochter gekümmert, doch dabei ihre eigene Zukunft aus den Augen verloren. Stabilität stand bei ihr im Vordergrund, unmerklich ist für sie daraus Stillstand geworden. Aus dem muss Annett sich befreien.
Je länger Linn bei Annett wohnt, desto spürbarer werden die Spannungen zwischen den beiden. Welche Ursache(n) hat das?
Annett schmerzt es zu sehen, wie die Tochter ihren Antrieb zu verlieren scheint. Sie reagiert mit Sorge, aber auch Unverständnis. Linn hat sich den Erwartungen ihres Umfelds immer angepasst. Ihre Erschöpfung ist wie eine Weigerung, Erwartungen weiter zu erfüllen.
„Was zählt im Leben?“
Den Generationenkonflikt behandeln Sie auf mehreren Ebenen: vom persönlichen Bereich bis zur globalen Dimension. Worauf kommt es Ihnen dabei an?
Mich haben die unterschiedlichen Perspektiven von Mutter und Tochter auf die Gegenwart und die Herausforderungen der Zukunft interessiert. Wie geht man mit Krisen um? Was zählt im Leben? Welche Rolle spielen dabei die unterschiedlichen Prägungen der beiden? Annett muss feststellen, dass sie viel weniger über ihre Tochter weiß, als sie gedacht hat.
Wie Annett und Linn mit der Realität und den Herausforderungen umgehen, wirkt fast gegensätzlich. Worin bestehen die gravierendsten Unterschiede? Woran zeigt sich das am deutlichsten?
Annett war immer sehr darauf konzentriert, gut zu funktionieren. Unbewusst hat sie das auch von ihrer Tochter erwartet. Es geht auch um einen universellen Konflikt zwischen Eltern und Kindern: Erziehung und Fürsorge sind auch an Erwartungen geknüpft, die wiederum einengen können.
„Auf beiden Seiten fehlt es an Verständnis.“
Sie charakterisieren Annett und Linn auch durch die persönlichen Sprachgewohnheiten. Was ist jeweils typisch?
Annett steckt in der klassischen und oft undankbaren Situation der Mutter: Sie hat ständig Fragen an ihrer Tochter, um herauszufinden, wie es Linn geht. Linn empfindet die vielen Fragen als übergriffig. Auf beiden Seiten fehlt es an Verständnis. Hinzu kommt, dass Annett und Linn nicht nur mehr Mutter und Tochter sind, sondern zwei Erwachsene, auf Augenhöhe.
Das junge Trio im Nachbarhaus hat sich eine Nische gesucht und gefunden. Was verkörpern diese drei unkonventionellen Menschen für Sie? Ein Zukunftsmodell?
Die junge Wohngemeinschaft nebenan entspricht keinem eindeutigen Schema, sie lassen sich keinen Stempel aufdrücken. Als Gemeinschaft haben sie eine Lebensform gefunden, durch die sie sich bestimmten sozialen Normen, wenn es um Erfolg und Leistung geht, entziehen können.
Ein wiederkehrendes Thema und Motiv in „Halbinsel“ sind Sturmfluten. Worum geht es Ihnen dabei? Ein Symbol für die großen Veränderungen, die Landschaften und auch einzelne Menschenleben formen?
Sturmfluten haben die Geschichte und Landschaft der Region geprägt. Mir geht es um das Verhältnis von Mensch und Natur. Der Mensch hat die Küste besiedelt, hat sich die Marschen und Moore angeeignet. Die großen Sturmfluten haben gezeigt, wie schnell das alles ausgelöscht werden kann – aber auch, wie schnell der Mensch daraufhin wieder versucht, sich den Gegebenheiten anzupassen. Und dann sind da die Mythen und Sagen. Auch sie erzählen viel über unser Verhältnis zu Naturgewalten.
„Offene Türen erzählen von Möglichkeiten.“
Ziemlich am Anfang denkt Anne an die Gemälde des dänischen Malers Villem Hammershøi. Inwiefern sind Bilder – etwa von offenen Türen – schöne Symbole für die Situation von Annett, aber auch von Linn und vielleicht sogar für den ganzen Roman?
In den Bildern von Hammershøi, seinen Zimmern mit Tischen, Stühlen und offenen Türen, herrscht eine trügerische Stille, als wäre gerade etwas passiert oder ein Ereignis stünde bevor. Die offenen Türen erzählen von Möglichkeiten und Entscheidungen, die den Lebensweg prägen, sie zeigen das Vergangene und das Zukünftige. Sie erinnern auch an Menschen, die uns begleitet haben, aber nicht mehr da sind.
Wo ist in „Halbinsel“ für Sie am meisten Licht in Sicht? Was hat Sie beim Schreiben mit Hoffnung erfüllt?
Die Stärke von Annett und Linn, die jede für sich entdecken muss, bringen das Helle in den Roman. Linns kompromisslose Suche nach Aufrichtigkeit. Annetts Liebe zu ihrer Tochter, mit allen Unsicherheiten und Fehlern. Und – das solidarische Miteinander des jungen WG-Trios nebenan, ihr pragmatischer Optimismus. Die neuen Verbindungen, die Annett dort knüpft.
Mit Annett teilen Sie die Leidenschaft für das Schwimmen. Was macht es für Sie zum Lebenselixier und welche Bedeutung hat es für Sie als Autorin?
Die Leichtigkeit im Wasser macht mich glücklich, die Ruhe der gleichförmigen Bewegung zutiefst zufrieden. Während ich meine Bahnen ziehe und dabei die Schwerkraft des Körpers vergessen kann, öffnen sich Gedankenräume, auch ordnet und beruhigt sich manches. Beim Schwimmen bekomme ich Energie für den Alltag.