Michael Thumann ist als Außenpolitischer Korrespondent für „DIE ZEIT“ weit auf der Welt herumgekommen. Sein Herz hat er schon Mitte der 1980er Jahre als Student an Russland verloren. Einen Sonderstatus hat es für ihn behalten, obwohl der journalistische Alltag für den Leiter des „Zeit“-Büros in Moskau immer beschwerlicher und gefährlicher wird. Den Herausforderungen trotzt Thumann packende Bücher ab: erst den Bestseller „Revanche“ über das bedrohliche Putin-Regime, nun „Eisiges Schweigen flussabwärts“ über seinen Roadtrip durch den neuen Eisernen Vorhang.

Russland erkunden Sie seit Ihrem Studium in Moskau und St. Petersburg Mitte der 1980er Jahre. Was zieht Sie so nachhaltig in den Bann, dass Sie sogar von einer Obsession sprechen?
Für mich war Russland oder besser die Sowjetunion damals zunächst ein Rätsel, eine terra incognita, von der ich wenig wusste und erfuhr. Und auch wenn ich das Land in den vergangenen vierzig Jahren sehr gut kennengelernt habe, gibt es mir immer neue Rätsel auf, die mich reizen zu schreiben. Sind die Russinnen und Russen nach 25 Jahren Putin Untertanen geworden oder sind sie einfach nur Opportunisten? Warum die Gefühlskälte so vieler Menschen in Russland gegenüber den Leiden der Ukraine? Warum die Gleichgültigkeit gegenüber den vielen jungen russischen Männern, die im Krieg sterben? Das herausfinden zu wollen, ist wahrscheinlich eine Obsession, zumal es mit gewissen Gefahren verbunden ist. Aber so geht es ja vielen Journalisten in Krisengebieten.

Was hat Ihr Russlandbild und womöglich Ihr Ideal vom globalen Miteinander am tiefsten erschüttert?
Die Inbrunst und Besessenheit, mit der führende Journalisten und Politiker in Russland die von ihnen herbeigesehnte Zerstörung Europas durch Atomwaffen in Animationen, TV-Diskussionen und in Reden feiern.

Was ist in Ihrem neuen Buch das große Kernthema und inwiefern gibt es Ihre Reiseroute vor?
Ich beschreibe die neue Teilung Europas in vielen Aspekten: politisch, kulturell, wirtschaftlich, geistig, in den persönlichen Beziehungen. Der erzählerische Rahmen des Buches sind meine verschiedenen Versuche, Russland auf dem Landweg zu verlassen, auf dem Rad, mit der Bahn, mit dem Auto, mit dem Überlandbus. Die Versuche führen über Zentralasien und den Kaukasus, schließlich über Europa. Herausgekommen ist ein Roadtrip mit Hindernissen und Überraschungen von Moskau nach Berlin quer durch den neuen Eisernen Vorhang.

Für das Putin-Regime gelten Sie – wie alle Ihre Kolleg:innen aus Deutschland – als „Korrespondent aus einem unfreundlichen Land“. Welche Folgen hat diese Einstufung für Sie?
Zum Glück ist das noch keine offizielle Einstufung wie zum Beispiel „ausländischer Agent“ für Nichtregierungsorganisationen. Korrespondentinnen und Korrespondenten aus der EU werden von staatlichen Stellen mit Argwohn verfolgt. Es bedeutet, dass ich in einem unfreundlichen, teils feindseligen Umfeld recherchiere, dass der Staat der Gegner ist, während manche Moskauer Bürger nach wie vor offen und gastfreundschaftlich auf mich reagieren und ich bei meinen Freunden bestens aufgehoben bin.

„Russland darf für uns keine Black Box werden.“

Geheimdienst-Offizier:innen kennen Sie nicht nur von Grenzkontrollen einschließlich Kellerverhör, sondern auch, weil Sie sich gelegentlich selbst zum Tee bei Ihnen im Büro einladen. Wie gehen Sie mit diesen Erfahrungen um?
So gelassen wie möglich. Wichtig ist, in solchen Gesprächen nicht nervös und unsicher zu wirken. Das beruhigt erstens mich selbst, und zweitens signalisiert es dem Gegenüber, dass ich mich nicht von ein paar Fragen einschüchtern lasse. Und wenn man das wie ich schon öfters erlebt hat, dann fällt die Gelassenheit natürlich leichter. Vorausgesetzt, die Kontrollen hören irgendwann wieder auf.

Was macht es Ihnen wichtig, trotz allem direkt vor Ort aus Russland zu berichten?
Weil Russland das Land ist, das das Schicksal unseres Kontinents in den kommenden Jahrzehnten entscheidend prägen wird. Weil sich das Land jederzeit komplett für uns schließen kann. Weil es wichtig ist, die Stimmung und die Situation im Land zu erfassen, um Russland weiter beurteilen zu können. Russland darf für uns keine Black Box werden, dafür ist das Land zu wichtig für Europa.

Was hat Ihnen am unmissverständlichsten klargemacht, dass man eigentlich nirgendwo in Russland vor dem Zugriff des Regimes sicher sein kann?
Als Evan Gershkovich verhaftet wurde, der amerikanische Journalist, der wegen einer Recherche in Jekaterinburg verhaftet und vor Gericht gestellt wurde. Das war der größte Schock in den zurückliegenden Korrespondentenjahren. Zum Glück ist Gershkovich im vergangenen Sommer ausgetauscht worden. Das heißt aber nicht, dass solche Gefahren damit ausgeräumt wären.

Ihr Start an der Kurischen Nehrung scheint nicht nur eine Momentaufnahme zu sein, sondern ein Statement. Was ist für Sie die Essenz? Ein Bekenntnis, Grenzen zu erkunden und dem Gegenwind zu trotzen?
Ja, es ist ein Statement, deshalb habe ich es an den Beginn des Buches gestellt. Es ist ein Gleichnis, das für meine Beschäftigung mit Russland in vier Jahrzehnten steht. Ein Versuch, in diesem Land anzukommen, es zu durchdringen, es endgültig zu begreifen, und das auf einem Weg mit viel Gegenwind, auf dem man mit der Zeit immer einsamer wird, bis man an die Grenzen stößt, an denen es nicht mehr weitergeht. Außer dass ich wieder aufs Rad steige und es erneut versuche.

„Mauern und Grenzen haben meine Kindheit geprägt.“

Wie haben Grenzen (und gegebenenfalls Weltenteilungen) Ihre Biografie geprägt?
Ich komme aus einer geteilten Familie. Meine Mutter ist in den 1940er Jahren aus dem Berliner Prenzlauer Berg in ein kleines westdeutsches Dorf geflohen. Andere Familienmitglieder kamen erst in den 1950er Jahren nach Westen, wieder andere sind in der DDR geblieben. Ich habe in Westberlin studiert und gelebt. Mauern und Grenzen haben meine Kindheit und meine Studienzeit geprägt. Der Fall der Mauer war deshalb das, wenn man so will, zentrale Erweckungserlebnis meines Lebens.

Im autobegeisterten Moskau haben Sie vom Dienstwagen auf das Fahrrad umgesattelt. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
In einem stundenlangen Stau im Auto in Moskau, als ich die Fahrradboten an mir vorbeiziehen sah.

Inwiefern geht es Ihnen auch um ein großes Psychogramm? Wer hat Sie dabei besonders interessiert?
Es geht mir eigentlich mehr um ein Psychogramm des geteilten Europas und der geteilten Europäer. Der neue Eiserne Vorhang führt zu Verwerfungen, zu Abschottungen und Verinselungen, die wir jahrzehntelang nicht mehr kannten. Er trennt nicht nur Russen von den anderen Europäern, er trennt auch Familien und Freunde, Wissenschaftler und Sportler, Journalisten und Geschäftsleute. Es ist die Regression zurück in einen Zustand eines vermauerten Europas, den wir alle nicht mehr für möglich gehalten haben. Mich interessiert, wie die Menschen mit der Teilung umgehen. Wie sich ihr Denken verändert. Wie sie aufeinander reagieren – oder einander vergessen. Dieser Zustand wird Europa in diesem Jahrhundert prägen.

Land und Leute kennenzulernen bekommt im Nachtzug durch die Steppe eine andere Dimension. Was hat Sie bei dieser Grenzerfahrung am meisten bewegt?
Ich war noch nie zuvor aus Russland mit dem Zug nach Kasachstan gefahren, und ich war überrascht, wie sehr diese Fahrt mich an meine ersten Reisen in die Sowjetunion erinnert hat. Die Gerüche im Zug, die langsame Fahrt durch die Steppe, die Grenzbeamten, die Durchsuchungen, die Hunde, das Gebrüll in tiefer Nacht. Eine Erinnerung an eine Zeit, die nie vergangen ist. Doch mehr noch hat mich bewegt, wie die Menschen aufeinander reagieren, wie die Kasachen die Russen sehen: sehr, sehr kritisch. Das Bedrohungsgefühl in Westkasachstan ist ähnlich wie bei allen anderen Nachbarn Russlands.

Geschichte hinterlässt auch in der Landschaft Spuren. Wo fanden Sie das am markantesten? Am Aralsee?
Der Aralsee und sein Verschwinden ist eine Folge des totalen Kriegs der Menschen gegen die Natur. Nirgendwo war diese Hybris größer als in der Sowjetunion. Die Moskauer Führung leitete Flüsse um, trocknete das Meer aus, vergiftete die Landschaft, zündete Atombomben in der kasachischen Steppe. Die Kasachen müssen heute mit den Folgen der Entscheidungen leben, die in Moskau getroffen wurden. Auch deshalb sind Russen heute in den betroffenen Gegenden nicht sehr willkommen.

„Doch auch wir Deutschen sollten auf der Hut sein …“

Wo haben Sie die Bedrohlichkeit von Putins Expansionsstreben am stärksten empfunden?
Bei meinen Besuchen in der Ukraine natürlich, bei Frontbesuchen unmittelbar vor dem russischen Überfall 2022, die ich im Buch in einem Kapitel über den Donbass beschreibe. Aber die Angst sitzt den Esten, Letten und Litauern genauso im Nacken, weil sie wissen, dass es ihnen irgendwann genauso gehen kann wie den Ukrainern. Doch auch wir Deutschen sollten auf der Hut sein, denn ich habe für das Buch Belege gesammelt und beschrieben, wie in Moskau eine mögliche neue Teilung Deutschlands angedacht wird.

Das Putin-Regime versucht, durch drakonische Verbote ganze Organisationen zum Schweigen zu bringen – sogar die 2022er Friedensnobelpreisträger von „Memorial“. Was ist daran typisch und besonders tragisch?
Es ist kennzeichnend für totalitäre Regime, dass sie jede Regung der Zivilgesellschaft unterdrücken und zerstören. Sie schaffen eine atomisierte Gesellschaft, in der jeder jedem misstraut. Putins Prinzip des ewigen Kriegs gegen den Westen wird so auf das eigene Land übertragen.

Mit der „Memorial“-Mitbegründerin Irina Scherbakowa haben Sie in einem Berliner Café gesprochen. Was verkörpert sie für Sie und wie kann sie ihre Mission im Exil fortführen?
Irina Scherbakowa steht für die deutsch-russischen Beziehungen schlechthin, sie erklärte Deutschland in Russland und umgekehrt heute Russland in Deutschland. Ihre Arbeit von Jahrzehnten ist heute zerstört durch Putins Regime. Sie steht für die zerrütteten Beziehungen, weil sie nicht mehr in ihr Heimatland zurückkehren kann. Dort würde sie verhaftet werden. Aber sie wird in Deutschland das andere Russland vertreten, die Möglichkeit eines besseren Russlands mit einem humanistischen Antlitz.

Wie wirkt sich der anhaltende Ukrainekrieg auf das Stimmungsklima in Russland aus?
Die Menschen sind in eine unglaubliche Apathie verfallen, eine Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft und sich selbst. Wahrscheinlich ist das der Zustand, in dem sie ein Leben ohne Zukunft noch aushalten können. Denn Zukunft ist das, was Putin der Bevölkerung geraubt und mit der Aussicht eines ewigen Krieges gegen den Westen ersetzt hat. Viele Menschen reagieren opportunistisch und glauben das, was sie im Fernsehen erfahren, weil es die einfachste Art ist, im quasitotalitären Staat zu leben. Aber es ist Opportunismus. Denn wenn die Macht wechselt, werden die Menschen sich von Putin abwenden. So wie sie sich einst von Stalin oder der späten Sowjetunion abgewendet haben.

Welche Chancen zum Protest oder sogar Widerstand haben die Menschen in Russland eigentlich noch?
Es gibt im zunehmend totalitären System keine wirklich sichtbare Möglichkeit, auf den Straßen oder im Alltag echten Widerstand zu leisten. Manchmal findet sich noch ein hingeworfener Zettel oder ein Graffito unter einer Brücke, wo steht: Nein zum Krieg. Manche legen Blumen an den Denkmälern ukrainischer Dichter nieder. Mache versuchen Botschaften auf Plakaten unterzubringen, indem sie etwas dazu pinseln. Aber solche Fälle werden immer weniger. Wer nicht einverstanden ist, versucht die totalitäre Erniedrigung mit Würde zu tragen – und spricht mit Vertrauten und guten Freunden zuhause in der Küche über das Regime, das sie ablehnen. Man überwintert.

„Die Odyssee dauert an.“

Hatte Ihre Reise für Sie etwas von einer Odyssee? Was hofften Sie dabei zu finden?
Ja, es ist ein Suchen nach dem Ausgang aus einem Land, in dem das Leben zunehmend unerträglich wird. Viele andersdenkende Russen haben diesen Weg schon genommen, über die europäischen Grenzen, als sie noch offen waren, über Kasachstan, über den Kaukasus. Ich bin diese Wege mit ihnen gegangen. Wenn ich Russland verlasse, das Land der institutionalisierten Unsicherheit, dann suche ich am Ende eine Sicherheit, die auch das bedrohte Europa nicht mehr bieten kann. Die Odyssee dauert an.

Inwiefern spricht Ihnen die junge polnische Kellnerin Agnieszka in Ihrem Buch aus dem Herzen?
Sie verkörpert in ihrem ungetrübten Optimismus und ihrem Leben über die Grenzen hinweg den Typus des Europäers, den der Kontinent braucht, um als Europa zu überleben. Agnieszka ist eine der unerwarteten Heldinnen des Buches, die mehr begriffen hat als viele erfahrene Politiker.