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Ihr Glück als Autorin hat die Wahlberlinerin Miriam Georg mit ihren historischen Hamburg-Sagas gemacht. Mit den Dilogien „Elbleuchten“, „Das Tor zur Welt“ und „Im Nordwind“ schrieb sie sich an die Spitze der Bestsellerlisten. Ebenso opulent präsentiert sich nun ihr neues, bewegendes und „bisher persönlichstes Buch“: „Die Verlorene“ ist inspiriert durch Miriam Georgs eigene Familiengeschichte.
Wenn Sie von Ihrem neuen Roman erzählen, spürt man, dass es sich um ein Herzensanliegen handelt. Wodurch ist Ihnen „Die Verlorene“ so nah?
Die Inspiration für „Die Verlorene“ entspringt meiner eigenen Familiengeschichte. Das macht den Roman zu meinem bislang persönlichsten Buch. Außerdem ist mir die Recherche über diese Zeit in Schlesien und über den Krieg sehr nahe gegangen, ich habe etwa ein Jahr lang unzählige Erinnerungen und Zeitzeugenberichte gehört und gelesen, dadurch steckte ich so tief in der Thematik, dass sie für mich zu einer Herzensangelegenheit wurde – und ich hoffe natürlich, durch den Roman vielleicht auch einen kleinen Beitrag gegen das Vergessen leisten zu können.
Die Verwurzelung in Ihrer Familiengeschichte klingt schon in der Widmung an: „Für Karl Alexander Georg, meinen Großvater“. Was macht ihn zu einer Art Paten für Ihren Roman?
Das Leben meines Großvaters war von den dramatischen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und den Folgen der Kriegsgefangenschaft geprägt. Als Soldat der Wehrmacht war er bereits im Alter von 22 Jahren auf der Krim stationiert und verbrachte viele Jahre in sowjetischer Gefangenschaft. Als er Jahre nach Kriegsende in seine Heimat in Hessen zurückkehrte, war er ein anderer Mensch. Irgendwann begann er, diese Erfahrungen schriftlich zu verarbeiten. Mein Großvater starb, als ich noch ein Kind war – seine unveröffentlichten Manuskripte sind jedoch noch immer in meiner Familie. Die Kapitel aus Karls Perspektive sind stark von diesen Texten inspiriert.
„Wer waren unsere Vorfahren wirklich, was bedeutet Heimat …“
Welchen Anteil hat Ihre Großmutter Gerti an Ihrem Roman?
Die Mutter meines Vaters stammte aus dem Sudetenland und musste mit ihrer Familie nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen, ihr gesamtes Hab und Gut auf einem Leiterwagen. Ihr neues Zuhause fand sie in Steinau in Hessen. Dort lernte sie meinen Großvater kennen, in den sie bis zu ihrem letzten Atemzug unerschütterlich verliebt war. Für mich war meine Großmutter eine Steinauerin durch und durch – sie war diejenige, die in der Kirche am lautesten sang und die schönsten Torten backte. Dass diese Fassade eine Geschichte von Verlust und der ständigen Suche nach Zugehörigkeit verbarg, habe ich erst viel später verstanden. Meine Großmutter hat Steinau geliebt. Deswegen habe ich nie in Frage gestellt, ob sie ihre alte Heimat vielleicht vermisst. Aber als ich für meine Recherche im Sommer 2024 mit meiner Schwester nach Polen fuhr, besuchten wir auch ihren Geburtsort in Tschechien, zwei Autostunden entfernt. Als wir dort ankamen, merkten wir, dass uns die Kirche des Ortes seltsam bekannt vorkam. Schnell verstanden wir, warum dem so war: Ein großes Ölgemälde des Gebäudes hing zeit ihres Lebens bei unserer Großmutter im Wohnzimmer über dem Aquarium. Das hat bei mir viel ausgelöst. Die großen Fragen des Romans: Wer waren unsere Vorfahren wirklich, was bedeutet Heimat, welche Rollen spielen transgenerationale Traumata in Familien und wie kann man sie auflösen – all das ist von ihr inspiriert.
Was brachte Sie auf die Idee, einen erzählerischen Bogen über drei Generationen und von den 1940er Jahren bis zur Gegenwart zu spannen?
Ich beschäftige mich schon länger mit transgenerationalen Traumata. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde so vieles totgeschwiegen, es gab so gut wie keine Möglichkeiten, psychologische Hilfe zu bekommen und Dinge aufzuarbeiten. Dadurch konnten Wunden und Traumata unerkannt in den Menschen schwelen und selbst Generationen später noch das Leben der Nachkommen beeinflussen. Das hat mich tief berührt und beschäftigt. Für Familien, die es schaffen, diese Traumata aufzuarbeiten, kann sich so vieles ändern und verbessern – es kann das ganze Leben beeinflussen.
„Änne, Ellen und Laura sind einander unheimlich wichtig.“
Im Mittelpunkt stehen Großmutter Änne (93), Tochter Ellen (75) und Enkelin Laura (37). Was verbindet und was trennt die drei Frauen?
Änne, Ellen und Laura haben jede auf ihre Art mit den Geheimnissen in Ännes Vergangenheit zu kämpfen. Sie sind einander unheimlich wichtig, und doch können sie diese Nähe und ihre Liebe füreinander nicht so ausdrücken, wie sie es gerne wollen. Als Laura eine erschütternde Entdeckung macht und Änne sich dazu nicht mehr äußern kann, muss Laura sich die Frage stellen, ob sie die Frau hinter ihrer Großmutter jemals wirklich gekannt hat. Und macht sich auf die Suche, um Antworten auf ihre Fragen zu finden, die letztlich für ihr Leben und auch für Ellens genauso wichtig sind wie für das ihrer Großmutter.
Worauf spielen Sie mit dem Romantitel „Die Verlorene“ an?
Den Titel kann man eigentlich erst richtig verstehen, wenn man das Buch gelesen hat. Er passt auf mehreren Ebenen und ist eine wunderbare Unterstreichung der Geschichte. Ich will nicht zu viel vorwegnehmen, aber Verlust ist ein großes Thema in dem Roman; Verlust von Identität, von Familie, von Heimat, von Liebe, von Sicherheit.
„Ich könnte nie etwas wegwerfen, was meine Großeltern mir geschenkt haben …“
Was hat es mit Ännes „Erinnerungskiste“ auf sich?
Auch diese Kiste symbolisiert den Verlust. Darin befindet sich alles, was Änne von ihrem alten Leben geblieben ist. Sie wollte ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen, trotzdem hat sie es nicht geschafft, sich von diesen Dingen zu trennen, auch auf die Gefahr hin, dass jemand sie findet und Fragen stellt. Es fasziniert mich, wie sehr wir Menschen uns oft an Dinge klammern, die etwas symbolisieren, das es eigentlich nicht mehr gibt, die eine Erinnerung wachhalten sollen. Ich bin selbst ein sehr sentimentaler Mensch, könnte zum Beispiel niemals etwas wegwerfen, das meine Großeltern mir geschenkt haben. Die Kiste symbolisiert daher Ännes Menschlichkeit, ihren Schmerz, die Tatsache, dass sie nie wirklich abgeschlossen hat mit der Vergangenheit, obwohl sie es so sehr versucht hat. Sie brauchte diese letzte Verbindung.
Laura fasst sich ein Herz und bricht nach Polen auf – in die Region, die einst Schlesien und Ännes Heimat war. Was macht diese Reise ins Ungewisse so wichtig?
Um in die Zukunft schauen zu können, muss Laura in die Vergangenheit abtauchen. Auch wenn sie es da noch nicht weiß, hat sie die Chance, das Trauma aufzubrechen, das ihre Großmutter, ihre Mutter und sie selbst seit Jahrzehnten beschäftigt. Mir persönlich hat meine Recherchereise in die Heimat meiner Großmutter so vieles gegeben, und das, obwohl in unserer Familiengeschichte (soweit ich weiß), kein dunkles Geheimnis lauert, das es zu lüften galt. Es hat mir meine Großmutter einfach näher gebracht als es jede Erzählung jemals geschafft hätte. Es hat Fragen eröffnet, die ich vorher nie gestellt hätte. Laura braucht diese Reise für sich, um sich Änne, von der sie so enttäuscht ist, wieder näher zu fühlen. Um zu verstehen, dass ihre Großmutter nicht nur ihre Großmutter war, sondern vorher ein Leben hatte, das nur ihr gehörte, und das sie zu dem Menschen gemacht hat, der sie für Laura war.
„Ich wollte einen Ort finden, an dem ich meinen Roman fühle …“
Was hat Sie selbst nach Polen gezogen? Was wollten Sie aufspüren und was unbedingt mit eigenen Augen sehen?
Ich habe sehr viel über das historische Schlesien gelesen – Berichte, Tagebücher, Bildmaterial. Ich wollte sehen, welche Spuren es noch zu entdecken gibt, wie sich das Leben dort heute anfühlt. Ich wollte einen Ort finden, an dem ich meinen Roman fühle, wollte alles noch plastischer für mich machen, damit ich es am Ende authentischer erzählen kann. Und ich wollte an der Oder stehen, mit meinem neuen Recherchewissen angefüllt, den Fluss auf mich wirken lassen, der in beinahe allen Erinnerungen, die ich gelesen habe, eine so zentrale Rolle spielt. Ich kannte die Oder bereits – aber dieses Mal hat sich der Anblick vollkommen anders angefühlt.
Was war für Sie am wichtigsten und beglückendsten daran, dass Ihre Schwester Louisa Sie auf Ihrer Recherchereise begleitet hat?
Meine Schwestern und ich stehen uns sehr nah, deshalb war es für mich ein großes Glück, die Erfahrungen dieser Reise und die Gefühle in Bezug auf unsere eigene Familiengeschichte, mit ihr teilen zu können. Es war eine intensive Zeit, wir haben so lange Strecken im Auto zurückgelegt, dabei viel gesprochen, sind mit so vielen Eindrücken und Fragen zurückgekommen – das hat auch uns beide auf eine Weise einander noch einmal nähergebracht.
„Verlust bedeutet meistens auch eine Möglichkeit zur Veränderung.“
Was ist die größte Herausforderung für Laura und schließlich auch für Ellen im Umgang mit ihrer Familiengeschichte?
Wer wir sind, machen wir ja oft an gefühlt unverrückbaren Wahrheiten fest. Wenn diese Wahrheiten ins Wanken geraten, wird natürlich auch die eigene Identität in Frage gestellt. Und doch ist genau das für Laura und Ellen auch die Chance, eine neue Sicht auf ihr Leben und auf einander zu finden. Und wieder näher zusammenzuwachsen. Verlust bedeutet meistens auch eine Möglichkeit zur Veränderung.
Was war Ihr größter Glücksfall beim Aufspüren von Quellen und Zeitzeugnissen?
Am meisten geholfen hat mir das Tagebuch eines Pfarrers aus der Region, in der mein Roman spielt. Er hat akribisch festgehalten, wie es im Frühjahr 1945 war, als die sowjetische Armee näher rückte und der Krieg auch in Schlesien ankam. Wie die Dynamiken zwischen den Menschen sich veränderten, wie die Angst um sich griff, wie groß die Ungewissheit war, all das konnte ich seinem Bericht entnehmen und daher hoffentlich sehr authentisch darstellen.
Was ist die Essenz Ihres Romans für unser Hier und Jetzt?
Die Menschen in der Region Schlesien waren am Ende des Zweiten Weltkriegs von massiven politischen Umwälzungen und Vertreibungen betroffen. Diese Ereignisse – der Verlust der Heimat, das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen und das Auseinanderbrechen von Familienstrukturen – betreffen nicht nur die damaligen Generationen, sondern sind heute relevanter denn je, besonders in Bezug auf Migration und die Suche nach Heimat und Zugehörigkeit. Die Mutter-Tochter-Beziehungen zwischen Änne, Ellen und Laura spiegeln, wie Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden können, wenn Dinge nicht ausgesprochen oder verarbeitet werden. Und dann ist da noch das Thema der Identitätssuche. Wie können wir unser Selbstverständnis und unsere Zugehörigkeit finden, wenn unsere Wurzeln in Frage gestellt werden? Wie kann es uns gelingen, Familientraumata auch Generationen später noch zu überwinden?

