Beeindruckend, wie Nora Bossong in allen Genres brilliert: vom Rotlicht-Report über Lyrik bis zu ihren großen Romanen wie „Schutzzone“ über eine Mitarbeiterin der Vereinten Nationen. Für ihr außergewöhnliches Werk wurde die Berliner Autorin vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Thomas-Mann-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis. Nora Bossongs besondere Stärke: Mit empfindsamem Sensorium verbindet sie das politische Weltgeschehen und feine Psychogramme ihrer Protagonist:innen. Furios: ihr aktueller Roman „Reichskanzlerplatz“, ein Doppelporträt der Frau, die Magda Goebbels wurde.

Wohin versetzen Sie uns mit Ihrem Romantitel „Reichskanzlerplatz“?
Es geht nach Berlin, in die 1920er und 1930er Jahre. Am Reichskanzlerplatz im Westen der Stadt bezog Magda Quandt nach ihrer Scheidung vom Unternehmer Günther Quandt ihre erste eigene Wohnung – und wurde wenig später zu Magda Goebbels.

Was war Ihr Hauptauslöser für Ihren neuen Roman?
Eine der treibenden Fragen war, wie aus der jungen Weimarer Demokratie in so kurzer Zeit die schlimmste Diktatur der deutschen Geschichte werden konnte. Was ist damals passiert, auch in den Köpfen der Menschen? Das ist heute – bei allen Unterschieden zu den 1920er Jahren – wieder hochaktuell, denn wir erleben, wie unsere Demokratie von außen und innen massiv angegriffen wird.

„Wie würden wir selbst uns an ihrer Stelle verhalten?“

Die Verlagsankündigung verspricht ein „intensives Porträt über die Frau, die Magda Goebbels wurde, und ihren jungen Geliebten“. Warum haben Sie sich dabei für einen Roman entschieden?
Ein Roman holt Menschen und ihre Gedanken nah an uns heran, wir treten in ihr Leben ein. Das eröffnet uns viel und es fordert auch heraus – denn während wir den Figuren folgen, fragen sie uns sehr persönlich, wie wir uns selbst an ihrer Stelle verhalten würden.

Magda Goebbels hat sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Was prägt Ihr Bild?
Als fanatische Nationalsozialistin unterstützte sie das Regime und dessen Vernichtungsideologie. Sie lieferte die „schönen“ Bilder einer scheinbar heilen Welt inmitten absoluter Grausamkeit. Die Vorzeigemutter des NS-Regimes schockiert uns nicht zuletzt durch den Mord an ihren eigenen Kindern. Aber selbst sie ist nicht radikal böse auf die Welt gekommen. Ich wollte wissen, wie sie zu der Frau wurde, die sie in der NS-Zeit war.

Die historische Magda Goebbels kollidiert mit unserem Frauenbild von heute. Was macht für Sie die Auseinandersetzung mit ihr vielversprechend aufschlussreich – auch für unser Hier und Jetzt?
Die NS-Inszenierung erzählt von einer Frau, die sich aufopfernd um ihre zahlreichen Kinder kümmerte. Sie ist nicht für sich, sondern für andere da. So absolut gilt dieses Ideal nicht mehr, aber bis heute erleben wir, dass Frauen anders als Männer abgewertet werden, wenn sie mit der Mutterrolle fremdeln oder gar keine Kinder haben.

Ins Spiel bringen Sie einen ziemlich unbekannten Mann im Leben von Magda. Wie kamen Sie auf ihn und wodurch gewinnt er Wichtigkeit in Ihrem Roman? Welche Funktion erfüllt er?
Sie hatte während ihrer ersten Ehe einen jungen Liebhaber, noch in den 1920er Jahren. Über ihn ist wenig bekannt, und mir war sofort klar: Mit ihm habe ich die Möglichkeit, ganz nah an sie heranzukommen, aber zugleich eine gewisse Distanz zu bewahren. Und zudem gibt es mir literarischen Spielraum, da er wie eine Leerstelle in ihrer Biografie ist.

„Im NS-Regime wird Magda für Hans zur realen Gefahr.“

Der überlieferte Liebhaber wird in Ihrem Roman zum Protagonisten. Wer ist dieser Hans Kesselbach für Sie?
Hans lernt Magda über ihren Stiefsohn kennen, seinen Schulfreund Helmut. Hans ist in Helmut verliebt, doch dazu darf er nicht stehen. Für Homosexualität gibt es in seinem Umfeld kein Verständnis. Später unter dem NS-Regime wird Magda für Hans auch zur realen Gefahr, und zu seiner Trauer kommt die Angst hinzu.

Am Anfang Ihres Romans ist die Weimarer Republik noch jung, genau wie Magda und Hans. Warum haben Sie diesen Ausgangspunkt zu Beginn der 1920er Jahre gewählt? Weil da alles noch offen ist?
Die junge Demokratie der Weimarer Republik war eine große Hoffnung, und mir war es wichtig zu zeigen, dass die Geschichte nicht zwangsläufig in die Katastrophe lief, sondern dass Menschen sich so entschieden. So wie meine beiden Protagonisten, die immer wieder an Scheidewegen auch anders hätten abbiegen können.

Welche Entwicklungen und Berührungspunkte interessieren Sie am meisten im Doppelporträt von Magda und Hans?
Das Doppelporträt hat es mir ermöglicht, an Wendepunkten der „großen“ Geschichte die persönlichen Wege und Entscheidungen aufzuzeigen, auch die unterschiedlichen Konsequenzen, die das mit sich brachte.

Ihr Roman beginnt wie eine Coming-of-Age-Geschichte. Wer oder was hat den stärksten Einfluss auf Hans?
Sein Schulfreund Helmut ist Hans’ erste Liebe, aber eine Liebe, die nicht sein darf. Auch Jahre später wird Helmut für ihn eine unerreichbare und große Sehnsucht bleiben.

„Emotionslosigkeit, Berechnung und schließlich ein tiefer Abgrund.“

Was genau zieht Hans schon bei der ersten Begegnung mit Magda in den Bann?
Sie ist jung, schön und scheinbar ganz rein. Dahinter offenbaren sich aber mehr und mehr auch ihre Emotionslosigkeit, Berechnung und schließlich ein tiefer Abgrund.

Was treibt Hans und Magda einander in die Arme?
Beide fliehen vor etwas – Hans vor seiner Homosexualität, Magda vor einer erstarrten Ehe, die wie eine Depression auf ihr lastet. Sie halten sich aneinander fest, aber weniger wie zwei Beschenkte, eher wie zwei Ertrinkende.

1933 wird der Nationalsozialismus zur Staatsdiktatur und Magda zur Ikone. Was ist dabei entscheidend? Ihre eigenen Ambitionen? Oder die NS-Ideologie?
Beides! Für Hitler war Magda sehr wichtig – er wusste, dass er eine Art „First Lady“ brauchen würde, und er hat schnell gesehen, dass Magda die perfekte Besetzung dafür war. Und sie selbst, ihre Eitelkeit, ihr Narzissmus, aber auch ihre absolute Gefolgschaft haben das Übrige beigetragen.

„Du kannst nicht immer wegsehen!“

Was ist typisch für Hans‘ Wahrnehmung des politischen und gesellschaftlichen Geschehens?
Hans verdrängt viel. Er ist eigentlich klug und informiert, und doch braucht es Menschen, die ihm klar sagen: Hier, so steht es im Moment, du kannst nicht immer wegsehen.

Inwiefern verstricken sich Magda und Hans trotz unterschiedlicher Positionen beide im Moloch des NS-Staats?
Magda Goebbels geht absolut überzeugt ihren Pakt mit dem NS-Staat ein. Sie lebt die Ideologie. Hans arrangiert sich mit dem Regime. Bei ihm erleben wir, wie jemand auch entgegen seiner eigenen Werte mitläuft, teils aus wirklicher Angst, teils aus Feigheit.

Ungefähr in der Mitte Ihres Buches gerät Hans in einen Zwiespalt. Worum ringt er? Um Antworten? Oder Erleichterung seines Gewissens?
Es geht darum, wie nah er dem Regime eigentlich gekommen ist oder allgemeiner gefasst: wie wir individuell Verantwortung tragen im großen Ganzen.

Welche zeitlosen und universellen Fragen stecken in Ihrem Roman?
Es geht um die Frage nach dem Bösen und die Frage, wie wir lieben. Welche Liebe sein darf, welche Liebe aufrichtig, welche aber auch in sich zerstörerisch ist.