„Olga Grjasnowa ist das Beste, was unserer Literatur passieren konnte“ (Denis Scheck). Seit ihrem gefeierten Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ eröffnet sie mit jedem ihrer Werke neue Perspektiven, ob in ihren Essays wie „Die Macht der Mehrsprachigkeit“ oder in ihren preisgekrönten Romanen. Nun spürt sie in „Juli, August, September“ der Identitätssuche ihrer Protagonistin Lou nach – und der unter der Familiengeschichte verschütteten Wahrheit.

„Juli, August, September“ ist ungemein vielschichtig. Was ist für Sie das Hauptthema oder der Kern?
Für mich sind es eigentlich zwei Felder, zum einem die Erinnerung an den Holocaust und wie diese in einer Familie weitergegeben wird, und dann natürlich noch die Familie selber. Die man gegründet hat und der man womöglich an manchen, seltenen Tagen gerne entkommen würde.

Ihr Roman führt von Berlin über Gran Canaria nach Israel. Welcher Kompass hat Sie bei der Wahl der Schauplätze geleitet und welche persönlichen Bezüge haben Sie zu den Orten?
Ich habe sehr lange, zumindest für meine Verhältnisse, in Berlin gelebt und mag die Stadt sehr gerne. In Israel habe ich viel Familie und war bereits oft dort. Und auf Gran Canaria habe ich sehr lange den im Roman beschriebenen All-Inclusive-Urlaub mit Kinderpool, meinen Eltern und meinen Kindern verbracht. Es ist, ehrlich gesagt, sogar genau das Hotel, das ich im Roman beschreibe. Ich fürchte, ich kenne dort jeden Meter.

„Lou ist recht verloren.“

Sie erzählen aus der Perspektive von Ludmilla, genannt Lou. Wer ist sie für Sie?
Meine Vorstellungen von ihr haben sich während des Schreibprozesses ziemlich gewandelt, wie der Text selber. Lou ist eigentlich eine selbstsichere und ehrgeizige Frau, nur hat der Verlust eines Kindes sie ihrem Leben und sich selber entfremdet. Nun ist sie recht verloren.

Zwischen Ihnen und Lou gibt es biografische Berührungspunkte wie die Herkunft der Familie aus Baku und das Kunststudium. Was sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten oder Erfahrungen, die Sie Ihrer Protagonistin mitgegeben haben?
Es ist eigentlich nur der Herkunftsort. Aber natürlich ist es sehr praktisch, den eigenen Protagonist:innen ein paar Interessen mitzugeben, die sie mit mir teilen, schon damit die Recherche mehr Spaß macht.

Auf den ersten Blick wirken Lou, ihr Ehemann Sergej und die gemeinsame Tochter Rosa wie eine ganz normale deutsch-jüdische Familie. Was macht die drei für Sie besonders?
Es ist tatsächlich eine normale Familie. Eine, in der die Verantwortungen und die Arbeit immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Nur stecken gerade beide Eltern in einer Krise.

„Sergej wird unsicher und kann nicht mehr auftreten.“

Lous Ehemann Sergej hat es als Pianist weit gebracht. Wie prägt ihn seine Laufbahn als Profimusiker und womit ringt er?
Sergej hat immer „funktioniert“, er hat die perfekte Leistung gebracht, hat sich nie einen Fehler oder eine Auszeit erlaubt, alle waren glücklich. Doch auf einmal funktioniert er nicht mehr, er wird unsicher und kann nicht mehr auftreten.

Wie würden Sie den Beziehungsstatus von Lou und Sergej beschreiben?
Es ist kompliziert. Eigentlich lieben sich die beiden, aber ihre Kommunikation funktioniert nicht mehr und setzt die Entfremdung in Gang, genau wie ein Verlust, mit dem beide nicht klargekommen sind.

Lou möchte ihre kleine Tochter Rosa so gut sie kann beschützen und fördern. Was ist das Schwierige daran?
Wahrscheinlich scheitern alle Eltern daran. Natürlich möchte man immer nur das Beste als ein Elternteil für das eigene Kind, aber es ist unglaublich schwer, das auch zu erreichen. Lou möchte, dass ihre Tochter sich ihrer jüdischen Identität bewusst ist, aber sie ist nicht religiös und möchte zugleich, dass ihre Tochter lernt, ihre Identität in manchen Situationen zu verschweigen. An diesem Balanceakt scheitert Lou.

„Wie das Judentum an die Tochter weitergeben?“

Schon am Anfang bringt Lou die Frage nach der Identität ins Spiel. Was macht dieses Phänomen in Ihrem Roman besonders bedeutsam?
Lou, Sergej und ihre Tochter sind jüdisch, aber was das genau für sie bedeutet, muss noch ausgehandelt werden. Für sie ist es zwar eher eine kulturelle Performance als eine religiöse, aber dennoch stellt sich ihnen die Frage, wie sie das Judentum an ihre Tochter weitergeben.

Das Familienporträt reicht von Rosa im Kindergartenalter bis zu Urgroßtante Maya, die 90 wird. Worum geht es Ihnen bei Ihrer russischstämmigen deutsch-israelischen Mehrgenerationengeschichte?
Um die gemeinsame Familiengeschichte, die durch die Zeit, die gegenwärtigen Kriege und die Entfremdung durch die Migration in unterschiedliche Länder bestimmt wird.

Was macht Mayas 90. Geburtstag zum Schlüsselereignis?
Es ist ein Anlass, bei dem die ganze Familie sich nach einer langen Zeit versammelt und die einzelnen Familienmitglieder sich zueinander verhalten müssen. Zudem muss Lou noch einiges mit ihrer Großtante Maya klären, und der 90. Geburtstag könnte die letzte Chance sein.

Inwiefern spielt das Erzählen selbst eine Hauptrolle? Was macht es so essenziell?
Es gibt viele Familiengeschichten, die mitunter anders erzählt werden können, doch wie genau – das spielt für die einzelnen Familienmitglieder eine sehr große Rolle.

„Es geht um Erinnerungen …“

Ein Dreh- und Angelpunkt ist das, was Lou „Gründungsmythos unserer Familie“ nennt. Was hat es damit auf sich?
Es geht um die Erinnerungen an Lous Großmutter und ihr Überleben im Holocaust. Für Lou sind diese äußerst wichtig und sie möchte ihnen nachgehen.

Seit Ihrem Debüt geht es in Ihren Büchern um Mehrsprachigkeit. Welche Facetten sind Ihnen dabei bedeutsam beim Schreiben und im Leben?
Wir sprechen zu Hause mehrere Sprachen und in meinen Büchern geht es meistens auch um Gegenden, in denen Mehrsprachigkeit eine Rolle spielt.

„Sprachen formen uns und unser Denken.“

Welchen Einfluss haben Sprachen auf die Identitätsentwicklung?
Sie formen uns und unser Denken, aber nicht nur die einzelnen Sprachen, sondern auch die Dialekte.