

Auch als eBook auf Hugendubel.de erhältlich.
In Großbritannien gilt es als Qualitätsmerkmal, wenn Bücher über ein historisches Thema gut lesbar und spannend erzählt sind. Wer das in Deutschland versucht, musste sich lange Zeit den Vorwurf gefallen lassen, „journalistisch“ zu schreiben, was wiederum als unwissenschaftlich galt. Ich fand das schon immer absurd: als ob Kauderwelsch Ausdruck von Seriosität sei! Ich bin studierter Historiker und meine Bücher sind nach allen Regeln der Kunst recherchiert. Gleichwohl bin ich aber auch Schriftsteller und möchte Geschichte und Geschichten erzählen. Insofern sind für mich die wissenschaftliche Zuverlässigkeit und die spannende, literarische Erzählung zwei Seiten einer Medaille. Dass Geschichtsbücher auch große Literatur sein können, hat übrigens Winston Churchill bewiesen, der für sein mehrbändiges Werk über den Zweiten Weltkrieg 1953 den Literaturnobelpreis erhalten hat. Damit will ich mich aber jetzt nicht für irgendeine Auszeichnung ins Spiel bringen. (lacht)
„Neuanfang – zumal in dem Land, von dem das alles ausging?“
Im Zweiten Weltkrieg starben mehr als 60 Millionen Menschen, etwa 3,5 Prozent der damaligen Weltbevölkerung. Wie konnte nach diesem verheerenden Massenmord ein Neuanfang aussehen – zumal in dem Land, von dem das alles ausging?
Wie haben Sie den Zeitrahmen für „Ein Ende und ein Anfang“ abgesteckt?
Der Erzählrahmen hat sich nahezu von selbst ergeben. Das Buch beginnt am 8. Mai, dem Tag der deutschen Kapitulation, und führt die Leserinnen und Leser durch das Frühjahr bis zum 2. September, dem Tag der japanischen Kapitulation, die den Zweiten Weltkrieg formal beendet. So entsteht die Geschichte des Sommers 1945: Das „Dritte Reich“ ist am Ende – und eine neue Welt nimmt ihren Anfang.
Sie blicken nicht nur in den deutschen Alltag und die Abgründe 1945, sondern ziehen große Kreise. Welcher Kompass hat Sie da geleitet?
Das Buch erzählt von einer Zwischenzeit: Das „Dritte Reich“ ist nicht mehr, eine neue staatliche Ordnung in Deutschland existiert aber auch noch nicht. So vermisst es ein historisches Biotop, in dem die Zeit zugleich stillsteht und sich beschleunigt. Ein Ende und ein Anfang. Diese Zeitgleichheit der Ereignisse hat mich ungemein fasziniert.
„Geschichte auch aus der Perspektive der Menschen, über die entschieden wird.“
Klar war, dass die politischen Protagonisten in dem Chor mitsingen müssen, um bei Ihrem Bild zu bleiben. Also etwa Churchill, Truman, Stalin und de Gaulle. Für mich stand aber ebenso fest, dass ich die Geschichte nicht „von oben“ erzählen möchte, nicht nur aus der Perspektive der Handelnden, sondern auch aus der Perspektive der Menschen, über die entschieden wird. So setzte sich nach und nach der Chor zusammen.
In Ihren Büchern lernen wir Berühmtheiten von unbekannteren Seiten kennen. Was sind in „Ein Ende und ein Anfang“ die besten Beispiele dafür?
Wussten Sie, dass Winston Churchill es liebte, in der Badewanne liegend seine Briefe zu diktieren? Oder dass Harry S. Truman für Stalin und Churchill in Potsdam Klavier gespielt und Stalin sich darüber lustig gemacht hat? Oder dass Thomas Mann sich einmal so sehr mit seinem Pudel gestritten hat, dass es zu einem „Zerwürfnis“ zwischen den beiden kam? In seinem Tagebuch schrieb er allen Ernstes: „Zerwürfnis mit dem Pudel.“ Das sind nur Kleinigkeiten, doch diese Geschichten machen Geschichte hautnah erlebbar – und sind mitunter irre komisch.
In Ihrem Buch folgt auf US-Präsident Harry S. Truman und Alfred Döblin eine gewisse Else Tietze, von der bisher wohl kaum jemand gehört hat. Wer war sie und warum gehört sie unbedingt in Ihr Buch?
Else Tietze gehört zu den großen Unbekannten des Buches. Es war gar nicht so einfach, ein paar gesicherte Informationen über Frau Tietze zu erlangen. Sie ist Hausfrau, hat mehrere erwachsene Kinder und lebt im Berliner Bezirk Steglitz. So weit, so gut. Frau Tietze hat im Sommer 1945 ein Tagebuch geführt, das ich in einem Archiv gefunden habe. Und dieses Dokument ist faszinierend, denn sie schildert darin tagein, tagaus das Leben im kriegszerstörten Berlin. Vom Einmarsch der Roten Armee, der ständigen Suche nach Nahrung, dem Vegetieren in den Ruinen, der Ungewissheit, aber auch dem langsamen Aufblühen eines neuen Lebens.
„Wer bin ich? Wer will ich sein?“
Tagebücher sind spannende Quellen, denn dem Tagebuch vertraut man ja gerade solche Dinge an, über die man sonst zu keinem Menschen sprechen kann, darf oder will. Wer ein Tagebuch führt, schreibt „persönliche/vertrauliche“ Briefe an sich selbst und leistet Arbeit am Ich. In einem Tagebuch geht es oftmals um die zentralen Fragen im Leben eines Menschen: Wer bin ich? Wer will ich sein?
Der Exilheimkehrer und US-Sonderberichterstatter Klaus Mann macht einen Abstecher zu Richard Strauss. Was ist das Bemerkenswerteste daran?
Das Spannende an diesem Treffen war, dass Klaus Mann sich gegenüber Richard Strauss nicht zu erkennen gab. Die Familien Strauss und Mann standen nämlich nicht auf gutem Fuß miteinander. Strauss wusste also nicht, mit wem er es zu tun hatte und redete sich um Kopf und Kragen – und Klaus hatte eine Story, die sich in Amerika gut verkaufen ließ.
Sie haben auch bei den Berliner Philharmonikern recherchiert. Wer war Leo Borchard und was macht ihn – menschlich und künstlerisch – zur Lichtgestalt?
Leo Borchard ist eine tragische Figur. Er war ein angesehener Dirigent – und er war ein Held. Denn Borchard und seine Freundin Ruth Andreas-Friedrich waren im „Dritten Reich“ Teil einer Widerstandgruppe, die vielen Verfolgten des Regimes im Stillen geholfen hat. Die Berliner Philharmoniker ernannten ihn nach Kriegsende zu ihrem musikalischen Leiter und Borchard stand zweifellos am Beginn einer großen Karriere. Dann wurde er im Sommer ´45 von einem amerikanischen Soldaten versehentlich erschossen. Auch das ist eine Dimension von „Ende und Anfang“, nur dass der Anfang für Borchard nicht lange dauerte.
„Es war die Zeitgleichheit der Ereignisse …“
Das „Romanoff’s“ war im Los Angeles der 1940er-Jahre der Place-to-be, in dem neben Hollywoodstars auch deutsche Emigranten verkehrten. Benannt war dieses Schickimicki-Restaurant nach seinem Eigentümer Prinz Michael Dimitri Alexandrowitsch Obolensky-Romanoff, der von sich behauptete, ein Neffe von Zar Nikolaus II. zu sein. Das war aber gelogen, doch ich will nicht zu viel verraten. Es war die Zeitgleichheit der Ereignisse, die sich im „Romanoff’s“ spiegelte: Während Europa in Schutt und Asche fiel, lebten Emigranten wie Thomas Mann und Franz Werfel in einer Parallelwelt.
Sie sagen „Historiker haben einen Fetisch: Quellen.“ Welchen Stellenwert hat dabei Detektivarbeit?
Wie der Kriminologe einen Fall oder ein Verbrechen aufzuklären versucht, muss der Historiker ein geschichtliches Detail, einen historischen Zusammenhang oder auch ein ganzes Leben rekonstruieren. Die nötigen Indizien und Beweise, um bei dem Bild zu bleiben, findet man in Archiven. Als Historiker verbringt man Stunden, Wochen und mitunter Monate in Archiven und liest Akten, Briefwechsel, Tagebücher, betrachtet Fotos und dergleichen mehr. Vieles bringt einen nicht weiter, doch dann findet man plötzlich ein Dokument, das der Geschichte schlagartig eine ganz neue Wendung gibt. Dieses Glücksgefühl ist unbeschreiblich!
„Ich habe eine große Freude an diesen Detailbeschreibungen.“
Ich habe eine große Freude an diesen Detailbeschreibungen, doch sie sind keinesfalls Selbstzweck. Ich will die Leserinnen und Leser vielmehr in die Geschichte so weit involvieren, dass sie beim Lesen das Gefühl haben, neben den handelnden Personen zu stehen. Das schafft man als Autor, indem man ganz tief in eine Szene zoomt. Dabei denke ich mir nichts aus, denn ich bin ja kein Romancier. Wenn ich etwa schreibe, dass es an einem bestimmten Tag in Berlin oder Moskau geregnet hat, dann habe ich diese Information selbstverständlich recherchiert.
Was hat Sie beim Schreiben über das Atombomben-Inferno im August 1945 bewegt?
Mir war wichtig, die Abwürfe der beiden Atombomben und deren entsetzliche Folgen möglichst sachlich zu schildern. Es gibt darüber erschütternde Berichte von Zeitzeugen, wenn etwa das gleißende Licht der Explosion die Umrisse eines Mannes, der auf einer Steinbank sitzt, in das massive Gestein brennt, während von ihm selbst nichts übrigbleibt. Dem will und kann ich nichts hinzufügen.
Welche Schicksale haben Sie am meisten berührt?
Das Schicksal des bereits erwähnten Dirigenten Leo Borchard ist herzzerreißend, und die seelischen Nöte der Else Tietze lassen einen auch nicht kalt. Die junge Frau, die Billy Wilder ins Gesicht sagt, dass sie und ihre Mutter das Gas aufdrehen würden, sobald die Leitungen geflickt seien, machte mich ebenfalls sprachlos. Oder der junge Gustav Senftleben, der knapp das „Dritte Reich“ überlebt und dann im Vollrausch einen Nachbarn tötet – und damit sein neu gewonnenes Leben wegwirft. Man glaubt es kaum, was in diesem Sommer ´45 alles passiert ist!
Was macht „Ein Ende und ein Anfang“ aktuell für uns heute?
In Europa findet seit dem Februar 2022 ein brutaler Krieg statt. Auch dieser Krieg wird irgendwann, hoffentlich sehr bald, ein Ende finden. Doch wie werden dieses Ende und der darauffolgende Neuanfang aussehen? Präsident Harry S. Truman hat unter dem Eindruck seiner Erfahrungen mit der stalinistischen Sowjetunion in der Nachkriegszeit die amerikanische Außenpolitik neu ausgerichtet. Jede Nation sollte nach seiner Ansicht zwischen alternativen Lebensformen wählen können. Er versprach, den freien Völkern, die drohten, in die Hände Moskaus zu fallen, militärisch beistehen zu wollen. Diese Garantie, die als „Truman-Doktrin“ in die Geschichte eingehen sollte, löste die seit den 1820er-Jahren geltende „Monroe-Doktrin“ ab, der zufolge sich die USA nicht in europäische Angelegenheiten einmischen wollten. Genau das könnte aber bald wieder die Devise der US-Außenpolitik unter Donald Trump sein. Doch wer schützt dann Europa? Fragen wie diese machen den Blick auf 1945 so spannend und brandaktuell!