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WIE KAUM JEMAND sonst schrieb sie sich in die Herzen von Millionen Leser:innen: Trude Teige, eine der erfolgreichsten Journalistinnen, TV-Moderatorinnen und Bestsellerautorinnen Norwegens. Ihren Welterfolg „Als Großmutter im Regen tanzte“ schrieb sie fort mit „Und Großvater atmete mit den Wellen“. Nun komplettiert sie die Familiensaga durch ihren neuen Roman „Wir sehen uns wieder am Meer“. Ein Epos über schicksalhafte Ereignisse der Kriegszeit, Geheimnisse und deren prägende Wirkung über mehrere Generationen bis in unsere Gegenwart.
Die Reaktionen auf Ihre Großeltern-Romane sind überwältigend. Was bewegt Ihre Leser:innen am meisten und wie beeinflussen Sie die Echos und Erfahrungen Ihrer Leser:innen beim Schreiben?
Ja, es ist wirklich überwältigend! Die Leser:innen sind offenbar tief berührt vom Überlebenskampf der Figuren in einer fast unerträglichen Lebenssituation – und davon, wie sie durch Beziehungen zu anderen Menschen Hoffnung und Kraft schöpfen. Auch die heilende Wirkung der Liebe bewegt viele. Die Reaktionen sind in Norwegen und in Deutschland ganz ähnlich. Oft beginnen sie mit Sätzen wie: „Das wusste ich gar nicht …“ oder: „Davon hatte ich noch nie gehört …“ Das verleiht dem Leseerlebnis eine besondere Tiefe, denn die Romane beruhen auf wahren, bislang unbekannten Geschichten und Ereignissen. Viele Leserinnen und Leser erzählen mir, dass sie etwas Neues gelernt haben – und das zu hören, erfüllt mich sehr.
„Romane sind Türen in andere Welten und Zeiten.“
„Erzählen ist essenziell“, wie Sie immer wieder betonen. Was überzeugt Sie so?
Wenn wir wissen, was unsere Vorfahren erlebt haben, können wir besser verstehen, was uns prägt, aus welchen Erlebnissen bestimmte Gefühle und Glaubenssätze entstanden sind, die uns weitergegeben wurden. In meiner Großmutter-Saga geht es zum Beispiel darum, wie Frauen Kriegserlebnisse verarbeiten, ob sie mit ihren Freundinnen oder ihren Kindern darüber sprechen können oder Geheimnisse tief in sich vergraben. Romane können uns helfen, einen empathischen, emotionalen Einblick zu gewinnen, sie sind Türen in andere Welten und Zeiten, lassen uns über den eigenen Horizont hinausblicken.
Ihr Lebensthema ist Zeitgeschichte, genauer gesagt: Schicksale im Zweiten Weltkrieg und danach. Was beschäftigt und fesselt Sie daran?
Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu erkunden, ist faszinierend – besonders, weil dabei so viele bisher unerzählte und bedeutende Geschichten zutage treten. Meistens wird die Geschichte des Krieges von Männern erzählt – und handelt auch von Männern. Doch das zeigt nur eine Hälfte des Ganzen. Die Erlebnisse von Frauen unterscheiden sich grundlegend: Sie erzählen nicht von Kugelhagel und Gefechten, sondern es sind Dramen anderer Art – oft schicksalhafte, tiefgreifende Erfahrungen.
„Alles begann mit einer Dame …“
Was brachte Sie auf die Idee, „Wir sehen uns wieder am Meer“ zu schreiben?
Alles begann mit einer Dame, die mich kontaktierte und mir von ihrer Mutter erzählte. Sie war aus ihrer Familie in der Sowjetunion herausgerissen und nach Norwegen gebracht worden, um dort zwangsweise für die deutsche Besatzungsmacht zu arbeiten. Ich wusste von den ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen in meinem Land, aber ich hatte noch nie gehört, dass auch Frauen unter ihnen waren. Es stellte sich heraus, dass ihre Geschichten nie erzählt wurden – und dass kaum jemand von ihnen weiß.
„Ich suche das, was verschwiegen wurde“, sagen Sie. Welche neuen Kapitel beleuchten Sie in „Wir sehen uns wieder am Meer“?
Es gab neben den Kriegsgefangenen in Norwegen rund 7.000 zivile Zwangsarbeiter, die von den Nationalsozialisten verschleppt worden waren. Darunter waren ungefähr 1.400 Frauen und 400 Kinder unter fünfzehn Jahren. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter arbeiteten z. B. in der wichtigen Fischindustrie, errichteten Festungsanlagen, Aluminiumwerke, Straßen und Eisenbahnen. Sie schufen eine Infrastruktur, die Norwegen vor dem Krieg nicht hatte. Viele tausend Menschen fanden dabei den Tod.
„Frauen … nahmen große Risiken auf sich.“
Vorzugsweise beleuchten Sie weibliche Perspektiven. Welche interessieren Sie dieses Mal besonders?
Ich erzähle vom Alltag der Zwangsarbeiterinnen in den Lagern, in denen zum Beispiel auch Kinder geboren wurden – aus Beziehungen von Gefangenen untereinander, aber auch aus Beziehungen zu norwegischen und deutschen Wärtern oder Soldaten. Es gab heimliche Liebesbeziehungen genauso wie Prostitution; und auch Vergewaltigungen waren keine Seltenheit. Daneben erfahren wir in „Wir sehen uns wieder am Meer“ auch vom Widerstand der norwegischen Bevölkerung gegen die deutsche Besatzung. Auch hier waren Frauen aktiv, von denen bisher wenig erzählt wurde – sie nahmen große Risiken auf sich und bezahlten oft einen hohen Preis dafür, dass sie sich für ihre Überzeugungen und die Freiheit einsetzten.
Warum haben Sie Bodø im Norden Norwegens als Hauptschauplatz gewählt?
Ich habe viel recherchiert, bevor ich die weiblichen Zwangsarbeiterinnen fand. In Bodø im Norden Norwegens gab es ungefähr 150 ukrainische Frauen in einer Fischfabrik. Die Umstände waren dramatisch: Die Stadt Bodø war 1940 von der deutschen Luftwaffe fast vollständig zerstört worden. Die Bedingungen waren dort schon für die einheimische Bevölkerung schwierig, erst recht in den Lagern. Das Leben im Norden ist hart, besonders wegen der langen, eisigen Winter. Doch mich fasziniert auch die Schönheit der nordischen Küstenlinie, der gewaltigen Natur, auch dafür ist Platz in meinem Roman.
Am Anfang Ihres Romans, im Januar 1944, beginnt ein neues Lebenskapitel für Birgit Johansen, die liebste Freundin von Tekla aus „Als Großmutter im Regen tanzte“. Wie würden Sie Birgit charakterisieren und was macht sie zur idealen Protagonistin?
Birgit ist Krankenschwester, eine neugierige, weltoffene junge Frau, die sich leidenschaftlich für russische Musik und Literatur begeistert. Als ihr Geliebter stirbt, sucht sie nach Abstand und einem neuen Lebenssinn: Sie meldet sich freiwillig, um in Bodø zu arbeiten, wo im Krankenhaus dringend Hilfe gebraucht wird. Eigentlich dürfen sie dort keine Zwangsarbeiterinnen behandeln, doch als Birgit der blutjungen Nadia begegnet, nimmt sie sich ihrer an. Birgit ist mitfühlend und willensstark, aber auch verletzlich. Auch der Kontakt zu einem russischen Kriegsgefangenen wird sie in Gefahr bringen.
„Birgit ist bereit, hohe persönliche Risiken einzugehen.“
Kaum in Bodø angekommen, wird Birgit in einer Widerstandsgruppe aktiv. Warum entscheidet sie sich trotz Lebensgefahr ganz bewusst dafür?
Birgit ist eine Frau, die etwas Bedeutsames erreichen und einen Unterschied machen möchte. Deshalb ist sie bereit, hohe persönliche Risiken einzugehen. Ihre Stärke bezieht sie aus der Freundschaft zu ihrer Jugendfreundin Tekla und zu Nadia, die ihr zu einer Art Schwester werden wird. Nach dem Krieg arbeitet Birgit als Übersetzerin bei den Verhandlungen zwischen Norwegen und Russland. Eine heikle, geheime Mission wird sie schließlich bis nach Moskau führen – auch hier haben mich wahre Begebenheiten inspiriert.
Ihre zweite Protagonistin ist die 1943 aus der Ukraine ins norwegische Bodø verschleppte Nadia. Was verkörpert sie für Sie?
Nadia wird als Sechzehnjährige zusammen mit Mitschülern direkt aus dem Schulunterricht geholt – deutsche Soldaten kommen in die Schule und zwingen die Jugendlichen, auf einen Lkw zu steigen. Die Lehrerin kann ihnen nur noch versprechen, dass sie ihre Eltern benachrichtigen wird. Nadia wird bis zum Kriegsende keine Möglichkeit bekommen, ihrer Familie zu schreiben oder etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Wie Nadia geraten im Krieg Menschen in einen Strudel, in dem sie ihr Schicksal nicht mehr selbst bestimmen können. Doch sie halten an der Hoffnung fest. Der Traum von einer besseren Zukunft verleiht ihnen die Kraft zum Überleben.
Auch als eBook | Hörbuch auf Hugendubel.de erhältlich.
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„Das Singen wird für Nadia zur Kraftquelle.“
Woher nimmt Nadia die Kraft, viele schreckliche Situationen und die Strapazen in der Fischfabrik auszuhalten?
Nadia ist erschöpft von der harten Arbeit; es wird in Zwölfstunden-Schichten gearbeitet, beim Waschen der Fische in eiskaltem Wasser sind die Frauen am ganzen Körper durchgefroren. Im Lager gibt es zu wenig zu essen und ständige Schikanen. In ihrer Depression hält Nadia sich an ihren Erinnerungen an ihr Zuhause, ihre Familie und an die ukrainische Landschaft fest – und an der Hoffnung, dass sie zurückkehren wird. Auch das Singen wird für Nadia zur Kraftquelle: Sie hat eine wunderbare Stimme, wie ihre Mutter, und verhilft mit ihrem Gesang ihren Mitgefangenen zu kurzen Auszeiten und Glück. Dann begegnet sie Birgit, die sich um sie sorgt, und schöpft neue Hoffnung. Als ein Norweger, der für die Deutschen arbeitet, auf sie aufmerksam wird, geht Nadia ein hohes Risiko ein.
Was schweißt Tekla und ihre liebsten Freundinnen zusammen? Würden Sie sagen, die Freundschaft der drei ist der Rettungsanker in schwersten Zeiten?
Ja, eine Lebensleine oder ein Anker. Für mich geht es in dem Roman auch darum, wie Menschen unterschiedliche – und manchmal auch falsche – Entscheidungen treffen. Doch trotz allem schaffen es diese Frauen, ihre Freundschaft aufrechtzuhalten. Sie brauchen einander, um die Wunden des Krieges zu heilen.
„Heilung hängt von der Hoffnung auf die Zukunft ab.“
Auch als der Krieg zu Ende ist, sind die Wunden längst nicht verheilt. Worauf kommt es Ihnen beim Umgang mit den furchtbaren Erfahrungen an?
Heilung hängt von der Hoffnung auf die Zukunft und dem Willen zu vergeben ab. Und ohne Liebe und Freundschaft ist das schwer. Zunächst versuchen die Freundinnen, nur nach vorn zu blicken, alles zu verdrängen, was ihnen widerfahren ist. Doch nach und nach wird ihnen klar, dass sie nur wirklich heilen können, wenn sie sich öffnen und über ihre Erlebnisse sprechen. Das gelingt ihnen mit ihren Freundinnen – Frauen, die ihnen verbunden sind, die Ähnliches durchgemacht haben. Birgit wird sogar therapeutische Hilfe bekommen, was zu der Zeit noch ungewöhnlich war. Birgit, Nadia und Tekla werden es auch durch ihre Freundschaft schaffen, glückliche, sinnvolle Leben zu führen. Doch nicht alles ist sagbar, und wir müssen auch Verständnis haben für das Schweigen. Tekla schafft es zum Beispiel nicht, ihrer Tochter die Wahrheit über ihren Vater anzuvertrauen; erst die Enkelin Juni, die die Geschichte erzählt, wird es später herausfinden und die Heilung vollenden.
Am meisten inspiriert Sie „gelebtes Leben“, wie Sie berichten. Welche historischen Vorbilder und Überlieferungen haben Sie bei der Arbeit an „Wir sehen uns wieder am Meer“ am stärksten inspiriert?
Alle drei Bücher der Saga sind von wahren Geschichten während und nach dem Zweiten Weltkrieg inspiriert worden. Neben den Schicksalen der ukrainischen Zwangsarbeiterinnen in der Fischindustrie und dem Leben im Nordlandkrankenhaus in Bodø haben mich die Geschichten von zwei Norwegerinnen inspiriert: Gunvor Galtung Haavik war eine Angestellte des Außenministeriums, die festgenommen und der Spionage für die Sowjetunion beschuldigt wurde; sie gestand ihre Schuld ein, starb aber im Gefängnis, bevor ihr Fall vor Gericht kam. Weniger bekannt ist, dass es bereits davor einen Hinweis auf eine norwegische KGB-Spionin gab und dass zuerst eine Frau namens Ingeborg Lygren verdächtigt und festgenommen wurde. Sie wurde nie verurteilt, die Verdächtigungen müssen sie aber ihr Lebtag lang belastet haben, denn als sie aus dem Gefängnis entlassen wurde, lebte sie fortan völlig zurückgezogen. Die Birgit in meinem Roman ist von den Schicksalen dieser beiden Frauen inspiriert.
Welche Kernbotschaft Ihres Romans legen Sie Ihren Leser:innen besonders ans Herz?
Wenn wir Liebe, Freundschaft und Hoffnung bewahren, können wir schwere Zeiten und persönliche Fehler durchstehen und wieder einen Sinn finden. Am Ende des Romans werden Birgit, Tekla und Nadia sich an der norwegischen Südküste wiedertreffen – und endlich befreit zusammen schwimmen und lachen können. Als sie in Teklas und Konrads Garten zusammensitzen, beginnt es zu regnen, und die Freundinnen tanzen zusammen im Regen. Tekla erklärt, der Regen sei der Applaus des Lebens. „Warum applaudiert man uns denn?“, wird gefragt, und die Antwort lautet: „Weil wir leben.“
