Schwedens Krimi-Queen Viveca Sten macht in den schönsten Regionen ihrer Heimat nicht nur Ferien, sondern sie siedelt an ihren Lieblingsorten auch ihre Kriminalromane an. Das Skiparadies Åre ist das perfekte Setting für ihre Polarkreis-Reihe – internationale Bestseller, die nun ebenso erfolgreich als Netflix-Serie „Die Åre-Morde“ sind. In Buchform ermittelt das Polizeiteam aktuell im 4. Band „Lügennebel“, dem härtesten Fall für Hanna Ahlander & Co.

Ihr neues Buch bezeichnen Sie als „Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen“. Was hat dieses Drama verursacht?
Das Schreiben von „Lügennebel“ hat mich wirklich gefordert – körperlich, emotional und kreativ. Die Geschichte dreht sich um eine Gruppe von Student:innen, deren Freundschaften während eines Skiausflugs nach Åre zerbrechen. Es ist zutiefst beunruhigend, wie Loyalität unter Druck zu Selbstschutz werden kann. Hinzu kam, dass ich mich während des Schreibens von diesem Band von einem schweren Skiunfall erholte, bei dem ich mir das linke Bein buchstäblich in tausend Stücke gebrochen hatte. So wurde das Projekt zu einer sehr persönlichen und intensiven Angelegenheit. Das „Blut, Schweiß und Tränen“ waren nicht nur metaphorisch gemeint – sie waren real.

Inwiefern ist Ihnen die Arbeit an Ihrem Buchprojekt zum Rettungsanker nach Ihrem Skiunfall geworden?
Als ich verletzt war, konnte ich körperlich nicht viel tun – aber mein Geist wollte weiterhin arbeiten, etwas schaffen, Dinge verarbeiten. Das Schreiben wurde nicht nur zu meinem Beruf, sondern auch zu meiner Therapie. Das Eintauchen in die komplexen Dynamiken dieser Gruppe von Student:innen half mir, meinem eigenen Schmerz zu entfliehen, und gab mir wieder einen Sinn. Als Hanna und ihr Team begannen, die Schichten der Geheimhaltung und des Verrats abzutragen, tat ich etwas Ähnliches mit mir selbst – ich baute mich Schritt für Schritt wieder auf.

„Hannas Gespür ist oft schärfer als forensische Methoden.“

Åre ist das Revier der Polizistin Hanna Ahlander. Was macht sie als Hauptfigur einer Krimireihe interessant?
Hanna ist jemand, der am Boden zerstört war – und sich neu erfinden musste. Allein das macht sie schon faszinierend. Sie bringt sowohl Verletzlichkeit als auch Stärke in ihre Rolle bei der Polizei ein. Sie hört mehr zu als sie spricht, bemerkt Dinge, die andere übersehen, und hat ein emotionales Gespür, das oft schärfer ist als forensische Methoden. Hanna löst Fälle nicht aus der Ferne – sie lässt sich darauf ein, und diese Spannung zwischen Engagement und Professionalität verleiht der Reihe ihre emotionale Tiefe.

Hannas Neustart in Åre war alles andere als einfach. Welche Eigenschaften und Fähigkeiten haben ihr geholfen, sich eine neue Existenz aufzubauen?
Mut und emotionale Intelligenz. Hanna kam nicht als triumphierende Persönlichkeit nach Åre – sie kam gebrochen an, ihre Karriere und ihr Privatleben lagen in Trümmern. Aber statt sich zurückzuziehen, blieb sie. Sie beobachtete, hörte zu, lernte. Sie knüpfte Kontakte zu ihren Kollegen – wie Daniel, Anton und Raffe – nicht durch Prahlerei, sondern indem sie zeigte, dass man ihr vertrauen konnte. Und vor allem nimmt sie die Menschen ernst. Das kann man in der Polizeiausbildung nicht lehren.

Zu welchem Status hat es Hanna inzwischen bei der Abteilung für Schwerkriminalität gebracht?
Sie ist nicht mehr die Außenseiterin. Hanna hat ihren Rhythmus gefunden und sich ihren Platz im Team verdient. Unter der Leitung von Polizeikommissarin Birgitta Grip hat Hanna Raum, sich zu entfalten – und das hat sie mit Selbstvertrauen getan. Sie ist besonders wertvoll in Fällen, in denen die Motive unklar sind und die Psychologie genauso wichtig ist wie physische Beweise. In „Lügennebel“ ist dies genau die Art von Umgebung, in der sie sich wohlfühlt: emotional aufgeladen, moralisch ambivalent und zutiefst menschlich.

„Das Team funktioniert, weil sie sich ergänzen.“

Wer sind Hannas wichtigste Kolleg:innen im Polizeiteam?
Mit Daniel Lindskog arbeitet sie am engsten zusammen. Ihre berufliche Chemie ist unbestreitbar, auch wenn beide es vermeiden, sich zu nahe zu kommen. Dann gibt es noch Anton Lundin, nachdenklich und zuverlässig, und Raffe Herreda, dessen Herzlichkeit und Instinkt oft als stabilisierende Kraft im Team wirken. Und natürlich Birgitta Grip – streng, aber fair, eine Führungskraft, die es versteht, Verantwortung zu übertragen, ohne zu überfordern. Zusammen bilden sie ein Team, das nicht deshalb funktioniert, weil sie gleich sind, sondern weil sie sich ergänzen.

Auch nach acht Monaten ist Hanna noch überrascht, dass sie und Henry Sylvester ein Paar sind. Warum? Was verkörpert dieser Mann?
Henry bringt etwas in Hannas Leben, von dem sie nicht wusste, dass sie es brauchte: Ruhe. Er ist nachdenklich, bodenständig und kommt aus einer völlig anderen Welt – aber irgendwie haben sie etwas aufgebaut, das funktioniert. Hanna ist es gewohnt, vorsichtig und immer auf der Hut zu sein. Mit Henry kann sie aufatmen. Ihre Unterschiede – Herkunft, Temperament, finanzielle Verhältnisse und Alter – hätten Hindernisse sein können, aber stattdessen bieten sie Kontrast. Er versucht nicht, sie zu ändern, sondern akzeptiert sie einfach so, wie sie ist. Das ist selten.

„Es ist nicht das Geld, das tötet …“

Welche Rolle spielt in „Lügennebel“ eigentlich Geld – oder genauer gesagt: Reichtum?
Reichtum ist ein Faktor, aber nicht zentral. Was die Spannung in „Lügennebel“ antreibt, ist der soziale Zusammenhalt – wer dazugehört, wer ausgeschlossen ist und was die Menschen bereit sind zu tun, um in der Gruppe zu bleiben. Diese jungen Erwachsenen kennen sich gut – oder glauben zumindest, dass sie sich gut kennen – und sie sind sehr auf Status bedacht, sei es finanzieller, sozialer oder emotionaler Art. Wenn einer von ihnen ausgeschlossen wird, beginnt sich alles zu verändern. Es ist nicht das Geld, das tötet – es sind Angst, Druck und der langsame Verlust des Vertrauens.

Polizeikommissar Daniel Lindskog hat eine gescheiterte Beziehung hinter sich. Was ist sein Hauptproblem und was ist für Sie das Erzählenswerte an solchen Sorgen und am Alltagsleben allgemein?
Daniel ist akribisch, intelligent – und emotional verschlossen. Seine Trennung hat Narben hinterlassen, über die er nicht spricht, aber sie sind da und prägen seine Sicht auf die Welt. Ich finde es unglaublich spannend, über diese stillen Kämpfe zu schreiben. Wir denken oft, dass Detektive hartgesotten oder zynisch sein müssen, aber Daniels Zurückhaltung ist eine Form der Kontrolle. So schützt er sich davor, wie sein Vater und Großvater zu werden. Und ist das nicht etwas, was viele von uns im Alltag tun?

Hanna ertappt sich nicht selten dabei, dass sie an Daniel Lindskog denkt. Warum will sie sich ihre Gefühle für ihn unbedingt verbieten?
Zwischen Hanna und Daniel gibt es etwas Unausgesprochenes – das war schon immer so. Aber Hanna ist niemand, der in Beziehungen impulsiv handelt. Sie ist jetzt mit Henry zusammen und respektiert diese Verpflichtung. Gleichzeitig hat sie Angst. Angst, eine Freundschaft, eine Partnerschaft, ein fragiles berufliches Gleichgewicht zu riskieren. Die Grenze zwischen Komfort und Versuchung ist schmal, und sie weiß, dass die Dinge selten wieder so werden, wie sie waren, wenn man diese Grenze einmal überschritten hat.

„ … Loyalitäten verschieben sich.“

Worum geht es beim aktuellen Fall für Hanna, Daniel und deren Kolleg:innen?
Eine eng verbundene Gruppe von sechs Student:innen reist für eine Woche voller Skispaß und Unterhaltung nach Åre – doch nur fünf kehren zurück. Zunächst scheint es sich um einen tragischen Unfall zu handeln. Doch dann tauchen Unstimmigkeiten auf, Geschichten passen nicht zusammen und Loyalitäten verschieben sich. Hanna und ihre Kolleg:innen müssen nicht nur aufklären, was passiert ist, sondern auch warum – und das bedeutet, Freundschaften, Rivalitäten und tief verborgene Ressentiments zu entschlüsseln. Es geht nicht so sehr um die Frage „Wer war es?“, sondern vielmehr darum: „Wer musste die Wahrheit schützen?“

Was ist das für eine Clique, die da von Uppsala nach Åre ins Skivergnügen aufbricht?
Sie sind intelligent, ehrgeizig und scheinen als Student:innen einer renommierten Universität gut angepasst zu sein – doch ihre Dynamik ist alles andere als einfach. Einige üben Macht durch Charisma aus, andere durch Reichtum oder subtile Manipulation. Was mich faszinierte, war, wie schnell dieses Gleichgewicht unter Druck zusammenbricht. In dieser Gruppe ist der Status nicht festgeschrieben – er verschiebt sich, oft auf gefährliche Weise. Wer verteidigt wird, wer geopfert wird und warum – darum geht es in dieser Geschichte wirklich.

Was wirkt toxisch in der Clique?
Die Giftigkeit kommt nicht auf einmal – sie sickert langsam ein. Diese Gruppe hat eine Geschichte, und nicht alles daran ist gesund. Es gibt langjährige Rivalitäten, verschütteten Verrat und eine unausgesprochene Hierarchie, die den Frieden bewahrt hat – bis jetzt. Alkohol und Adrenalin lockern die Zungen, alte Spannungen kommen an die Oberfläche, und plötzlich beginnen die sorgfältig kontrollierten Rollen innerhalb der Gruppe zu bröckeln. Der Moment, in dem die Dinge außer Kontrolle geraten, hat nichts mit Gewalt zu tun – es geht um den Verlust der Kontrolle. Jemand sagt zu viel, jemand schweigt zu lange, und das reicht aus, um das Gleichgewicht zu kippen.

„Wenn Freundschaft nur noch eine Fassade ist.“

Was löst der rätselhafte Todesfall in der Clique aus?
Der Tod ist der Wendepunkt – aber er ist kein isolierter Vorfall. Er ist das Ergebnis von Druck, Schweigen und Mittäterschaft. Auslöser war die tiefe Angst, ausgeschlossen zu werden, zum Sündenbock, zum Außenseiter zu werden. In dieser Gruppe zählt das Äußere, und sobald Risse sichtbar werden, beginnt jeder, sich selbst zu schützen. Nach dem Vorfall wird Freundschaft zu einer Fassade – etwas, das aus Angst oder Schuldgefühlen aufrechterhalten wird, nicht aus Liebe. Was bleibt, ist keine echte Freundschaft mehr, sondern eine Art kollektives Trauma.

Inwiefern geht es Ihnen um das Ringen um Zugehörigkeit, ob im Polizeiteam oder in der Student:innenclique?
Das ist wirklich der Kern des Romans – dieses menschliche Verlangen nach Zugehörigkeit. Ob Sie nun ein Student sind, der versucht, seinen Platz in einer eng verbundenen Clique zu behaupten, oder ein Polizist, der lernt, seinem Team zu vertrauen – das Bedürfnis, akzeptiert und geschätzt zu werden, ist universell. In beiden Welten besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Treue zu sich selbst und der Anpassung an die Gruppe. „Lügennebel“ fragt: Was würdest du opfern, um Teil der Gruppe zu bleiben? Und zu welchem Preis? Manchmal ist der Preis dein Gewissen. Manchmal ist es deine Sicherheit.

Ihre Krimis sind immer auch Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse – und ein Stück Sozialkritik. Was hatten Sie in „Lügennebel“ besonders im Blick?
In „Lügennebel“ wollte ich die unausgesprochenen Zwänge der Gruppenzugehörigkeit untersuchen, insbesondere unter jungen Menschen. Diese Student:innen sind intelligent, privilegiert und nach außen hin selbstbewusst – aber innerlich sind viele von ihnen unsicher und haben Angst vor Ausgrenzung. Ich sehe Parallelen in der Gesellschaft insgesamt, wo das Aufrechterhalten des Scheins oft Vorrang vor Ehrlichkeit hat. Der Roman thematisiert auch emotionalen Missbrauch in Freundschaften – eine Form der Kontrolle, die genauso zerstörerisch sein kann wie körperliche Gewalt. Darüber wird viel zu wenig gesprochen.

„In Åre ist die Natur atemberaubend.“

Wir „dürfen eine Märchenlandschaft genießen, in der der Mensch nur zufälliger Gast ist“, überlegt sich Hanna mitten in der wunderbar verschneiten Berglandschaft. Was macht Ihnen selbst diesen Gedanken bedeutsam?
Dieser Satz liegt mir sehr am Herzen. In Åre ist die Natur atemberaubend, überwältigend – und völlig gleichgültig gegenüber menschlichen Dramen. Sie erinnert uns daran, dass unsere Krisen, unsere Verbrechen, sogar unsere Beziehungen im großen Ganzen nur von kurzer Dauer sind. Diese Demut hat etwas Tröstliches. Ich glaube, wir vergessen, wie vergänglich wir sind, wie viel im Leben außerhalb unserer Kontrolle liegt. Diese Erkenntnis ist Hannas Moment der Klarheit – und auch meiner. Die Natur stellt die Waage wieder her. Sie erinnert uns daran, still zu sein, zu beobachten und unseren Platz zu verstehen.

Ihre Polarkreis-Krimis wurden in der Miniserie „Die Åre-Morde“ zu Netflix-Erfolgen. Welchen Anteil haben Sie an der Verfilmung?
Ich war intensiv in den Adaptionsprozess involviert, aber ich habe das eigentliche Drehbuch nicht geschrieben. Ich hatte das Glück, dass sowohl für „Mord im Mittsommer“ als auch für „Die Åre-Morde“ hervorragende Drehbuchautoren am Werk waren. Ich lese jedoch alle Manuskripte und gebe Kommentare dazu ab. Die Handlung kann sich aus Gründen des Tempos oder der Struktur leicht verschieben, aber das Wichtigste ist, dass Hanna sich wie Hanna anfühlt, dass Daniel seinen stillen Schmerz trägt und dass Åre mit seiner kalten, eindringlichen Schönheit atmet.

Welche Fortsetzungen planen Sie, ob auf Netflix oder in Buchform?
Ich arbeite derzeit am sechsten Buch der Åre-Reihe und kann schon verraten, dass Hanna und Daniels Privat- und Berufsleben noch weiter auf die Probe gestellt werden. Der Schauplatz bleibt Åre – dessen Schönheit und Abgeschiedenheit mich nach wie vor faszinieren – und das Verbrechen, um das sich die Geschichte dreht, ist mein bisher aktuellstes. Was Netflix angeht, so laufen derzeit Gespräche. Der Erfolg der Miniserie hat mir Türen geöffnet, aber ich bin vorsichtig, was das Tempo angeht. Für mich ist nicht nur wichtig, was als Nächstes kommt, sondern auch, ob es das Universum, das meine Bücher erschaffen haben, vertieft.