Auf den Frühling freut sich Annette Lepple wie wir alle. Endlich wieder barfuß die Morgenrunde drehen und frische Knospen entdecken! Aber sie kann auch der morbiden Schönheit von Winterlandschaften viel abgewinnen. Grüne Wunder von Achtsamkeit bis Zufriedenheit erlebt die Gartendesignerin mit Studium in London und viel Gartenerfahrung von Irland bis zur Schweiz nun in ihrem neuen Refugium, das im Einklang mit dem Klima im französischen Zentralmassiv seinen Zauber entfaltet – dank Wabi Sabi, einer Lebensphilosophie, die ihre Wurzeln in Japan hat und auch bei uns Wohltaten bewirkt.​

Wenn Sie jetzt im Winter aus dem Fenster schauen: Was macht Ihnen besonders Freude beim Blick in Ihren Garten?
Die morbide Schönheit des „sterbenden“ Gartens mit seinen Samenständen und Gräsern. Und die Aktivität, die darin herrscht, denn er ist voller Vögel und anderer Lebewesen.

Was ist an dieser Gartenimpression charakteristisch für Wabi Sabi?
Wabi Sabi zelebriert den Zauber des Wandels und der Vergänglichkeit. Diesen Zauber erlebt man im Garten aber nur, wenn man Pflanzen wählt, die sich im Lauf des Jahres verändern. Wahre Schönheit ist subtil und liegt im Detail.

Welche Werte sind am wichtigsten bei Wabi Sabi?
Akzeptanz, Authentizität, Einfachheit.

„Ich nenne es Schlüssel zum Glück“

Sie betonen, dass Wabi Sabi nicht bloß ein Trend ist. Welche Bezeichnung finden Sie treffender?
Wabi Sabi ist ein Konzept, eine Weltanschauung, die sich aus dem Zen-Buddhismus und der Teezeremonie entwickelte und auf ästhetischen und philosophischen Prinzipien beruht. Es birgt enorm viel Wahrheit und Potenzial für unser eigenes Leben. Ich nenne es den „Schlüssel zum Glück“.

Welche Haltung verbindet Wabi Sabi und die Teezeremonie?
Essenziell ist das bewusste Sein im Augenblick. Aber auch die Einstellung zur Natur, das Erkennen von Schönheit in subtilen Details sowie die Wertschätzung dieser Schönheit sind charakteristisch für Wabi Sabi und die Teezeremonie.

Inwiefern ist Wabi Sabi typisch für die japanische Kultur?
Wabi Sabi spiegelt das japanische Schönheitsideal wider, das sich grundlegend von unserem unterscheidet. Wir schätzen alles, was majestätisch und vermeintlich „perfekt“ ist, und huldigen dem hellenistischen Ideal. Im Gegensatz dazu bringen bei Japanern Aspekte der Vergänglichkeit und Unvollkommenheit eine Saite zum Klingen.

„Hanami ist ein wunderschönes Symbol für Wabi Sabi“

Das wohl bekannteste japanische Naturereignis ist „Hanami“, die Kirschblüte, die mit Hingabe zelebriert wird. Was symbolisiert sie für Sie?
Hanami ist ein wunderschönes Symbol für Wabi Sabi: Nichts ist jemals fertig oder vollkommen, alles ist vergänglich. Die Blüte ist nur von ganz kurzer Dauer, aber gerade deshalb wertvoll. Man zelebriert und erlebt diesen Moment aufrichtig und intensiv.

Und wie hat Wabi Sabi Ihr Leben zum Positiven verändert?
Ich war immer ein Mensch, der nach Perfektion strebte, sich selbst antrieb und unter Druck setzte. Wabi Sabi hilft mir, die Dinge zu relativieren und gelassener zu sehen. Das ist gerade in der heutigen Zeit extrem wichtig, denn zum Druck, dem man sich selbst aussetzt, kommen noch die Einflüsse in unserer Gesellschaft. Hatte man früher mehr Ruhe und war auf eine Art wohltuend isoliert, so wird man heute permanent berieselt und beeinflusst. Es braucht viel Selbstdisziplin, um sich all dem bewusst zu entziehen. Das ist nichts, was man von heute auf morgen lernt, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Ich strebe auch heute noch nach „mehr“ auf intellektueller und spiritueller Ebene, bin aber weniger streng mit mir selbst und anderen.

„In der Natur spüre ich positive Energien …“

Welches Wabi Sabi-Ritual pflegen Sie am liebsten?
Einmal am Tag gehe ich mit meinem Hund in den Wald. Gemeinsam genießen wir die Stille, die verschiedenen Gerüche, Geräusche und Begegnungen. Abgesehen von meinem Garten bin ich in der Natur am glücklichsten und spüre dort, wie positive Energien auf mich übergehen.

„Im Augenblick leben“ ist eine Anregung aus Ihrem Buch. Wie schaffen Sie das trotz Hektik überall und vollem Terminkalender?
Das ist manchmal eine Herausforderung, denn mein Kopf ist oft so voll mit Dingen, die mit dem Augenblick sehr wenig zu tun haben. Dennoch versuche ich so gut es geht, mich zwischendurch von all dem Ballast zu befreien. In diesem Zusammenhang war es für mich persönlich eine große Hilfe, meine Teilnahme an den sozialen Medien auf ein Minimum zu beschränken. Nun habe ich mehr Zeit und Lebensqualität, gleichzeitig reduzierte sich auch der Druck von außen.

„Carpe diem: Der Augenblick zählt.“

Ein Buchkapitel widmen Sie der Bedeutung von Wabi Sabi für heute. Was macht es so aktuell?
Wabi Sabi hilft uns dabei, uns zu erden und Prioritäten richtig zu setzen. Carpe diem: Der Augenblick zählt, und dass wir unsere Zeit bewusst und sinnvoll nutzen, anstatt irgendwelchen Idealen nachzulaufen. Der allgegenwärtige Konsum- und Wachstumswahn ist eine große Bedrohung für unseren Planeten und unser Wohlbefinden. Konsum macht nicht glücklich, wir müssen uns wieder auf echte Werte besinnen. Es geht um ein bewusstes und achtsames Er-leben.

Eine wichtige Wabi Sabi-Losung lautet „Zurück zur Natur“. Was umfasst das für Sie?
In unserer hektischen, lauten Zeit verlieren immer mehr Menschen den Draht zur Natur. Wenn man sich von ihr entfernt, entzieht man sich jedoch eine wesentliche Lebensgrundlage, denn sie ist fest in unserer DNA verankert. Nur wenn man sich als Teil der Natur sieht, wird man sie respektieren, schützen und ein erfülltes Leben haben.

Wabi Sabi kennt keine Zwänge, schreiben Sie. Was bedeutet das fürs Gärtnern?
Es ist wichtig, traditionelle Gartenideale zu hinterfragen, anzupassen oder neue Konzepte zu entwickeln. Man sollte den eigenen Garten nicht in ein Korsett zwängen, sondern ihm mit Respekt begegnen, einen harmonischen Raum kreieren, der der Seele gut tut.

„Nichts ist fertig, alles ist im Fluss.“

Wie hat Wabi Sabi für Sie das Gärtnern verändert?
Ich gärtnere mit mehr Gelassenheit und freue mich an meinem perfekt unvollkommenen Garten, in dem auch Wildkräuter willkommen sind. Nichts ist fertig, alles ist im Fluss. Ich lasse mich treiben und bin gespannt, was sich entwickelt.

Sie empfehlen „gezähmte Wildnis“. Wofür sind die „wilden Ecken“ und „naturbelassenen Winkel“ gut?
Wenn man Wildnis im Garten zulässt – und diese kann durchaus attraktiv sein – entstehen Refugien für allerlei Tiere, von denen viele sehr nützlich sind. Igel, Kröten, Schlangen, Salamander, Eidechsen, Vögel, Fledermäuse und Insekten nehmen wilde Ecken dankbar an. Wir haben Totholzhaufen, Steinhaufen und -mauern, umgeben von Wildblumen und heimischen Gehölzen. Diese Bereiche sind voller Lebewesen, die ihren Teil zum biologischen Gleichgewicht beitragen.

Wer begrüßt Sie morgens, wenn Sie die erste Runde draußen drehen?
Hier gibt es viele Vögel, aber auch Rehe, im Sommerhalbjahr kann es eine Äskulap- oder Grüngelbe Zornnatter sein. Hat es geregnet, treffe ich Kröten und Salamander. Sehr glücklich bin ich über die Eulen, die sich hier niedergelassen haben.

Auf Ihrer Checkliste für ein achtsames Leben steht unter anderem: „Kreativität statt Konsum“. Ihre drei schönsten Ideen in letzter Zeit?
Ein Doldenblütler aus Metall, ein Blätterkranz und unsere Außenküche.

Wabi Sabi bedeutet auch, alten Dingen neues Leben einzuhauchen und sie vielleicht umzufunktionieren. Was eignet sich besonders zum Upcycling?
Vieles eignet sich, der Fantasie sind wahrlich keine Grenzen gesetzt. Ich liebe unseren Pavillon und die Gartenmöbel, die alle aus dem alten Holz der Terrasse gebaut wurden. Toll ist aber auch unser Feuerkorb, der aus einer alten Waschmaschinentrommel besteht und wesentlich besser funktioniert als die meisten schicken Modelle, die zum Kauf angeboten werden.

„Ein kreativer Wohlfühlort zum Abtauchen …“

Was macht für Sie ein Wabi Sabi-Zuhause aus?
Ein Wabi Sabi-Zuhause ist ein kreativer Wohlfühlort zum Abtauchen, in dem natürliche Materialien dominieren und die Natur zelebriert wird. Weniger ist mehr.

Viele Stadtmenschen haben keinen Garten. Was empfehlen Sie Balkon-Begrünern und Fensterbrett-Gärtnerinnen?
Ein Stückchen Natur kann man auf dem kleinsten Raum schaffen: Dazu sät man Wildblumen, Kräuter, pflanzt Gemüse oder Naschobst und stellt ein Vogelbad auf, fertig ist der Wohlfühlbalkon. Auf der Fensterbank lassen sich z.B. Kräuter, Schnittsalat, Ingwer und Chili ziehen. Auch Zitronenbäumchen fühlen sich in Wohnungen wohl. Etwas zu hegen und wachsen zu sehen ist befriedigend – dafür braucht es nicht viel Platz.

Die meisten Menschen können die ersten Knospen und Blätter kaum mehr erwarten. Worauf freuen Sie sich besonders?
Auf den ersten Spaziergang in meinem „Zauberwald“, in dem ab Januar Tausende von Schneeglöckchen blühen. An milden Tagen flattern die ersten Schmetterlinge von Blüte zu Blüte – pure Wonne!

„… nie aufhören zu staunen und dankbar zu sein.“

Frühling heißt für Sie auch „staunen wie ein Kind“. Wofür öffnet Ihnen Wabi Sabi die Augen?
Für die Wunder der Natur, die sich in den kleinsten Dingen offenbaren. Wenn man sich darauf einlässt, wird man nie aufhören zu staunen und dankbar zu sein.

Wabi Sabi spielt sich nicht nur in der Idylle ab, sondern auch im Alltag. Was sind die einfachsten Mittel, um es lebendig werden zu lassen?
Sich stets vor Augen halten, was wirklich wichtig ist. Zufrieden sein mit dem, was man hat. Sich selbst und anderen gegenüber Achtsamkeit üben. Authentisch sein und sich und andere akzeptieren. Nichts währt ewig, aber als Gärtner darf man am Zauber der Natur teilhaben und das Wunder am Leben erhalten.