AUS BESONDEREN GESCHICHTEN lesenswerte Bücher zu machen, ist die professionelle Leidenschaft von Constanze Neumann, ob als Lektorin, Leiterin eines Berliner Literaturverlags oder Autorin: Für ihren Roman „Wellenflug“ hat sie von Polen über Leipzig und Berlin bis in die USA recherchiert, um aus Bruchstücken der Vergangenheit ein Ganzes zu erschaffen – die mehr als hundert Jahre umspannende Geschichte der deutsch-jüdischen Tuchhändler-Dynastie Reichenheim, ihrer Familie.

Zur Entstehung von Büchern tragen Sie auf vielfältige Weise bei. Was ist Ihre Lieblingsrolle oder Lieblingsaufgabe?
Die Rollen voneinander zu trennen und einer den Vorzug zu geben, fällt mir schwer. In jeder gibt es Glücksmomente und Schwierigkeiten. Sie ergänzen sich: Der Einsamkeit beim Schreiben steht die gemeinsame Arbeit mit dem Verlagsteam an Büchern gegenüber.

Ihr Romandebüt haben Sie einst mit „Der Himmel über Palermo“ gegeben. Was beflügelte Sie, zusätzlich zu Ihren vielen Aufgaben auch zu schreiben?
Eine Leidenschaft für die Geschichten, die ich eigentlich immer erzählen wollte – im „Himmel über Palermo“ die Geschichte von Richard Wagners Stieftochter Blandine, die einen sizilianischen Grafen geheiratet und auf Sizilien gelebt hat.

Ihr erster Roman entstand in Palermo mit Blick auf die Villa Lampedusa. Welche Atmosphäre bevorzugen Sie beim Schreiben?
Ruhe und ein heller Ort reichen mir.

„Jedes Buch ist ein Abenteuer …“

Wie machen sich Ihre Erfahrungen als Übersetzerin und Lektorin bei der Arbeit an Ihren eigenen Romanen bemerkbar?
Jedes Buch ist ein neues Abenteuer, es ist immer eine Fahrt ins Offene – und sicherlich versuche ich, es meiner Lektorin nicht allzu schwer zu machen.

Eine Ahnung vom Austausch bei der Entstehung Ihres neuen Romans „Wellenflug“ vermittelt am Ende der Dank, etwa an Autorinnen und Autoren wie Julia Franck und Florian Illies sowie Ihren Ehemann, Verlagsprofi Frank H. Häger. Was war Ihnen dabei wichtig?
Ich habe über fünf Jahre an dem Buch geschrieben, es ist ja eine sehr einsame Arbeit. Die Eindrücke und Hinweise dieser ersten Leserinnen und Leser während dieser Zeit waren mir eine große Hilfe.

Wie haben Sie Ihre eigene Familie als literarische Inspirationsquelle entdeckt?
Durch all die Leerstellen, die mir in den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern immer deutlicher wurden, und die Fragen, die sich daraus ergaben: Wieso wurde mein Urgroßvater von seiner Familie verstoßen? Was hat ihn so fest an eine Frau gebunden, die seine Mutter nicht akzeptieren wollte? Vor allem aber durch den Bruch, den die Nazizeit für diese Familie wie für alle jüdischen Familien in Deutschland bedeutete. Wieso ist meinem Urgroßvater die Flucht aus Deutschland nicht gelungen – im Gegensatz zu all seinen Geschwistern?

Wie würden Sie die Familien Eisner und Reichenheim historisch einordnen und wie haben Sie Ihren zeitlichen Erzählrahmen gewählt?
Mich interessierte der gesellschaftliche Aufstieg dieser beiden jüdischen Familien in Schlesien und Preußen im 19. Jahrhundert, das jüdische Berlin der Gründerzeit und dann die Zeitenwende des Ersten Weltkrieges, dem die Weltwirtschaftskrise und schließlich die Nationalsozialisten folgen. Das Leben meiner Protagonistinnen Anna und Marie – Schwiegermutter und Schwiegertochter – ist bestimmt vom Lauf der Geschichte.

„Gegen dieses Vergessen anschreiben …“

Welche Bruchstücke der Vergangenheit brachten bei Ihnen am meisten zum Klingen?
Der Schmerz meines Großvaters über die Ermordung seines Vaters im KZ, der sein Leben wesentlich bestimmt hat und ihn nie verließ. Schlimm war für ihn auch die Anonymität dieses Todes: Kein Grab, kaum etwas erinnert an seinen Vater, den er sehr liebte. Ich wollte gegen dieses Vergessen anschreiben.

Was war Ihr Hauptinteresse, als Sie beim Schreiben die Leerstellen derFamilienüberlieferung zu Freiräumen der Imagination machten?
Mich interessieren vor allem die Gefühlswelten meiner Figuren, Dinge, die sich kaum recherchieren lassen. Die Fiktion gab mir die Freiheit, diese Leerstellen zu füllen.

Anders als in der herkömmlichen Geschichtsschreibung stehen bei Ihnen nicht die verdienstvollen Männer im Mittelpunkt, sondern zwei Frauen: Was verkörpern Anna und Marie und was prädestiniert die beiden für ein Doppelporträt?
Anna erlebt die Gründerjahre in Berlin und einen beispiellosen gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Familie, sie konvertiert mit ihrem Mann zum christlichen Glauben und denkt, ihre jüdische Herkunft hinter sich lassen zu können. Jahrzehnte später erlebt Marie, die ungeliebte Schwiegertochter, erst in der Weimarer Republik und dann während der Nazizeit, dass diese Assimilation ein Trugschluss ist und ihrem Mann, Annas Sohn, zum Verhängnis wird.

 

„Chancen und neue Freiheiten.“

Annas Eltern leben unter einem Dach und doch in zwei Welten. Welche Entwicklungstendenzen in der jüdischen Gesellschaft werden hier spürbar und wie wirkt sich das auf Annas Lebensweg aus?
Annas Vater will die Chancen und neuen Freiheiten nutzen, die sich ab den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts Juden bieten. Er verlässt die Enge Schlesiens und gründet einen Stoffhandel in Leipzig, später in Berlin. Annas Mutter sehnt sich nach den Ritualen ihrer Kindheit, die ihr Mann als Zeichen einer Welt ablehnt, die er hinter sich gelassen hat.

Bestehen für Sie die Gegensätze zwischen Anna und Marie eher in den gesellschaftlichen Konventionen oder in den Persönlichkeiten?
In beidem – ihr Hintergrund ist unterschiedlich, Annas Welt ist eine großbürgerlich-jüdische, Maries Welt prägt die Enge ärmlicher Verhältnisse. Anna lässt sich von ihrem Verstand leiten, bei Marie sind es meistens die Gefühle.

Wie unterscheiden sich beide in ihrem Selbstwertgefühl und ihren Prioritäten im Leben?
Anna tritt mit einem großbürgerlichen Selbstverständnis auf, sie besteht auf Konventionen und Regeln, die sie als Grundfesten ihrer Welt begreift. Aufgrund von Maries Herkunft ist ihre Liebe zu Annas Sohn bereits ein Tabubruch, den Anna nicht verzeihen kann und will. Maries Existenz ist prekär, sie hat keinerlei Sicherheiten. Anna stirbt 1932, sie muss nicht mehr erleben, wie der Kampf ums Überleben das Schicksal nicht nur ihrer Kinder, sondern der gesamten Familie bestimmt.

 

„Anna weiß diese Chance zu nutzen.“

Und worin sehen Sie für Anna und Marie jeweils die Chance ihres Lebens?
Der gesellschaftliche Aufstieg ihres Vaters durch die erfolgreiche Firmengründung gibt Anna alle Möglichkeiten in der Berliner Gesellschaft, die Juden zuvor nicht hatten. Sie weiß diese Chance zu nutzen – für sich und ihre Kinder. Für Marie ist die Liebe zu Heinrich die große Chance, den eigenen Verhältnissen zu entkommen und ein besseres Leben zu führen – wenigstens für einige Zeit.

Worin besteht jeweils die große, schicksalhafte Bruchstelle im Leben für Anna und Marie?
Dass Annas ältester Sohn Heinrich sich nicht um gesellschaftliche Konventionen schert und sich für Marie entscheidet, ist sicher ein Bruch in Annas Leben. Für Marie ist es die Erfahrung von Verfolgung während der Nazizeit und schließlich die Ermordung ihres Mannes im KZ.

Stellen Sie trotz aller Gegensätze auch Parallelen oder Ähnlichkeiten zwischen beiden Frauen fest?
Was sie verbindet, ist, dass sie in ihrer jeweiligen Zeit abhängig sind von den Männern um sie herum – von Vätern, Brüdern und Ehemännern. Sie können meistens nur reagieren, nicht agieren, ihr Handlungsspielraum ist beschränkt.

 

„Gesucht, was sich dahinter verbirgt.“

Was waren für Sie die ergiebigsten Zeugnisse und Quellen?
Ich hatte eine 1936 geschriebene Familien- und Firmengeschichte, zudem einige Briefe und bin an fast alle Orte der Handlung gereist. Aber alle Dokumente und Aufzeichnungen konnten doch nur die nackten Fakten liefern. Was sich dahinter verbirgt, Liebe und Glück, Wut, Trauer und Angst, danach habe ich gesucht.

Was hat Sie beim Recherchieren am meisten berührt?
Am meisten bewegt hat mich ein Abschiedsbrief meiner Urgroßmutter an meinen Großvater, aus dem ihre Liebe zu ihm spricht.

Der erste Satz Ihres Romans lautet: „Das Leben geht weiter.“ Klingt für Sie mehr Verlust und Selbstbeschwichtigung oder mehr Ermutigung durch?
Eine große Ermutigung – mein Großvater wollte mit diesem Satz vor allem zum Ausdruck bringen, dass das Leben für ihn und für unsere Familie weitergegangen ist, gegen alle Widerstände, gegen Hass und Verfolgung.

Schon auf der ersten Seite deutet sich an, dass es sich um die Geschichte einer weitverzweigten Familie handelt. Was prägt Sie und was verbindet Sie mit Judith Kerr, der Autorin des Kinderbuchklassikers „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“?
Es ist die Geschichte einer großen jüdischen Familie in Berlin, die sich während der Nazizeit über die ganze Welt zerstreute. Judith Kerr gehörte auch dazu, ihre Fluchtgeschichte „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ habe ich gelesen, bevor ich wusste, dass dies Teil meiner Familiengeschichte ist und es in ihr viele weitere solcher Fluchtgeschichten gibt.

Wie hat sich Ihr Blick auf Familie bei der Arbeit an Ihrem Roman verändert?
Familie und Herkunft bestimmen auch die Menschen, die sich von ihr distanzieren.

„Wellenflug“ ist ein Begriff für kunstvolle Flugmanöver von Vögeln oder auch Segelfliegern. Was gefällt Ihnen daran als Romantitel?
Ich dachte an das gleichnamige Kettenkarussell mit seiner wellenförmigen Drehbewegung – ein Bild für das Auf und Ab im Leben meiner beiden Protagonistinnen.