DA IST EINER, der für Mathe brennt, Strukturen wahrnimmt und in ihnen begreifbare Muster erkennt. Und das Beste: Er ist in der Lage, andere mit seiner Begeisterung anzustecken, oder ihnen zumindest deutlich weiterzuhelfen: Daniel Jung! 2011 begann er, angeregt durch Online-Vorlesungen des M.I.T., selbst Mathetutorials zu produzieren und auf YouTube zugänglich zu machen. Heute können Schüler wie Studenten aus 2.200 Clips ihre persönliche (Nach-)hilfe auswählen. Wann sie wollen, sooft sie wollen. Sein Motto: „Scheitern ist ein Entdeckungsprozess zum Verständnis!“

Mal abgesehen vom Kassenbon beim Bäcker: Bei welchen Alltagsdingen hatten Sie heute schon mit Mathe zu tun?
Permanent! Das Licht, das angeht. Die Musik, die erklingt. Die Fahrt zu meinem Vortrag heute … Mathematik ist überall! Und wenn wir den Unterricht neu darauf ausrichten würden, gäbe es meines Erachtens a) einen positiven Ruck für die Mathematik und b) einen ChancenBOOST für unsere Wirtschaftsnation.

1,2 Millionen Kinder nutzen momentan Nachhilfe – und Mathematik ist Spitzenreiter. Wie erklären Sie sich den „Matheschmerz“, an dem so viele Schüler leiden?
Da kommen mehrere Faktoren zusammen (u.a. einer der Gründe für mein Buch), denn teilweise kann man mit einfachen Stellschrauben diesen „Matheschmerz“ nehmen und sogar den Spaß an der Mathematik entfachen. Eine für viele Fachleute zwar banale Stellschraube ist, mathematische Themen bis ins Detail als „Vokabeln“ zu erklären, um Schritt für Schritt ein Verständnis für das größere Ganze zu bekommen. Ich sage dann immer: „Mathevokabel erkannt, Gefahr gebannt“.

„Mathevokabel erkannt, Gefahr gebannt“

Längst werden Sie als Mathe-Guru gefeiert. Haben Sie Ihre Berufung schon in der analogen Welt gefunden?
Ja, ganz altmodisch im Erklären vor Ort. Zuerst in der Schule, dann während des Studiums mit meinem ersten Unternehmen. Hier ging es mir schon darum, auch die Räumlichkeiten vor Ort so angenehm wie möglich zu gestalten, denn Digitalisierung der Bildung heißt u.a. die Architektur unserer Lernorte neu zu denken.

Wer oder was brachte Sie 2011 auf den Gedanken, digitale Medien für Nachhilfe-Angebote und Aha-Effekte zu nutzen?
Eine Situation, die einige kennen: Montags morgens Vorlesung in der Uni, in knapp 2 Stunden endlose Tafelbilder plus 200 Seiten Skript mit vielen Hieroglyphen. Ich dachte mir, schau doch mal auf dieser Videoplattform YouTube nach Matheerklärungen. Da entdeckte ich komplette Vorlesungen u.a. vom M.I.T. (einer der führenden Unis weltweit). Und nicht nur das, da erklärte ein Professor (Gilbert Strang) auf eine faszinierende Art und Weise. Anschauen konnte ich es mir, wann und so oft ich wollte. Da war mir klar, dass aufgezeichnete Erklärungen in Videoform ein Teil der Lernrevolution sein werden. Mein Gedanke war aus meiner Erfahrung heraus, die langen Vorlesungseinheiten in kurze Wissensbausteine aufzuteilen. Das war der Beginn meiner Mathetutorials.

Für Sie ist Ihr Metier nicht nur ein notwendiges Übel, sondern Sie sind „vernarrt in Mathe“. Was macht dieses Fach so faszinierend für Sie?
Mathe hilft mir in allen Lebensbereichen, denn Mathematik ist weit mehr als Rechnen. Es ist das Erkennen von Strukturen und Mustern und kann mit entsprechenden Beispielen jeden faszinieren und vor allem helfen, Dinge besser zu verstehen.

Was war 2011 Ihre Ausgangsidee für „Mathe by Daniel Jung“?
Ich wollte meine Erfahrung, Anderen Mathematik einfach zu erklären, über ein digitales Format möglichst vielen Menschen zugänglich machen und sah in der Plattform YouTube eine optimale Möglichkeit. Also habe ich nicht lange gezögert, eine Kamera gekauft und losgelegt. Unter wachsendem Feedback konnte ich mich in dem damaligen Neuland „Lernen mit digitalisierten Inhalten“ permanent fortentwickeln.

„Lernen in kleinen Einheiten ist viel effektiver.“

Mathe dauert im herkömmlichen Schulunterricht 45 Minuten – bei Ihnen hingegen nur einen Bruchteil davon. Woran orientiert sich Ihre Zeitrechnung?
Es ist schon lange Zeit klar, dass Lernen in kleinen Einheiten viel effektiver ist als lange Vorlesungen bzw. Unterrichtseinheiten. Es war nur bis heute kostentechnisch nicht möglich, den Unterricht dahingehend neu aufzustellen. Es geht gar nicht darum, dass durch den Konsum digitaler Medien unsere Aufmerksamkeitsspanne geschrumpft ist, sondern schon lange existierende Erkenntnisse im Bereich Lernen nun endlich zugänglich zu machen.

Ihr Angebot an Erklär-Videos ist so umfangreich, dass manche schon von einer Art Mathe-Wikipedia sprechen. Wie viele Clips sind es aktuell?
Ich habe mehr als 2.200 Mathetutorials auf YouTube veröffentlicht. Sie starten bei Grundlagen der Mathematik und reichen bis hin zu Mathethemen in Master–Studiengängen. Sie sind thematisch kleinteilig aufgebaut und in Playlists geordnet, so dass jeder Suchende hier auch fündig wird.

Welche Themen sind am meisten gefragt?
Natürlich Klassiker, die man vielleicht noch aus der Schule in Erinnerung hat, wie Lineare Funktionen oder Kurvendiskussion. Seit einiger Zeit auch verstärkt mathematische Grundlagen für Maschinelles Lernen, ein Teilgebiet der neuen Schlüsseltechnologie Künstliche Intelligenz.

Wie fließt das Feedback der Nachhilfe-Nutzer in Ihre Arbeit ein?
Es ist ein wesentlicher Bestandteil der Weiterentwicklung neuer Lernmöglichkeiten. Beispielsweise entstand aus eben solchem Feedback meine kostenlose Lern-Plattform mathefragen.de, wo man zu jeder Zeit seine spezifischen Matheprobleme posten kann, die auch ein Video oder sonstige digitale Hilfsmittel nicht lösen konnte. Da hilft dann doch nur eine reale Person für den Lernerfolg. Und das ist jetzt unabhängig von Ort und Zeit permanent in intuitiver Lernumgebung möglich. Dazu honorieren wir Helfer mit Mini-Zertifikaten in unterschiedlichsten Bereichen wie Expertise in Themen oder Empathie, z.B.: Wie höflich bringt jemand Lerner zum Verständnis? Eine tolle Chance, diese wichtige Fähigkeit der digitalen Kommunikation zu fördern!

Ihr besonderes Augenmerk gilt den Wissenslücken, die Schüler in Mathe haben. Worin sehen Sie das Verhängnis?
Stellen Sie sich ein Haus vor, das Stockwerk für Stockwerk immer nur zu, sagen wir, 80 % fertig ist, aber immer weiter gebaut wird … Das wird zwangsläufig einstürzen. So ist es mit sich ansammelnden Lücken vor allem im Bereich der Mathematik. Es führt zu erheblichen Verständnisproblemen, je weiter man in Schule und Studium voranschreitet.

Was haben Sie sich einfallen lassen, um Lücken zu schließen oder am besten zu vermeiden?
In Schritt 1 habe ich lerngerechte Mathe-Wissenshäppchen in Videoform produziert, die frei verfügbar sind. Diese sind zudem sortiert nach Themen in sogenannten Playlists für eine jeweils gebündelte Übersicht. Danach folgten weitere Möglichkeiten, wie u. a. das punktuelle Vernetzen mit Helfern bei speziellen Fragen.

Wie verstehen Sie Ihre Angebote wie „Mathe by Daniel Jung“ und „Let’s rock Mathe“?
Als Möglichkeit, wenn nicht sogar Chance, mit Hilfe digitaler Optionen die Zukunft von Lernenden und Lehrern mitzugestalten. Meine Angebote dienen vor allem als Ergänzung, um wirklich jede kleine Wissenslücke zu schließen und um Schritt für Schritt zum Lernerfolg zu gelangen.

„Unserem Nachwuchs – den Weg in die Zukunft ebnen.“

Sie haben Ihren Aktionsradius beträchtlich erweitert, Initiativen gestartet und sich zum gefragten Experten entwickelt. Auf welchen gemeinsamen Nenner würden Sie Ihren Einsatz bringen?
Wir leben in einem Umbruch im Bereich Lernen und Lehren, wie es ihn in den letzten 1000 Jahren noch nie gab. Der technologische Fortschritt hat das Ende des Bildungssystems, wie es während der industriellen Revolution bis vor einigen Jahren auch noch angemessen war, eingeläutet und verlangt förmlich nach lebenslang lernwilligen und lernfähigen Menschen. Da geht es bei weitem nicht nur um den Umgang mit elektronischen Geräten oder erste Erfahrungen im Bereich Robotik. Es geht auch darum, Lernen zu erlernen und Ethik für die der Künstliche Intelligenz zu formulieren. Oder um den Aspekt, wie komplexe Probleme analysiert und diskutiert werden können … Wir müssen hier jetzt mutig vorangehen und unserem höchsten Gut – unserem Nachwuchs – den Weg in die Zukunft ebnen.

Welche Ihrer Initiativen liegen Ihnen besonders am Herzen? Warum sehen Sie gerade da so großen Handlungsbedarf?
Für mich ist es die Kombination der Initiativen. Als Botschafter der „Roberta-Initiative“ möchte ich das Verständnis für das, was uns mittlerweile täglich und fast permanent umgibt – auch der Toaster ist bald ein Roboter –, so früh wie möglich fördern. Wenn das auch noch spielerisch und mit echten Menschen gemeinsam passiert, ist es wunderbar. Mit „Stiftung Rechnen“ geht es um das Fundament Mathematik und darum, diese möglichst vielen mit Spaß zugänglich zu machen.

Was motivierte Sie, Ihr Buch zu schreiben?
Es gibt in Deutschland vermutlich niemanden, der mehr direkten Kontakt mit Lernenden hat als ich. Durch mein Engagement in Unternehmen und mit meinen Kooperationspartnern habe ich tiefe Einblicke in den technologischen Fortschritt bekommen und weiß, welche Maßnahmen wir jetzt für eine erfolgreiche Zukunft ergreifen müssen. Das erfordert jetzt Mut zur Realisierung und Wandel, statt nur zu reden. Oder wie meine Community sagen würde: Wir müssen das Ding ROCKEN! Also lasst uns Bildung jetzt gemeinsam neu gestalten – Let‘s Rock Education!

Ein Schlüsselbegriff ist „New Learning“, für das Sie sich auch in Ihrem Buch stark machen. Was hat es damit auf sich?
Es startet klassisch bei Erkenntnissen des „Old Learnings“, wie z.B. den Menschen an meiner Seite, mit denen ich Lernerfolge erreiche und gemeinsam feiere. Da es nicht für jeden Lerner permanent physisch eine Lehrperson geben kann, kommen nun digitale Lernformate ergänzend ins Spiel, wie z.B. ein geführter Online-Kurs, der mein bestehendes Wissen ergänzt. Dazu besteht die Möglichkeit, sich ständig über digitale Plattformen mit Menschen fachlich auszutauschen. Oder das Erreichen von „Mastery Learning“, also ein Meistern des Verstehens für ein Thema dank digitaler Unterstützung im Lernprozess selbst, wie z.B. das Vorschlagen einer Lerneinheit, weil das Programm eine Wissenslücke bei mir erkannt hat. Nimmt man alle Bausteine des „New Learning“-Ökosystems, hat man den Schlüssel für einen lebenslangen Lernprozess – und der sollte weit über die Mathematik hinausgehen.

Bei Ihrer Pionierarbeit geht es Ihnen nicht einfach um Trends in den digitalen Medien, sondern um Grundprinzipien, oder?
Meine Idealvorstellung wäre, dass zuallererst jeder versteht, dass die aktuelle technologische Revolution eine völlig neuartige Jobzukunft mit sich bringt. Der Großteil der Menschen wird nicht mehr nur den einen Job in seiner Karriere haben, sondern wechselnde Anforderungen erfordern permanent neues Wissen und Weiterbildung. Digitale Lernformate sind nicht der heilige Gral, aber jetzt schon eine Möglichkeit, sich auf diese Zukunft vorzubereiten.

„Ich habe mein Kindergarten-Ich wiedergefunden.“

Wie würden Sie sich selbst als Lerntyp charakterisieren?
Ich habe mein Kindergarten-Ich wiedergefunden, würde ich sagen: Neugierig, mutig und kreativ!

Wie definieren Sie Lernen?
Wenn Unbekanntes bekannt und nachvollziehbar wird, dann feuern bei mir meine Neuronen und die Verbindungen werden stärker. Den Wandel schaffen wir, indem wir vor allem in eins investieren: den Menschen!

In Ihrem Buch stellen Sie unterschiedliche digitale Möglichkeiten zum Lernen vor …
Über „Open Roberta“ z.B. kann jeder auf einfache und spielerische Art lernen, Roboter anzusteuern. Wenn man dann, nach dem ersten rein digitalen Erlebnis, z.B. gemeinsam mit dem Lehrer vor Ort Situationen simuliert, trifft Kreativität auf soziale Kompetenz und moderne Medien. Über meine eigene Lernplattform mathefragen.de verbinden wir echte Menschen, um unabhängig von Ort und Zeit permanent spezielle Matheprobleme in einem intuitiven Prozess zu lösen. Man glaubt nicht, wie kreativ junge Helfer anderen zum Lernerfolg verhelfen – digitale Mittel richtig angewandt.

Am Anfang Ihres Buches schreiben Sie über Ihren kleinen Neffen. Was macht Ihre gemeinsamen Erlebnisse mit dem Zweijährigen so faszinierend?
Dass bei aller Digitalisierung beim Lernen der Mensch, das gemeinsame Erleben von Wissen im Mittelpunkt steht. Erinnern Sie sich noch an diese Zeit als Kind, geprägt von Tatendrang und Entdeckungsfreude? Ich hatte es, ehrlich gesagt, fast vergessen und bin seit seiner Geburt noch mehr motiviert, der nächsten Generation quasi die Kindergartenzeit lebenslang zu verlängern.

Was nimmt der Knirps für Mathe mit, wenn Sie mit ihm durch den Wald stromern?
Es ist viel mehr als Mathe, z.B. Physik wie Ursache und Wirkung, wenn ich in eine Pfütze springe oder gegen einen Ball trete. Ich kann hier nur wieder empfehlen, vor allem Eltern, sich mit Neurowissenschaften zu beschäftigen. In der frühkindlichen Phase werden die Grundsteine für spätere Lernmöglichkeiten gelegt.

Wie wünschen Sie sich den optimalen Mathematikunterricht, wenn Ihr Neffe eingeschult wird?
Ich wünsche mir eine Lehrperson, die sich für Mathematik und Kinder begeistert. Wenn man diese Grundvoraussetzung mit anwendungsorientiertem Unterricht fachübergreifend in andere Themengebiete kombiniert, dann können wir die Mathematik neu beleben.

Intensiv beschäftigen Sie sich auch mit einem Thema, das immer mehr Eltern verunsichert, weil sie noch nicht wissen, wie sie ihre Kinder am besten heranführen: Künstliche Intelligenz (KI). Was empfehlen Sie, um Kinder fit für die Zukunft zu machen?
Erstens sollte man mehr über KI erfahren, auch hier habe ich schon viel Content produziert, um überhaupt zu verstehen, was KI ist und kann. Eins zur Beruhigung: Die Zukunft der Arbeit wird menschlicher! Ein Grund mehr, das zu fördern, was uns von der Maschine unterscheidet.

„Das Bildungssystem von Grund auf neu gestalten!“

Längst beschränken Sie sich nicht mehr auf Mathe, sondern Sie haben das ganze Schulsystem im Blick. Wie lautet Ihre wichtigste Botschaft?
Lasst uns das Bildungssystem von Grund auf neu gestalten! Bewährte Lernformate müssen mit neuen Lernmöglichkeiten kombiniert, die Architektur der Lernorte erneuert und Experten aus Neurowissenschaften, Informatik, Geisteswissenschaften an einen Tisch geholt werden. Wir müssen kollektiv mutiger werden, neue Konzepte zu testen. Eins sei hier gesagt: Es passiert schon! Jeff Bezos (Gründer von Amazon.com) investiert Milliarden in Vor-Ort-Konzepte für den Nachwuchs.

Inzwischen sind Sie in vielen Projekten und Initiativen aktiv. Was ist für Sie der gemeinsame Nenner?
Bildung ist der gemeinsame Nenner. Jeder, den ich ermutigen kann, mit anzupacken, ob Einzelperson, Institution oder Unternehmen, ist ein positiver Schritt für unseren Nachwuchs.

Ihr Credo auf den Punkt gebracht?
Umsetzen statt debattieren.

Ihre Vision für das Lernen im Jahr 2030?
Altersgerecht, individuell, lebenslang und intrinsisch.