TOP ODER FLOP? Keiner tut seine Überzeugungen so unverblümt und unterhaltsam kund wie Denis Scheck. Bestens begründet sind die Urteile des hervorragenden Literaturkenners immer, auch wenn sie gnadenlos wirken – wie manchmal in seiner Fernsehsendung „druckfrisch“. So landen beim jüngsten Gericht über die Bestsellerliste so manche Titel in der berüchtigten Tonne ewiger Verdammnis. Schecks Selbstabsolution, die längst zum Gütesiegel geworden ist: „Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue.“ Das gilt auch für seinen neuen Kanon der Weltliteratur – von Herodot über Hölderlin und Hergé bis Houellebecq, kühn und zugleich bedacht ausgewählt von dem brillanten Schreiber Scheck.

Überblicken Sie noch ungefähr, wie viele Bücher sich bei Ihnen angesammelt haben? Und können Sie sich von Büchern trennen oder werden es einfach immer mehr?
Ui, schon die erste Frage rührt an eine alte Wunde. Ich habe ja mal Bücher gesammelt, aber das ist lange her. Im Moment sind es noch so an die 3000. Für eine neue Wohnung musste ich meine Bibliothek leider um die Hälfte reduzieren – das war der Preis für den Garten, auf dem mein Hund bestand. Und natürlich kann ich mich von Büchern trennen, sogar ganz problemlos. Zum Beispiel, wenn als Autor Paulo Coelho draufsteht.

Welches Ordnungssystem haben Sie sich eigentlich für Ihre Buchbestände ausgedacht?
Nachschlagewerke stehen separat im Arbeitszimmer, aber meine Bibliothek ist ein Arbeitsmittel – und da hilft nur das Alphabet.

Was sind Ihre drei wichtigsten Knock-out-Kriterien bei der Beurteilung von Büchern?
Am schlimmsten sind literarische Langweiler. Verdruss bereiten mir auch Autoren, die sich dümmer stellen, als sie sind, weil sie auf diesem Niveau ihre Leser vermuten. Und auch Anbiederungen an die wechselnden Moden des Zeitgeists, also etwa Romane über klimaschützende vegane Vampire schätze ich nicht.

Haben Sie mal einen Verriss bereut? Hier wäre Gelegenheit zur Abbitte …
Reue löst in mir eher ein allzu leichtfertiges Lob aus. Aber gut, ich bedaure, dass ich Philip Roths „Sabbaths Theater“ negativ besprochen habe, weil ich die drastischen Sexszenen zu obsessiv fand. Heute wäre ich da wohl weitherziger.

Wie würden Sie Ihr Selbstverständnis als Literaturvermittler auf den Punkt bringen? Was haben Sie zu Ihrer Mission gemacht?
Missionare sind mir von Herzen unsympathisch. Kunst verträgt sich nicht mit einem Anliegen. Ich möchte das Gute, Originelle fördern und dem Schlechten, Abgeschmackten schaden.

Sie erwähnen immer mal wieder, dass Sie Ihre Laufbahn als literarischer Übersetzer begonnen haben. Wie prägt Sie das?
Das Übersetzen war quasi meine literarische Lehrzeit. Ich habe an die 30 Romane und unzählige Artikel übersetzt. Das trainiert das Ohr für Tonfälle und Stimmlagen. Literatur war immer schon ein Vorreiter der Globalisierung. Ich sehe übrigens tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Stärke und der literarischen Kultur unseres Landes: Wir sind auch deshalb Exportweltmeister, weil wir Weltmeister im literarischen Übersetzen sind. Nirgendwo ist man offener für fremde Literaturen. Sehen Sie sich im Vergleich nur mal die Kinderbuchabteilungen US-amerikanischer Buchhandlungen an, wo es so gut wie keine Übersetzungen gibt. Intellektueller Provinzialismus ist mir ein Gräuel.

„… Übersetzer sind die unbesungenen Helden“

Im Vergleich zu den Autoren stehen die Übersetzer ein bisschen auf der Schattenseite. Bitte würdigen Sie deren Verdienste mal mit klaren Worten.
Die literarischen Übersetzer sind die unbesungenen Helden des Literaturbetriebs. Schlecht bezahlt und meist ungewürdigt, sorgen sie dafür, dass wir hierzulande Weltliteratur lesen können. Ohne Rosemarie Tietze keine „Anna Karenina“, ohne Burkhart Kroeber kein Umberto Eco, ohne Elisabeth Edl keine „Madame Bovary“, ohne Karin Krieger keine Elena Ferrante.

„Warum lasse ich mich auf das frivole Unternehmen ein, einen neuen Kanon der Weltliteratur vorzuschlagen?“, fragen Sie sich im Vorwort. Ihre Antwort in Kurzform?
Einen Kanon aufzustellen ist natürlich enorm verlockend. Was kann mehr Freude machen, als darüber nachzudenken, was denn nun die hundert tollsten Bücher der Welt sind? Dieser Versuchung bin ich gern erlegen, auch wenn ich weiß, dass der Kanon nicht von einem Einzelnen festgelegt wird, sondern von den einzigen Instanzen, die wirklich kanonisieren können: der Zeit und der Gesellschaft.

An der Universität Bern haben Sie im Wintersemester 2018 / 2019 den Studenten die Geschichte des Kanons nahegebracht. Wie stehen Sie zur Tradition und wo verorten Sie Ihre Position?
Seit dreitausend Jahren sorgt jeder Kanon automatisch für Streit – und das ist gut so. Gut fünfzig Jahre ist es nun her, da war der Hass auf den literarischen Kanon wieder mal groß. Statt kanonisierter Werke sollte es nur noch „Texte“ geben. Die Folge heute ist Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Denn natürlich existiert ein Kanon in der Literatur nach wie vor. Er wird nur nicht mehr klar kommuniziert. Ich möchte einen „wilden“ Kanon vorschlagen, einen Kanon, der einerseits unsere sich rapide verändernden Lebensgewohnheiten berücksichtigt und gleichzeitig bewährte Klassiker in die Gegenwart rettet. Denn eines ist seit Jahrtausenden unverändert geblieben: Literatur zeigt uns die Vielseitigkeit der Welt und lädt uns ein zu dem vielleicht größten Abenteuer von allen: der Entdeckung unseres eigenen Ichs.

Wer sich an einen neuen Kanon wagt, wird automatisch an den Vorgängern gemessen – Reich-Ranicki & Co. Wie stehen Sie dazu?
Diesem Vergleich stelle ich mich gern. Die Umstände, unter denen wir leben und lesen, haben sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert – durch Digitalisierung, Vernetzung, Globalisierung, Feminismus, die LGBTQ-Bewegung und die Erkenntnis, dass Geschlecht sozial konstruiert wird. Denken Sie nur an die berühmte „Zeit“-Bibliothek der 100 Bücher, unter deren Autoren sage und schreibe eine einzige Frau war. Und Marcel Reich-Ranicki beschränkte sich auf rein deutschsprachige Texte, was an unserer heutigen literarischen Wirklichkeit doch sehr vorbeigeht. In meinen Regalen stehen neben Hölderlin Michel Houellebecq und neben Brecht Samuel Beckett und Jorge Luis Borges.

„Intellektuelle Abenteuerlust!“

Sie tanzen aus der Kanon-Traditionsreihe. Was bewegt Sie dazu?
Intellektuelle Abenteuerlust. In der Kolonne marschieren und mit den Wölfen heulen war nie meine Stärke. Ich möchte einen unorthodoxen Kanon vorschlagen und dabei weder Sprach- noch Genregrenzen respektieren.

Welche Freiheiten haben Sie sich in Ihrem „wilden“ Kanon genommen?
Zum Beispiel Hergé und Hölderlin zusammen zu denken. Es geht mir um einen Kanon, der vor allem Lust aufs Lesen macht – auf die Abenteuer des Odysseus und von Don Quichotte und Sancho Pansa genau wie auf die der Hobbits Frodo und Sam. Ein Kanon, der um seine eurozentristische Sicht und die überfällige Anerkennung des Anteils der Frauen an der Weltliteratur weiß. Ein Kanon des 21. Jahrhunderts, in dem Märchen neben Krimi, Fantasy neben Comic, Science Fiction neben dem Parzival des Wolfram von Eschenbach stehen können.

Welche Auswahlkriterien haben Sie geleitet?
Es gibt für mich nur einen Goldstandard in der Literatur. Ein Buch zählt für mich dann zur Weltliteratur, wenn es meinen Blick auf die Welt nachhaltig verändert. Wer Sappho oder Ovid, Kafka oder David Foster Wallace gelesen hat, sieht sich und seine Umgebung mit anderen Augen als vor der Lektüre. Darin liegt für mich das Geheimnis wirklich großer Literatur: dass sie unsere Weltanschauung verändern kann.

Ein bisschen banausenhaft ist es, Fantasy und Science Fiction – quasi mit Sippenhaftung – zu verdammen. Sie machen sich um deren Ehrenrettung verdient. Ihr schlagendes Beispiel?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass man die unter dem Pseudonym James Tiptree Jr. schreibende Alice B. Sheldon im 22. Jahrhundert lesen wird wie wir Kafka heute. Wenn Sie sich mit der Geschichte der Literatur befassen, dann ist von Homer über Tausendundeine Nacht und Shakespeare Science Fiction und Fantasy eher die Regel als die Ausnahme. Gerade wir Deutschen verengen diesen breiten Hauptstrom der Literatur gern auf eine vielleicht doch recht kurzlebige Mode des bürgerlichen Realismus, also Romane ohne Magie, ohne Elfen und Elixiere der Unsterblichkeit,

Das Kanon-Cover ist keine Parodie auf Thomas Manns Erzählung „Herr und Hund“ und der abgebildete Vierbeiner nicht ihr eigener. Wie ist der Kanon auf den Hund gekommen?
Selbstironie zählt zu den wichtigsten Geschenken, die uns die Literatur macht. Ich bin übrigens wahnsinnig stolz, mit Torben Kuhlmann einen wunderbaren Illustrator für meinen Kanon gefunden zu haben. Er signalisiert schon mit dem Titelbild, dass hier keine dröge Nachhilfestunde abgehalten wird, sondern dass dieser Kanon eine Bandbreite von Homer bis Tim und Struppi hat und es nicht zuletzt auch was zu lachen gibt.

Zurück zum Anfang Ihrer literarischen Sozialisation also: Bitte bringen Sie uns mal die Bedeutung von Carl Barks nahe.
Carl Barks hat uns Dagobert Duck, Tick, Trick und Track, Daniel Düsentrieb und die vielleicht widerwärtigste Gestalt der Weltliteratur geschenkt: Gustav Gans. Nur haben wir deutschen Leser das besondere Glück, die Barks’schen Entengeschichten in der Übersetzung von Dr. Erika Fuchs lesen zu dürfen. Wenn Barks Onkel Dagobert auf Englisch „No!“ sagen lässt, wird bei Fuchs daraus ein „Mitnichten!“ – und in dieser magischen Verwandlung liegt das ganze Geheimnis der Literatur.

„Tirritieren, schabernacken & figurieren“

Die Nummer 1 in Ihrem Kanon ist Astrid Lindgren. Mal abgesehen vom auf der Hand liegenden gemeinsamen Status „Mann in den besten Jahren“: Wieviel Karlsson vom Dach steckt denn in Denis Scheck?
„Tirritieren, schabernacken und figurieren“ – kann es eine bessere Beschreibung für die Funktion eines Literaturkritikers in einer Demokratie geben? An Karlsson lässt sich lernen, wie wichtig eine gewisse Widerständigkeit für die Persönlichkeitsentwicklung ist.

Thoreaus „Walden“ und Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ – verschiedene Welten, aber doch auch zwei Seiten einer Medaille. Und Mark Twains „Huckleberry Finn“ passt auch gut dazu. Welche Zusammenhänge oder welchen gemeinsamen Aussagegehalt sehen Sie da?
Diese drei Bücher sind so etwas wie die Betriebsanleitung der Vereinigten Staaten von Amerika und erklären, warum man das 20. Jahrhundert auch das amerikanische Jahrhundert nennt. Sie erklären aber auch, warum man das 21. Jahrhundert ganz sicher nicht mehr so nennen werden wird.

Huckleberry Finn „spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist“. Denis Scheck auch, oder? Aus Prinzip? Um uns Leser nicht mit Fachjargon zu bombardieren?
Ich glaube, es war für Mark Twain ein hartes Stück Arbeit, Huckleberry Finn so sprechen zu lassen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Mir ist vollkommen klar, dass viele Menschen eine Heidenangst vor Literatur haben. Dieses Buch ist mein Versuch, diese Ängste zu zerstreuen. Ich halte es in meinem Buch mit Albert Einstein, der mal sagte, man solle alles so einfach machen wie möglich – aber nicht einfacher.

„… ein Stock im Petticoat“

Sie zitieren gern Arno Schmidt, wenn es um eine kompakte Definition dessen geht, was einen guten Schriftsteller ausmacht. Bitteschön!
Arno Schmidt schrieb einmal, ein Schriftsteller sei jemand, dem „ein Stock im Petticoat“ einfällt für das, wozu Leser zeit ihres Lebens Regenschirm sagen … Diese Definition hat mir immer gut gefallen, weil sie klar macht, dass gutes Schreiben eine Mischung aus Beobachtungsgabe und Sprachmacht ist.

Theodor Fontane ist vertreten – wohl nicht nur, weil sich sein Geburtstag heuer zum 200. Mal jährt. Sie verstehen es, aus der schulischen Pflichtlektüre von einst das reinste Vergnügen zu machen. Was macht Fontane für Sie zum heute lesenswerten Schriftsteller?
Wenn ich irgendwo Heimat finde in der deutschen Literatur, dann in den lang ausschwingenden Sätzen Theodor Fontanes. Man muss bei der Lektüre seiner Romane aufpassen wie ein Luchs – oder haben Sie beim ersten Lesen von „Effi Briest“ bemerkt, wie Effi Sex in den Dünen hat? Fontane ist ein Großmeister der Dezenz. Und allein für seinen alten Stechlin muss man ihn lieben.

Fontane war kreativ im Umgang mit der Sprache. Ihre drei liebsten Wortschöpfungen von ihm?
„Vortrefflichkeitsschablone“ – ein wunderbares Wort, mit dem Fontane erklärt, warum so viele Touristen so oft Enttäuschungen erleben, eben weil die Wirklichkeit der Vortrefflichkeitsschablone, die sie im Kopf haben, nicht standhält. Schön finde ich aber auch die „Künstlerüberheblichkeit“ und die „Pfefferkuchengegend“.

Für viele sind Gedichte seit Schulzeiten ein Schreckgespenst. Sie hingegen brechen eine Lanze dafür und schlagen kurzerhand ganze lyrische Gesamtwerke vor, z.B. von Emily Dickinson. Wie ermutigen Sie alle, die fürchten, keine Poesie zu verstehen?
Keine Gedichte zu lesen ist wie sich die Zähne nicht zu putzen – höchst unappetitlich und auf die Dauer extrem schädlich. Außerdem bringt man sich um eines der größten Vergnügen, die Literatur zu bieten hat. Denken Sie nur an Robert Gernhardts „Bilden Sie mal einen Satz mit pervers. pervers. Ja, meine Reime sind recht teuer: per Vers bekomm ich tausend Eier.“ Und ein Leben ohne Hölderlin ist schon ein armes Leben. Und eine so kluge und gewitzte Dichterin wie Emily Dickinson für sich zu entdecken, versöhnt mit manchen Blessuren, die man sich im Leben einhandelt.

„Alles, nur nicht langweilen“

Sie bringen es fertig, über Raumschiff Enterprise und Mister Spock Shakespeares „Sturm“ zu entfachen. Typisch Scheck, oder? Was verstehen Sie unter der Kunst des ersten Satzes und wie würden Sie da Ihren Anspruch an sich selbst formulieren?
Genie ist bekanntlich zu fünf Prozent Inspiration und zu 95 Prozent Transpiration. Ich habe von tollen Kollegen wie Alfred Kerr, Alfred Polgar, Dorothy Parker und Silvia Bovenschen gelernt, dass Literaturkritik alles darf, nur nicht langweilen.

Kalif Storch kann man als eine Art Galionsfigur für Ihren Kanon und für den Leser Denis Scheck betrachten. Inwiefern?
Das schöne Märchen meines schwäbischen Landsmanns Wilhelm Hauff enthält ja das Zauberwort „Mutabor“. Das ist Latein und heißt „Ich werde verwandelt werden.“ Genau das geschieht, wenn wir ein Buch aufschlagen. Das macht Literatur schön und gefährlich.