FREIHEIT UND DEMOKRATIE sind die Leitsterne von Hamed Abdel-Samad. Wenn es um diese Werte geht, gibt es für ihn keine Kompromisse. So wurde der 1972 in Kairo geborene Sohn eines Imams bekannt als couragierter Islamkritiker, über den prompt eine Fatwa verhängt wurde. Seit 1995 in Deutschland beheimatet, ist der Politik­wissenschaftler, preisgekrönte Publizist und Bestsellerautor beherzt im Einsatz für gelebte Liberalität. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet er mit seinem neuen Buch „Aus Liebe zu Deutschland“ – passend zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung und seinem persönlichen Jubiläum.

Landauf, landab wird das runde Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung gefeiert. Wie begehen Sie das Ereignis?
Letztes Jahr bin ich durch die Republik gefahren, um für mein Buch zu recherchieren. Nun fahre ich wieder durch die Republik, um aus meinem Buch zu lesen. Mit Lesern über die Fragen zu diskutieren, die ihnen unter den Nägeln brennen, ist mein Beitrag zum Jubiläum.

Ihr Buch hat nicht nur einen historischen Ausgangspunkt, sondern auch einen persönlichen. Welchen?
Ich sehe den Prozess der Entwicklung Deutschlands als Wiederspiegelung meiner eigenen Geschichte. Wir haben beide einen sehr langen Weg zu uns selbst zurückgelegt. Ein Weg, der von Zerrissenheit, Wut, Aggression und Schuldgefühlen, aber auch von Selbstkritik und Selbstverantwortung gekennzeichnet ist. Wir neigten beide in der Vergangenheit dazu, von einem Extrem ins nächste zu wechseln. Aber wir beide wagten es auch, uns für die westlich-freiheitliche Lebensweise zu öffnen, obwohl unsere früheren Identitäten gleichsam als Antithese dazu galten.

„Eine Liebeserklärung, aber keine Laudatio“

Sie wagen ein klares Bekenntnis. Welche Überzeugung steht dahinter?
Die Auseinandersetzung mit Deutschland und seiner Geschichte hat mir geholfen, mich selbst und meine eigene Geschichte besser zu verstehen. Außerdem ist Deutschland ein schönes, erfolgreiches Land, das aber im Ausland viel beliebter ist als im Inland. Mir ist aufgefallen, dass viele Deutsche sich von ihrem Deutsch-Sein lieber distanzieren. Ihnen fällt es schwer, einen positiven Zugang zu ihrer Identität zu finden. Diesen Zugang habe ich gefunden und im Buch eingeführt. Meine Liebeserklärung an Deutschland ist allerdings keine Laudatio, sondern eine ehrliche Auseinandersetzung mit meiner Wahlheimat und ein kritischer Beitrag zu den aktuellen Debatten.

Als Sie 1995 in Deutschland ankamen, haben Sie sich eine Art Crashkurs im Deutschsein verordnet und Erfahrungen mit allen Sinnen gesammelt. Was haben Sie alles ausprobiert und wozu hat es geführt?
Ich hörte Wagner und Beethoven, aß Schwarzbrot und Spargel, trank Hefeweizen und ging Ski fahren. Ich trug eine bayerische Lederhose und hörte alte deutsche Volkslieder. Ich las Goethes „Faust“ und Heinrich Manns „Der Untertan“ und lachte über Loriots Witze. Ich habe versucht, Deutschland in Fragmenten zu finden. Doch wer Fragmente sucht, wird mit den Fragmenten der eigenen Identität und der eigenen Gedankenwelt konfrontiert. Mir ist klar geworden, dass Deutschland viel mehr ist als seine Kultur-Klischees.

An Deutschland scheiden sich die Geister. Für die einen stehen die dunklen Kapitel im Vordergrund, für die anderen die Sternstunden. Was prägt Ihr Bild?
Ich unterscheide nicht zwischen einem hellen und einem „Dunkeldeutschland“. Die Sternstunden wären ohne die dunklen Kapitel nicht denkbar. Deutschland ist ein Prozess, kein Ereignis. Es ist das Produkt all dessen, was auf seinem Boden geschah, und es ist die Summe aller Menschen, die hier leben.

„Kleinmut und Größenwahn“

Was sind für Sie die Schlüsselbegriffe gewesen, die Sie beim Recherchieren und Schreiben geleitet haben?
Angst und Innerlichkeit, Kleinmut und Größenwahn, Selbstzweifel und Selbstüberschätzung, Selbsthass und Selbstüberwindung, Technik und Romantik, Kulturnation und Zivilisationsbruch, Freiheit und Untertanengeist, Denker und Denkverbote. Das ist Deutschland!

Wie wahrscheinlich jede Beziehung hat sich auch Ihr Verhältnis zu Deutschland verändert. Was waren die wichtigsten Phasen?
Zunächst war es die Faszination aus der Ferne, dann kam die Enttäuschung nach der Einreise. Danach die Distanz und der Bruch, dann die Versöhnung, das Verständnis für das Land und das Bekenntnis zu ihm, dann die Identifikation mit seinen Werten und seiner Kultur, mit seinen Erfolgen und Narben. Am Ende kamen Liebe und Verbundenheit.

Für Ihr neues Buch sind Sie durch Deutschland gereist. Was hatten Sie im Gepäck? Welchem Kompass sind Sie gefolgt?
Im Gepäck hatte ich Neugier und viele Fragen. Mein Kompass war die Aufklärung, meine Zuneigung zu und meine Sorge um Deutschland. Ich suchte Orte aus, die für die deutsche Geschichte Symbolcharakter haben, und sprach mit Politikern, Historikern, Künstlern und Experten, die mir geholfen haben, Deutschland aus mehreren Perspektiven besser zu verstehen.

Was waren Ihre wichtigsten Entdeckungen bei Ihrem Deutschland-Buchprojekt?
Dass Deutschland mehrere Herzen hat, und dass einige dieser Herzen nicht mit-, sondern gegeneinanderschlagen.

In Ihrem Buch stimmen Sie nicht einfach in den Chor der Festreden ein, sondern Sie verstehen es als „Warnruf“. Was hat Sie alarmiert?
Ich sehe, wie die Spaltung im Land zunehmend den gesellschaftlichen Frieden und die Meinungsfreiheit bedroht und die Errungenschaften dieses Landes gefährdet. Der Extremismus wächst rechts und links und in den Reihen der Migranten. Die einen suchen in der Multikulti-Doktrin einen Ablassbrief für vergangene Schuld, die anderen fliehen vor dieser Schuld in Wut, Rassismus und Reichsnostalgie. In Migrantenmilieus ist die Tendenz zur Abschottung stärker als der Wille zur Öffnung. Und die bürgerliche Mitte richtet sich in einer emotionalen, intellektuellen und politischen Komfortzone ein. Und so spalten die Schuld und die falschverstandene Toleranz die Republik, statt sie zu einen!

„Anlass für eine neue Debatte“

Vom Mauerfall 1989 und der Wiedervereinigung 1990 haben wir im kollektiven Gedächtnis Bilder von Aufbruch, Miteinander und Euphorie. Warum hat sich das so verflüchtigt?
Die Widervereinigung hätte der Anlass für eine neue Debatte über die deutsche Identität sein müssen, doch der wirtschaftliche Aspekt dieses Ereignis schien für die Politik und für viele Bürger wichtiger zu sein. Diskussionen über Identität wurden von rechten und linken Nostalgikern ideologisch geführt und haben somit die Spaltung noch mehr vertieft.  

Sie haben festgestellt, dass für die Identität so etwas wie ein Gründungsmythos fehlt beziehungsweise stabilisierend wäre. Was raten Sie?
Deutschland braucht eine offene, aufgeklärte Leitkultur, die weder nationalistisch noch kulturrelativistisch ist. Eine Leitkultur, die auf verbindenden gemeinsamen Werten und einer Zukunftsvision fußt. Wichtig dabei ist nicht, wo wir herkommen, sondern wo wir hinwollen. Ohne diese Leitkultur ist eine gelebte Erinnerungskultur unmöglich. Eine Willkommenskultur auch nicht. Am Ende meines Buches stelle ich ein Manifest für diese Leitkultur vor.

Wie hat denn die Arbeit an Ihrem Buch Ihr Verständnis von Geschichte beeinflusst?
Ich habe gelernt, dass man nicht gegen den Schmerz der Vergangenheit kämpfen muss, sondern gegen die Opferhaltung und die Schuldgefühle, die aus dem Trauma entstanden waren. Beide führen zu Selbsthass und Aggression. Die Geschichte soll uns Mentor und Wegweiser sein, nicht aber Herrscher über Gegenwart und Zukunft. Sie soll uns mahnen, doch vereinnahmen darf sie uns nicht. Ob persönliche oder nationale Geschichte – wir sollten unsere Erinnerungen nicht als Last tragen, sondern ihnen direkt und selbstbewusst in die Augen schauen und daraus Lehren ziehen.

„An Freiheit und Demokratie glauben!“

Worin sehen Sie nun den hauptsächlichen Handlungsbedarf? Wozu möchten Sie einladen und ermutigen?
Wir brauchen eine gesunde Streitkultur, damit wir über die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft offen reden können. Wir brauchen ebenfalls einen verbindlichen Wertekanon, der die Regeln des Zusammenlebens klar definiert. Wichtige Debatten dürfen nicht mehr ideologisch und moralisierend, sondern verantwortungsethisch geführt werden. Die bürgerliche Mitte muss endlich aufwachen und tätig werden. Wir müssen an Freiheit und Demokratie stärker glauben und diese konsequenter verteidigen!