VON IHREM ERFOLG war Jasmin Schreiber selbst am meisten überrascht. 2019 für „Sterben üben“ als Bloggerin des Jahres ausgezeichnet, sieht die 33-Jährige auch in ihren Büchern dem Tod ins Auge. Nach ihrem Debütroman „Marianengraben“ nahm die Biologin und Hinterbliebene ihres Hamsters in ihrem Sachbuchbestseller „Abschied von Hermine“. Morbide? Nein, ganz natürlich: „Der Tod gehört zum Leben.“ Ihr neuer Roman „Der Mauersegler“ über eine unsterbliche Freundschaft ist traurig schön – und auch zum Tränenlachen lustig.

Für die meisten Menschen sind Mauersegler Sommerboten, die wir leicht mit Schwalben verwechseln. Was fasziniert Sie als Biologin und Autorin an den Flugkünstlern?
An Mauerseglern gibt es viel Faszinierendes zu entdecken: Sie können zum Beispiel rund 10 Monate am Stück in der Luft verbringen – sie essen im Flug, schlafen im Flug, paaren sich im Flug. Nur zum Brüten müssen sie landen. Ihr Leben ist so dermaßen anders als das von uns, aus unserer Perspektive könnten es auch Außerirdische m anderen Stern sein – und wir für sie.

Was macht die Mauersegler zum idealen Romantitel für Sie?
Wie bei Marianengraben war auch hier der Romantitel als Erstes da. Ja, noch vor der Geschichte und allem. Ich mag einfach dieses Bild des Überfliegers, der sich in schwindelnde Höhen schraubt und wirklich allen was vormacht – bis er durch irgendetwas geschwächt wird, landen muss und dann allein nicht mehr hochkommt.

Ihr Protagonist hat Vornamen, bei denen es im wirklichen Leben eigentlich keine Entschuldigung für die Eltern gibt, aber wahrscheinlich gute Gründe für Sie als Autorin. Welche sind das beim väterlichen Wunschnamen Marvin?
Das ist ziemlich banal: Als Kind kannte ich einen Marvin, den ich ganz furchtbar fand. Wenn man mir sagt: Denke an einen Namen, den du wirklich nicht magst, schnell!, antworte ich sofort: Marvin. Ich finde ihn unangenehm weich, wabbelig, schwächlich, blass. Danach habe ich übrigens zwei sehr nette Marvins kennengelernt, mit ihren Namen hadere ich jedoch bis heute.

Und der mütterliche Namenswunsch? Was hatten Sie im Sinn mit dem aus der griechischen Mythologie bekannten Titanen Prometheus?
Das war tatsächlich anfangs nur ein alberner Platzhalter, weil mir kein Name einfiel. Doch irgendwie hatte er sich beim Schreiben plötzlich verselbstständigt, hat Flügel und eine Geschichte bekommen. Plötzlich konnte ich mir keinen anderen Namen mehr vorstellen.

„Erst Held, dann Anti-Held!“

Nomen est omen? Sehen Sie Ihren Prometheus eher als Helden oder Anti-Helden?
Eigentlich ist Prometheus ein ganz normaler Typ; karrieretechnisch zwar ein Überflieger, aber doch irgendwie ein durchschnittlicher, etwas ehrgeiziger Kerl, wie es Millionen gibt. Und irgendwie gerät er da in so eine Sache rein, die eine krasse Eigendynamik entwickelt. Er trifft falsche Entscheidungen. Vielleicht ist er beides, erst ein Held, dann ein Anti-Held. Ein abgestürzter Mauersegler, genau wie Jakob.

Was sprach für Sie dafür, die Geschichte aus der männlichen Perspektive von Prometheus zu erzählen?
Geschrieben ist die Geschichte ja in der dritten Person. Wir sind meist ganz nah bei Prometheus, ab und zu aber auch beim Wald oder nehmen die Perspektive der Ponys oder von Aslaug und Helle ein. Aber dass ich einen männlichen Protagonisten gewählt habe, hatte einen ganz einfachen Grund: Ich hatte Lust drauf.

„Aus den richtigen Gründen das Falsche tun.“

Ihr neuer Roman ist auch die Geschichte der tiefen Verbundenheit von Prometheus und seinem besten Freund Jakob, unzertrennlich seit Kindertagen. Was wollten Sie ausloten?
Ich wollte ausloten, was passiert, wenn man jemanden so sehr liebt, dass man ja eigentlich schon selbst das eigene Leben für diesen Menschen riskieren würde … und dann aus den richtigen Gründen das Falsche tut und alles genau ins Gegenteil kippt. Und wie man dann mit dieser Schuld lebt, beziehungsweise, ob man das überhaupt aushalten kann.

Ihr Prometheus flieht bei Nacht und Nebel, erst nach Süden, dann Richtung Norden. Warum fühlt sich der Norden richtiger an für seinen Gemütszustand und für Sie als Autorin?
Der Süden ist hell, warm und bunt, doch Prometheus lebt seit dem Schicksalsschlag in einer dunkleren Welt als die meisten Menschen um ihn herum. Der Norden mit seiner rauen, doch auch mir sehr lieben und wirklich wunderschönen Landschaft fühlt sich da einfach richtiger für ihn an.

Auf der Flucht ist Prometheus in seiner „Arztkutsche“, die ihm immer mehr vorkommt wie ein schlechter Witz. Warum? Was symbolisiert das Vehikel?
Sie symbolisiert für mich den Status und all das, wonach er gestrebt hat. Und wie ihn das letztlich doch nur in den Treibsand geführt hat.

„Vertraut, aber auch unglaublich bedroht.“

Unterwegs kommt Prometheus die Flora und Fauna immer seltsamer und irgendwie bedrohlich vor – ein bisschen wie in „Der Herr der Ringe“, als sich Baumbart und die anderen Ents in Bewegung setzen. Was sagt das über die Wattwürmer und Kiefern? Oder über Prometheus‘ Verhältnis zur Natur und seine Wahrnehmung?
Prometheus hatte gemeinsam mit Jakob eigentlich immer ein sehr enges Verhältnis zur Natur. Das war auch immer ein verbindendes Element zwischen ihnen. Jakob hatte diesen Draht zur Natur nie verloren, Prometheus jedoch schon, während er beschäftigt war, nach Status und Karriere zu streben. Und jetzt, wo Jakob aus der Welt ist und Prometheus zurückgelassen hat, kommt Prometheus diese raue, wilde Natur einerseits vertraut, andererseits aber auch unglaublich bedrohlich vor.

Wie Ihre auf Instagram geposteten Fotos von Schneckenhäusern, Zweigen mit Beeren, Wald- und Flusslandschaften vermuten lassen, fürchten Sie sich im Gegensatz zu Prometheus nicht vor säuselnden Bäumen. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Natur beschreiben?
Ich begreife mich als Teil von ihr und fühle mich der Natur immer nah. Am liebsten bin ich draußen irgendwo und beobachte Schnecken und Käfer.

„Kleine Fenster in eine andere Welt.“

Es kreucht und fleucht nicht nur in Ihrem Roman, sondern auch bei Ihnen zuhause. Wie erklären Sie sich Ihr Faible für alles andere als gewöhnliche Haustiere? Was sind Ihre kleinsten und größten Mitbewohner und was ist für Sie das Schöne an dieser Arche Noah?
Meine kleinsten Mitbewohner sind wohl die Mikroorganismen in meinen Terrarienböden oder im Aquarium. Die größten Exemplare sind meine zwei Hunde, Chloé und Luchs. Letzterer hat seinen Namen übrigens aus Marlene Haushofers „Die Wand“. Von so vielen Tieren umgeben zu sein, beziehungsweise von so unterschiedlichen Biotopen in meinen Terrarien, eröffnet für mich lauter kleine Fenster in eine andere Welt. Das liebe ich.

Wie haben Sie die medizinischen und wissenschaftlichen Aspekte recherchiert und wo die wichtigsten Erkenntnisse gewonnen?
Das meiste weiß ich als Biologin einfach, das ist recht praktisch. Die Therapie, die der Protagonist sich ausdenkt, habe ich gemeinsam mit meinem Partner Dr. Lorenz Adlung ausgedacht. Er war hier mein wichtigster Partner in crime bei der Recherche.

Wie würden Sie das Dilemma von Prometheus auf den Punkt bringen?
Das Falsche aus den richtigen Gründen zu tun.

Als neunjährige Jungs sind Prometheus und Jakob erstmals mit dem Tod konfrontiert. Wie kamen Sie auf die Idee mit dem Beagle Karl und dem Wikingerbegräbnis und was geht den beiden Freunden später verloren?
Auf die Geschichte kam ich durch ein Gespräch mit einem Journalisten vom HR, bei dem die Familie in seiner Kindheit versucht hatte, ein Haustier einzuäschern, was einfach so gar nicht geklappt hatte. Und den Freunden geht verloren, was so vielen von uns im stressigen Alltag abhanden kommt: die Leichtigkeit.

Als Prometheus das Wasser bis zum Hals steht, wird er aufgelesen wie Strandgut. Welche Rolle schreiben Sie Helle und Aslaug zu?
Helle und Aslaug lesen ihn auf und geben ihm einen Raum, erst einmal einfach zu sein. Und sie geben ihm jede auf ihre spezielle Art und Weise Halt – Helle durch ihre mütterliche Art, Aslaug durch ihr schroffes Einvernehmen.

Was sind die wichtigsten Erfahrungen, die Prometheus in der Obhut von Helle und Aslaug macht? Wieviel Ponyhof und Hygge und was sonst noch muss sein?
Ich denke, das müssen die Leserinnen und Leser selbst herausfinden.

In antiken griechischen Tragödien ziehen launische Gottheiten und sonstige Schicksalsmächte die Fäden. Was ist die wichtigste Kraft, die in Ihrem Roman wirkt?
Liebe.