IHR GLÜCK ALS Büchermensch fand Julia Holbe gleich mehrfach: Als leidenschaftliche Leserin reicht ihr Repertoire von „Alice im Wunderland“ bis zu E. E. Cummings‘ Gedichten. Als Lektorin für internationale Literatur war sie zuständig für „tolle Schriftsteller“, darunter Reif Larsen, Yann Martel und J. R. Moehringer. Und nun beweist sie ihr eigenes Erzähltalent: In ihrem Debütroman taucht sie ein in die Geschichte von vier Freundinnen und einer großen Liebe – in der Bretagne, wo die Autorin aus Frankfurt ihre zweite Heimat fand.

Als Lektorin haben Sie sich in die Sprachwelten und den Erzählkosmos unterschiedlichster Autoren versetzt. Machte es das leichter oder komplizierter, Ihre eigene Stimme zu finden?
Die eigene Stimme im Leben zu finden, ist immer etwas Schwieriges. Immer wieder zu entscheiden, ob man seinen eigenen Erwartungen entsprechen möchte oder bloß denen der anderen. Nicht nur als Autorin stelle ich mir diese Frage.

Von Luxemburg über Frankfurt bis in die Bretagne: Die Landkarte Ihres Romans entspricht Ihren eigenen Lebensstationen. Was spricht für diese literarische Verortung?
Romane entstehen oft aus persönlich Erlebtem und der literarischen Verarbeitung dessen. Für mich war beim Schreiben das Gefühl von Sich-Zuhause-fühlen wichtig, um von dort aus die Geschichte entwickeln zu können. Ich will die Orte nicht nur kennen, sondern auch mögen.

Was verbindet Sie mit der Bretagne?
Die Bretagne ist für mich der Inbegriff von glücklichen Tagen. Seit meiner Kindheit verbringe ich den Sommer dort. Damals noch auf einem Hausboot: Flusslandschaften mit Schleusen, Wiesen mit Heuballen und kleine Dorfrestaurants … Campagne. Jetzt aber ist sie für mich vor allem eins: das Meer.

„Weißwein trinken … Sternschnuppen zählen“

Wie sieht ein glücklicher Tag in der Bretagne für Sie persönlich aus?
Ganz unspektakulär. Auf dem Felsen liegen, schwimmen, lesen. Später kochen und Weißwein trinken, im Garten sitzen, Sternschnuppen zählen. Sehr lange aufbleiben und sehr lange schlafen.

Entstand „Unsere glücklichen Tage“ mit Blick auf den Atlantik oder auf den Main? Welche Umgebung beflügelt Sie zum Schreiben?
Begonnen habe ich den Roman in Frankreich, nachts auf der Terrasse, weitergeschrieben dann in meinem Arbeitszimmer in Frankfurt zu ganz unromantischen Arbeitszeiten. Ich sehe weder den Main noch das Meer, ich brauche vor allem meine Musik.

Was veranlasste Sie nun, selbst einen Roman zu schreiben?
„Die Frage, was im Leben bleibt …“ Diese Geschichte war schon lange in mir. Und irgendwann kam die Frage, was im Leben bleibt. Allein die Sehnsucht nach der Jugend? Die Frage, was noch möglich ist? Dann begann das Schreiben.

„Unsere glücklichen Tage“ widmen Sie den „Freunden von einst und von heute“ …
Freunde sind beides, Herzstück und Rettungsanker. Im Roman und im wirklichen Leben.

Die Ich-Erzählerin Elsa, Marie, Fanny und Lenica sind ganz unterschiedliche Temperamente. Worum ging es Ihnen?
Mich haben diese vier unterschiedlichen Frauen interessiert. Nicht nur, inwieweit sie den Sommer, der vielleicht der wichtigste im Leben war, unterschiedlich erinnern. Sondern, wie sie in ihrem Leben damit umgehen. Die Frage: Was geschieht mit Erinnerung und was macht sie mit einem im Laufe des Lebens?

Was verbindet die vier in jungen Jahren hauptsächlich?
Ihre tiefe Liebe zueinander, gerade auch im Wissen um ihre Verschiedenheiten.

Das Signal für den Sommerbeginn ist für die ganz junge Elsa die Ankunft in der Bretagne und die Willkommensumarmung ihrer besten Freundin Lenica. Und für Sie?
Das erste Eintauchen im noch sehr kalten Meer unmittelbar nach der Ankunft. Dann Musik auf der Terrasse, Meeresfrüchte und sehr kalter Weißwein, so dass das Glas beschlägt.

„… diese Freiheit damals“

Welche Bedeutung hat das Lebensgefühl aus dem Schicksalssommer von einst für die Gegenwart?
Die Heldinnen des Romans erinnern sich, wie das Leben war und wie es sein kann, sie erinnern sich an diese Freiheit damals. Sie wollen das noch einmal fühlen. Mit aller Kraft, und manchmal auch mit verzweifelter Kraft.

Ihre Heldinnen dürften ungefähr zu Ihrer Generation (Jahrgang 1969) gehören, also inzwischen um die 50 sein. Wie würden Sie die Stimmung beschreiben?
Ich war immer der festen Überzeugung, dass Älterwerden für mich keine Rolle spielt, bis ich genau das einer Freundin sagte und in dem Moment merkte, dass es natürlich doch eine Rolle spielt. Kurz vor 50 ist ein komisches, durchaus auch befremdliches Alter, weil man plötzlich genau hinsehen muss, auch wenn man keine Lust dazu hat. Was ist noch möglich, was nicht mehr? Eine ziemlich wilde Mischung aus Wehmut, Sentimentalität, Neugier, Ausgelassenheit, Vorstoß und Rückzug gleichzeitig. Ich hätte das Buch weder früher noch später schreiben können.

Ein Satz, der unter den Freundinnen immer wieder fällt, ist: „Aus dem Alter sind wir raus …“ Selbsttäuschung?
Ich bin selbst immer wieder hin- und hergerissen. Eigentlich ist das ein guter Satz, um sich etwas ein- oder auszureden. An einer Stelle sagt Elsa: „Ich dachte, ich bin aus dem Alter raus, dass mir das Herz gebrochen wird.“ Aus dem Alter ist man anscheinend nie raus.

Marie findet im Ferienhaus eine Jeans, die sie vor rund 30 Jahren getragen hat – und schon damals abschneiden wollte. Das holt sie nun nach und macht Hotpants daraus. Selbstbefreiung aus dem Konventionenkorsett? Selbsttäuschung?
Marie ist innerlich frei und würde sich nie selbst täuschen. Sie ist einerseits sehr bürgerlich, andererseits ist sie vielleicht die Figur, die sich am wenigsten darum schert, was die anderen denken. Sie schneidet die Jeans ab, weil sie Lust dazu hat. Andererseits weiß sie, dass sie gut darin aussieht. Sonst würde sie es nicht tun.

„Wenige Worte können alles verändern.“

Zu den Versäumnissen im Schicksalssommer zählt auch viel Unausgesprochenes. Was bedeutet das für das Jetzt?
Ich glaube nicht, dass man immer über alles reden muss. Doch manchmal ist es wichtig. Nur wenige Worte können ein ganzes Leben verändern. Elsa glaubt zwar, dass sie über alles reden will und alles klären, aber gleichzeitig vermeidet sie es. Marie hat sich bewusst gegen das Reden entschieden. Fanny hat eine tiefe Sehnsucht danach, obwohl sie eher beobachtet, am Ende aber ist sie die treibende Kraft. Alle brauchen Jahrzehnte, um endlich zu reden. Das ist dann sehr schmerzhaft für sie, aber auch befreiend.

Elsa, Marie und Fanny haben die Vergangenheit auf unterschiedliche Weise in Erinnerung. Und sie gehen unterschiedlich damit um …
Erinnerung ist etwas Faszinierendes und Erschreckendes zugleich: Menschen erleben etwas gemeinsam und erzählen über das selbe Geschehen zwei vollkommen andere Geschichten. Die Heldinnen meines Romans erinnern sich an die Vergangenheit nur so, wie sie sich erinnern wollen. Genau deshalb hatten sie auch so lange keinen Kontakt. Sie treffen sich wieder, um eine gemeinsame Version des Vergangenen zu finden. Das ist schmerzhaft. Aber sie finden sie. Und sie merken, dass es wichtig ist, eine gemeinsame Geschichte zu haben, in jeder Hinsicht.

Im Roman kommt der Literatur und dem Lesen oder Vorlesen besondere Bedeutung zu. Welche? Und wie haben Sie die erwähnten Bücher ausgewählt? Warum beispielsweise „Alice im Wunderland“? Und warum Cummings und Tennyson?
Ich habe sehr viele Lieblingsbücher. Und Lieblingsschriftsteller. Und Lieblingszitate. Doch über Alice und Cummings und Tennyson könnte ich eigene Romane schreiben.

„Sie kennen beides, Schmerz und Glück.“

Natürlich treibt die Liebe Ihre Heldinnen um. Worauf kommt es ihnen bei den verschiedenen Interpretationen und Idealvorstellungen an?
Das Entscheidende ist nicht, dass jede meiner Heldinnen etwas anderes sucht oder erwartet oder ersehnt in der Liebe, sondern dass es ihnen im Leben gelingt herauszufinden, was das Richtige für sie ist. Sie wissen alle, was sie wollen, was sie haben oder nie haben werden, was sie vermissen, was sie suchen. Sie kennen beides, den Schmerz und das Glück. Und sie sind auf ihre Weise immer wieder bereit, sich beidem zu stellen.

Auch die Nebenfiguren wirken wie individuelle und originelle Persönlichkeiten, etwa Yann, Lenicas Onkel, der Dorfbriefträger. Hatten Sie da Vorbilder aus dem wirklichen bretonischen Leben?
Das bretonische Leben bietet unendlich viele Vorbilder. Und die Bretonen sind die besten Geschichtenerzähler. Beides ist perfekt, wenn man einen Roman schreiben will.