VERDIENSTKREUZ 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland, Deutscher Jugendliteraturpreis, Ehrenbürgerin der freien Hansestadt Hamburg, Initiatorin der „Hamburger Erklärung“, promovierte Literaturwissenschaftlerin, Mutter, begeisterte Leserin, erfolgreiche Autorin, Schöpferin großartiger Charaktere und engagierte Kämpferin für die Leseförderung bei Kindern und Jugendlichen: Kirsten Boie! 2020 feiert die Hamburgerin nicht nur ihren 70. Geburtstag, sondern auch 35 Jahre Schriftstellerinnenleben und 20 Jahre Serienerfolg mit „Möwenweg“.

Wofür sind Sie Ihren Eltern heute noch dankbar?
In meiner Kindheit hat absolut nichts darauf hingedeutet, dass ich später einmal da ankommen würde, wo ich heute bin: Dafür sind das Bemühen meiner Eltern um Bildung für ihre Kinder und meine Leseleidenschaft verantwortlich. Für beides bin ich bis heute dankbar.

Was haben Sie aus Ihrer Kindheit fürs Leben mitgenommen?
Das Leben ist schön – du musst dir nur selbst auch Mühe geben.

Ihre Grundschullehrerin Frau Riehl haben Sie in sehr positiver Erinnerung. Was war das Besondere an ihr?
Frau Riehl hat in einer Zeit, in der es kaum Lehr- und Lernmittel gab, trotzdem einen Unterricht gegeben, der ganz unterschiedliche Kinder ernstgenommen, mitgenommen und ihnen gezeigt hat, was sie schon alles können.

Welche Autoren oder Bücher haben Ihnen als Kind oder Jugendliche die Augen geöffnet?
Lindgrens „Bullerbü“, ein Buch über Albert Schweitzer, Borchert, Böll, „Weine, du geliebtes Land“ über die Apartheid in Südafrika, sehr früh auch Bertolt Brecht.

Wozu möchten Sie mit Ihrer eigenen Geschichte ermutigen? Und wen?
Ich wünsche mir, dass gerade Eltern ohne höheren Bildungsabschluss ihren Kindern das Zutrauen vermitteln, dass sie, wenn auch nicht ohne Anstrengung, (fast) alles schaffen können und für unsere Gesellschaft wichtig sind.

Für Leseförderung setzen Sie sich schon lange ein. Was hat Sie aufgerüttelt und Ihnen die Notwendigkeit Ihres Engagements bewusst gemacht?
Bei Schullesungen erlebe ich immer wieder Kinder, die auch in der 4. Klasse noch nicht lesen können. Die internationale PISA-Studie hat gerade wieder gezeigt, dass das sogar für ein Fünftel (!) unserer Fünfzehnjährigen gilt. Welche Zukunft haben sie in unserer Gesellschaft? Welche Zukunft hat unsere Gesellschaft mit ihnen?

Wie erklären Sie es sich, dass so viele Kinder Schwierigkeiten mit dem Lesen haben?
Dazu müsste man einen ganzen Aufsatz schreiben! Wichtig: fehlende Sprachkompetenz, keineswegs nur bei Kindern mit Migrationshintergrund. Fehlende Frustrationstoleranz, fehlende Konzentrationsfähigkeit.

Wie wirkt sich Leseschwäche aus?
Wer nicht lesen kann, kann kaum einen qualifizierten Beruf erlernen, wird immer auf das soziale Netz angewiesen sein, ohne selbst einzahlen zu können. Er oder sie kann keine Zeitung lesen und ist vom demokratischen Meinungsbildungsprozess weitgehend ausgeschlossen. Das ist auch eine Gefahr für unsere Demokratie.

Nicht selten hört man ja, dass es in unserer digitalen Welt auf zeitgemäße Medienkompetenz ankommt – und mit Computern, Smartphones & Co. kennen sich Kinder und Jugendliche unbestritten fast besser aus als wir. Wie würden Sie da für die gute alte Lesekompetenz argumentieren?
Mit diesen Geräten komme ich zwar (fast) ohne Lesekompetenz über die Runden – YouTube, Sprachnachrichten auf WhatsApp … Aber das reicht nicht für einen Beruf und das reicht nicht für die demokratische Meinungsbildung!

2018 haben Sie die „Hamburger Erklärung“ gestartet – und viel prominente Unterstützung bekommen. Was hat es mit dieser Petition auf sich und was macht sie Ihnen so elementar wichtig?
Knapp 120.000 Menschen haben die Forderung unterschrieben, dass kein Kind in Deutschland die Grundschule verlassen darf, ohne lesen zu können. Im Dezember 2018 wurde diese Erklärung der Bundesbildungsministerin und der Kultusministerkonferenz übergeben.

Was sind jetzt nach Ihrer Idealvorstellung die wichtigsten Schritte? Wie lässt sich die Herausforderung Ihrer Überzeugung nach meistern?
Wir müssen auf allen Ebenen arbeiten – schon bei den sogenannten Vorläuferfähigkeiten: Elternarbeit, Kitas; danach ein Schwerpunkt auf dem Lesenlernen in der Grundschule. Und der Bildungsföderalismus – also dass für diese Fragen jedes Bundesland unabhängig zuständig ist – darf dabei nicht im Wege stehen. Wir brauchen einen nationalen Leseplan.

Wie ergründen oder erspüren Sie, was Kinder am meisten bewegt und interessiert?
Ich weiß es nicht! Ich war selbst mal ein Kind. Ich hatte Kinder. Ich habe bis heute viel mit Kindern zu tun.

Welchen Einfluss hat die Leseschwäche junger Menschen auf Ihre Arbeit als Autorin?
Die Schere zwischen denen, die gerne und viel lesen und verstehen, und denen, für die zunächst nur einfache, kurze Texte in einfacher Sprache zugänglich sind, klafft weiter auseinander als je zuvor. Ich versuche, für beide Gruppen zu schreiben.

„Nicht aufgeben – das Undenkbare schaffen!“

Eine Einladung zum Lesen ist die große Jubiläums-Edition mit einigen Ihrer großen Erfolge. Für alle, die gerade erst ins (Vor)Lesealter hineinwachsen: Was ist das Besondere an den Kultfiguren „Seeräubermoses“ und dem „kleinen Ritter Trenk“?
„Seeräubermoses“ ist ein Mädchen, das zeigt: Man kann als Mädchen sowohl ein wilder Seeräuber wie eine Prinzessin sein. Und Trenk beweist, dass auch ein leibeigener Bauer zum Ritter werden kann. Beide geben nicht auf und erreichen so das vorher Undenkbare.

Auch zum 20-jährigen Jubiläum der Kinder aus dem Möwenweg gibt es eine druckfrische Sonderausgabe. Was ist das Erfolgsrezept der Reihe?
Kinder entdecken in diesen Büchern sich selbst und ihren eher durchschnittlichen Alltag – aber als etwas Tolles. Das verändert vielleicht ja auch ihren Blick auf sich selbst und ihr Leben?

Was können wir tun, um Leseinteresse oder sogar -begeisterung zu wecken?
Ganz, ganz frühes Vorlesen und Bücherangucken – und damit weitermachen, solange das Kind es wünscht, auch wenn es selbst schon lesen kann! Das Kind selbst die Bücher aussuchen lassen – nach seinen eigenen Interessen.

Was hat Sie in jüngster Zeit am meisten berührt im Austausch mit Ihren ganz jungen Lesern?
Wenn nach einer Lesung für eher buchferne Kinder die Frage- und Gesprächsrunde im Anschluss so lange dauert, dass ich sie irgendwann abbrechen muss, obwohl es noch tausend Fragen gäbe: Einfach, weil die Kinder plötzlich gemerkt haben, dass Bücher offenbar nicht unbedingt dumm und sie nicht zu dumm für Bücher sind.

Ausgewählte Werke von Kirsten Boie:

Kirsten Boie
„Kirsten Boie. Die Jubiläums-Edition“
Friedrich Oetinger
65,– €
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Kirsten Boie
„Wir alle zusammen im Möwenweg“
Friedrich Oetinger
16,– €
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Kirsten Boie
„Ein Sommer in Sommerby“
Friedrich Oetinger
14,– €

Auch als eBook | Hörbuch auf Hugendubel.de erhältlich

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Kirsten Boie
„Vom Fuchs, der ein Reh sein wolltel“
Friedrich Oetinger
16,– €

Auch als eBook | Hörbuch auf Hugendubel.de erhältlich

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