LISA TADDEO kennt kein Tabu, was Enthüllungen über weibliche Sexualität und Sehnsüchte in unserer männerdominierten Welt betrifft. Für einen Paukenschlag sorgte die US-Autorin schon mit ihrem Reportagebuch „Three Women – Drei Frauen“, deren desillusionierende intime Bekenntnisse sie dokumentierte: Zündstoff, der Debatten entfacht hat. Nun toppt sie den Weltbestseller mit ihrem ersten Roman. „Animal“ ist die aufrüttelnde Geschichte einer Frau auf dem Weg von der Selbstaufgabe zur Selbstermächtigung.​

Weltweit verbinden Leserinnen und Leser mit Ihnen Ihren Bestsellererfolg „Three Women – Drei Frauen“, in den Sie acht intensive Jahre journalistischen Einsatz gesteckt haben. Was hat Ihnen dieses Projekt so bedeutsam gemacht?
Ich wollte ein Licht auf „normale“ Menschen werfen, um zu zeigen, dass die Geschichte eines jeden Menschen genauso wichtig ist wie die eines anderen. Und ehrlich gesagt, der Erfolg des Buches gab mir das Gefühl, dass mir das zumindest gelungen ist.

Wie charakteristisch ist „Three Women – Drei Frauen“ für Sie als Autorin und welche Lebensphilosophie steht dahinter?
Die Philosophie dahinter ist das Zuhören, das Knacken jedes Details, bis man auf der anderen Seite des Spiegels steht.

„Wie verletzend Gleichgültigkeit sein kann.“

Unter den vielen positiven Stimmen von Autorenkollegen zu „Drei Frauen“ war beispielsweise Dave Eggers. Welches Echo haben Sie sonst von männlichen Lesern bekommen? Und was macht „Three Women – Drei Frauen“ zur lohnenden Lektüre für Männer?
Ich bin immer wieder fasziniert von den männlichen Reaktionen auf „Three Women – Drei Frauen“. Einer der ersten männlichen Leser des Buches sagte, dass er sich bis zur Lektüre des Buches nicht ganz im Klaren darüber war, welches Ausmaß an Schmerz jemand verursacht, der unnahbar ist. Wie verletzend Gleichgültigkeit sein kann. Das war so schön zu hören. Es wäre Linas Wunsch gewesen, dass ihre Geschichte so nachhallt, dass sie einem anderen Menschen in der Welt zeigt, welche Macht es hat, wenn man ihn wahrnimmt.

Bei der Arbeit an „Three Women – Drei Frauen“ haben Sie viele und vielfältige weibliche Lebensgeschichten kennengelernt. Wie wirken diese Erfahrungen bei Ihnen nach?
Durch ein besseres Verständnis für mich selbst.

Was inspirierte Sie zu Ihrem neuen Roman „Animal“?
Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt. Diejenigen, denen sehr viel passiert ist, und diejenigen, denen überhaupt nicht viel passiert ist. Ich wollte „Animal“ für die Gruppe der Leidenden schreiben, um sie wissen zu lassen, dass es andere gibt, die sie verstehen.

Was symbolisiert „Animal“?
Die Natur von uns allen. Das, was wir hinter den Höflichkeiten und den iPhones sind.

„Einsam, wütend, wolllüstig.“

Sie erzählen aus der Perspektive von Joan. Wie würden Sie Ihre Protagonistin beschreiben?
Verdorben, sinnlich, genau, alarmierend, einsam, weise, wütend, wollüstig.

Ihr Roman beginnt mit einem tragischen Zwischenfall. Was ist das Entscheidende daran für Joan?
Joan brauchte etwas Explosives, um sich aus ihrer düsteren Erstarrung aufzurütteln.

Joan unterscheidet zwischen Frauen, die Umzugskisten sauber beschriften, und sich selbst. Welches Selbstverständnis oder Selbstwertgefühl steht dahinter?
Joan wünschte, sie wäre jemand, der ihre Umzugskisten beschriftet. Sie wünschte, sie hätte die geistige Freiheit, so etwas zu tun. Sie glaubt jedoch nicht an das Morgen, warum sollte sie also eine Schachtel beschriften. Sie wünscht, sie wäre nicht so.

Besonders am Herzen liegt Joan ein Bild von Diane Arbus. Was verbindet Joan mit dieser Künstlerin?
Beide haben einen wachen Blick, beide sind lebenshungrig.

„Wie Schönheit als Käfig wirkt“

Joan prüft nicht nur ständig ihre eigene Attraktivität, sondern registriert akribisch, wie andere Frauen aussehen und wie anziehend sie wirken. Wer oder was prägt ihren Blick?
Joan fühlt sich von der Schönheit angezogen. Davon, was Schönheit für Männer und Frauen bedeutet. Und davon, wie Schönheit als Käfig wirkt, ganz gleich, ob man innen oder außen ist.

Wer oder was prägt Joans Verhältnis zu Männern generell?
Joans Vater hatte einen prägenden Einfluss auf ihre Beziehungen zu Männern, aber auch ihre Mutter. Beide prägten zu gleichen Teilen ihre Stärken und Schwächen. Und ganz praktisch gesehen war es ihre Tante Gosia, die ihr beibrachte, wie sie ihre Sexualität als Waffe einsetzen kann.

Joan verspürt nicht selten Ablehnung gegen andere oder Wut. Welche Ursachen sehen Sie und was erscheint Ihnen dabei wichtig?
Sie hat einen unglaublichen, unauslöschlichen Verlust erlitten. Manchmal, wenn man wichtige Menschen verliert, schaut man sich all die Menschen an, die zurückbleiben, und man empfindet Wut über die Kriminalität des Zufalls.

„Zuhören, ohne zu verurteilen.“

Joan ist unterwegs zu einer Frau namens Alice. Inwiefern verkörpert sie eine Schlüsselrolle?
In vielerlei Hinsicht, aber die wichtigste ist, dass Alice die einzige Person sein wird, die wirklich zuhört, fast ohne zu urteilen und wie eine Verbündete.

In Ihrem Buch geht es nicht zuletzt darum, Irrtümer auszuräumen. Welche hauptsächlich?
Dass Frauen für verrückt gehalten werden, obwohl sie in Wirklichkeit nur wütend sind.

Die Frauenbewegung verändert sich, auch durch MeToo. Was steht für Sie heute ganz oben auf der Agenda?
Anderen Frauen zu helfen, einander besser zuzuhören, weniger zu urteilen, offener zu sein und mehr Mitgefühl zu zeigen.

„Dass wir alle auf demselben Weg gehen.“

Was wünschen Sie sich für den Umgang von Frauen miteinander?
Zu wissen, dass wir alle denselben Weg beschreiten, einige von uns hinter, einige vor uns, aber immer in den Fußstapfen der anderen. Wenn wir vorne sind, vergessen wir, dass wir einmal hinten waren.

Und wie stellen Sie sich den Idealmann vor? Welche drei wichtigsten Eigenschaften müsste er haben?
Er müsste andere wichtiger nehmen als sich selbst, ein visionäres Einfühlungsvermögen haben und ein unermüdlicher Zuhörer sein.

„Animal“ wird verfilmt. Wie sind Sie beteiligt?
Ich werde das Drehbuch schreiben und in großem Maße beteiligt sein. Ich freue mich darauf, einen Film mit einer starken, wilden und schwierigen weiblichen Hauptfigur zu machen.