BESSER GEHT’S NICHT! Schon als Kind fiel Manuela Golz durch ihre überbordende Fabulierlust auf. Reines Glück hat die Berliner Autorin und Psychotherapeutin zudem mit ihrer Familie: die Inspirationsquelle schlechthin, bereits für ihr Debüt „Ferien bei den Hottentotten“ und nun für ihren neuen Roman. „Sturmvögel“ ist angeregt durch die Lebensgeschichte von Manuela Golz‘ Großmutter Emmy. Das überraschungsreiche Porträt einer unbeugsamen Frau, deren Schicksal das wechselvolle 20. Jahrhundert spiegelt.

In Ihren Romanen ist die Familie ein großes Thema. Was genau weckte und fesselt Ihr intensives Interesse an diesem Mikrokosmos?
Das ist sicherlich auch berufsbedingt, denn als Psychotherapeutin habe ich häufig mit, sagen wir mal, Familiensystemen zu tun, die erst einmal Verwirrung schaffen.

Welche Bedeutung hat Familie für Sie persönlich? 
Familie ist oft ganz großes Kino und das bei freiem Eintritt; trotzdem bin ich sehr gern ein Familienmensch.

„Familie ist oft ganz großes Kino!“

Die Geschichte Ihrer eigenen Familie scheint Ihnen unerschöpflichen Erzählstoff zu liefern. Wer oder was stand am Anfang Ihres neuen Romans?
Da Emmy in unserer Familie eine zentrale Rolle gespielt hat, stand ihr Tod am Anfang.

Was verbindet Sie mit Ihrer Großmutter? Welche Gemeinsamkeiten mit ihr stellen Sie an sich fest?
Ihr Humor und ihr wahrhaft schräger Gesang. Ich denke, ich teile auch die Fähigkeit mit ihr, in (fast) allen Lebenslagen erstmal Ruhe zu bewahren.

Welche Eigenschaften beschreiben am treffendsten die Persönlichkeit Ihrer Großmutter Emmy?
Es reicht eine Eigenschaft, die alles andere einschließt: Liebesfähigkeit.

„Sehr viele Frauen haben außergewöhnliche Leben geführt.“

Was macht für Sie Ihre Großmutter Emmy zur Heldin und was deren Leben außergewöhnlich und romanreif?
Schon allein die Tatsache, dass sie da war und mir sowohl händisch als auch bildlich oft liebevoll den Kopf gewaschen hat. Dass ihr Leben außergewöhnlich war, sehe ich so nicht. Ich glaube eher, dass gerade in dieser Generation sehr viele Frauen außergewöhnliche Leben geführt haben, aber deren Geschichten kommen leider nur selten an die Öffentlichkeit.

Was macht den zeitlichen beziehungsweise historischen Rahmen von Emmys Leben für Sie literarisch ergiebig?
In keinem anderen Jahrhundert konnte man so viel Umwälzung in allen Lebensbereichen erleben.

Der Horizont des Inselkinds Emmy erweitert sich auch geografisch kolossal. Was ist für Sie das Spannende an den Schauplätzen und wie wirkten sich diese Lebenswelten auf Emmy aus?
Am Inselschauplatz finde ich am spannendsten, dass er ein eigener Kosmos ist. Eigentlich müsste man keine Sonde zum Mars schicken, um andere Welten zu erkunden. Die andere Welt liegt quasi vor der Tür.

Und Sie selbst? Sehnen Sie sich manchmal auf eine kleine Insel oder fühlen Sie sich als Berlinerin eher wie der geborene Metropolenmensch?
Im Inneren wäre ich gerne ein Inselmensch, aber ich weiß, dass ich den Irrsinn meiner Stadt zu sehr vermissen würde, von daher also eher Metropolenmensch.

„Sturmvögel – heimkehrende Seeleute.“

„Sturmvögel“ spielt wahrscheinlich nicht nur auf Emmys Kindheitsinsel und dort häufige gefiederte Exemplare an, oder?
Tatsächlich spielt der Titel nicht auf gefiederte Lebewesen an. Sturmvögel wurden die heimkehrenden Seeleute genannt. Symbolisch beinhaltet das die Aussicht, trotz schwerer Stürme im Leben, an einen sicheren Ort gelangen zu können.

Hat Emmy von Ihrem Naturell her mehr gemeinsam mit den Sturmvögeln oder mit den Strandläufern?
Wenn ich mir ihr Leben betrachte, dann war sie sicherlich ein Sturmvogel. Aber vom Naturell her war sie eher entspannter Bär … mit Schwarzwälder Kirschtorte vor der Brust.

Nicht nur im Titel, sondern auch im Roman tauchen von Anfang an Vögel auf. Was macht Ihre Faszination aus?
Ehrlich gesagt steckt nur dahinter, dass ich es schlicht beruhigend finde, Vögel zu beobachten.

Ihr Roman beginnt mit dem Berliner Balkonblick der betagten Emmy auf Elstern und Meisen, über deren Nestbauaktivitäten sie sinniert. Welche Symbolik steckt für Sie in dieser Szene?
Ich habe selbst oft mit meiner Großmutter auf ihrem kleinen Balkon gesessen, dann haben wir entspannt geschwatzt, gelacht und manchmal auch gesungen. Da lag es nahe, mit einer Szene auf dem Balkon zu beginnen.

Alle scheinen sich um die 86-jährige Emmy Sorgen zu machen, sie selbst jedoch nicht. Worin besteht der entscheidende Unterschied?
Der Unterschied besteht eigentlich nicht in der Lebensphilosophie, sondern im Alter. Je älter wir werden, umso weniger können wir verdrängen, dass unser Leben ein Ende hat.

„Der Ton macht die Musik.“

Nicht ganz freiwillig begibt sich Emmy am Anfang zu einem Kardiologen, der als Koryphäe gilt. Wem der beiden fehlt hier was?
Emmy fehlt die Angst vor dem Tod und über den Arzt würde sie sagen: Der Ton macht die Musik.

Warum behält Emmy die kardiologische Diagnose für sich?
Sie möchte vermeiden, dass Hilde im Dreieck springt.

Emmy ist bei ihrer Tochter Hilde auf dem ersten Platz bei den Kurzwahltasten am Telefon. Trotzdem haben die beiden nicht unbedingt einen guten Draht zueinander. Was löst dauernd Funkstörungen aus?
Im Grunde genommen ist es keine richtige Funkstörung. Vielleicht ist es eher ein Missverstehen, denn die beiden lieben einander, wenn auch auf eine nicht ganz einfache Art. Familie eben.

Ob zwischen Emmy und ihren erwachsenen Kindern Hilde, Otto und Tessa oder zwischen den drei Geschwistern: Welche Beziehungsmuster und -probleme haben Sie am meisten interessiert?
Die Frage, warum sich mindestens einer immer zurückgesetzt fühlt.

„… und plötzlich haben wir Fragen.“

Hilde stöbert heimlich im Keller ihrer Mutter und macht einen erstaunlichen Fund. Welchen Stellenwert schreiben Sie dieser Entdeckung zu?
Der Fund stellt das Bild, das die Kinder sich von Emmy gemacht haben, in Frage. Das kennen viele. Wir entdecken irgendetwas völlig Unerwartetes an unseren Eltern und plötzlich haben wir Fragen, die uns vorher nie in den Sinn gekommen wären.

Wie hat sich beim Recherchieren und Schreiben Ihr Verhältnis zu Emmy entwickelt? Was hat Sie am meisten bewegt?
Am meisten hat mich bewegt, wie entbehrungsreich ihre Kindheit war.

Das Schreiben haben Sie schon früh für sich entdeckt, ihre Lust am Geschichtenerfinden und Fabulieren ebenfalls. Welche Möglichkeiten und Freiräume sind Ihnen am wichtigsten?
Dass ich literarisch getroffene Entscheidungen revidieren kann, ohne dass einer heult.

Als Kind haben Sie Pippi Langstrumpf beziehungsweise die Besetzung neu erfunden. Was hätten Sie denn am Leben der echten Emmy am liebsten korrigiert?
Ich hätte nichts korrigiert, weil wir nur durch das, was wir (er)leben, zu denen werden, die wir sind. Es ist so, wie Marianne sagt: „Wir müssen lernen, die Dinge so zu lieben, wie sie sind.“ Und wo ich Emmys Geschichte einen anderen Lauf gegeben habe … das bleibt der Fantasie der LeserInnen überlassen.