ALS STIMME SEINER Generation gilt Michael Nast seit seiner sensiblen Diagnose der „Generation beziehungsunfähig“. Der Beitrag wurde mehr als eine Million Mal im Internet geteilt und in Buchform ein Mega-Bestseller samt ausverkaufter Tournee. Plötzlich war Nast ein Star – und kam ins Grübeln: z.B. über Statussymbole, Selbstinszenierung und das, was dabei auf der Strecke bleibt. Seine Bilanz verbindet der 1975 in Ost-Berlin geborene Autor mit einer Anleitung für mehr Miteinander und ein erfüllteres Leben.

Mit Ihrem Bestseller „Generation beziehungsunfähig“ haben Sie es zu Popstar-Status gebracht. Wie erklären Sie sich Ihre Wirkung und den Erfolg?

Das Thema hat natürlich einen Nerv der Zeit getroffen – und ich habe auch nicht von oben herab über die Leute gesprochen oder sie analysiert. Ich habe aus ihrem Erleben heraus geschrieben. Ich bin ja einer von ihnen. Sie haben sich in meinen Texten wiedergefunden. Dass meine Texte sehr pointiert geschrieben sind und auf meinen Lesungen auch viel gelacht wird, trägt sicherlich auch dazu bei. Und dass ich mich auch vor 1000 Leuten – zumindest beinahe – so gebe, als würde ich mit einem Freund am Küchentisch reden, vielleicht auch.

Bei Ihren „Beziehungsunfähig“-Bühnenauftritten bestand das Publikum angeblich zu 90 Prozent aus Frauen. Schreiben Sie das Ihrem eigenen Charisma zu? Oder liegt es womöglich daran, dass so viele Frauen sich endlich Aufschluss erhoffen, wie die komplexe Empfindungswelt von Männern beschaffen ist?

Auf den meisten Lesungen gibt es ja mehr Frauen als Männer, Frauen lesen einfach mehr, aber bei mir ist das schon extrem. Frauen scheinen diese Themen einfach mehr zu beschäftigen. In Bonn habe ich mal vor 1000 Gästen gelesen – 15 davon waren Männer.

„Als Mensch reifen – mein Leben lang.“

Anscheinend sind bzw. waren Sie selbst auch nicht gerade der einfachste Beziehunsgtyp: In Ihrem Bestseller haben Sie sich geoutet als „verkopft und übersensibel“ und als Langzeit-Single. Ihr aktueller Status?

Das Schreiben meiner Texte hilft mir, mich weiterzuentwickeln. In meinem WhatsApp-Status steht „Beim Lernen“ – und das trifft meine Haltung wohl am besten. Der Weg ist das Ziel. Ich bin auf dem Weg, als Mensch zu reifen, wahrscheinlich mein Leben lang. Und mein aktueller Status: Ich bin seit kurzem wieder Single.

Haben Sie das Gefühl, dass in unserer Zeit auch Erwachsene eine Art Dr. Sommer brauchen?

Weil viele Leute in der heutigen Zeit orientierungslos sind, suchen sie nach Anleitungen, und genau das ist der falsche Ansatz. In meinen Texten erkennen sie sich wieder, und das ist eine Chance zur Selbstreflexion, die viel substantieller ist, als vorgefertigte Anleitungen zu befolgen, die vielleicht gar nichts mit einem selbst zu tun haben.  

„Beziehung“ beschränkt sich bei Ihnen aber nicht nur auf Paare sowie Pleiten, Pech und Pannen in der Zweisamkeit. Im neuen Buch verändern beziehungsweise erweitern Sie den Blickwinkel. Ihr Ausgangspunkt und Ihr Hauptinteresse?

Genau genommen habe ich immer über die Beziehungen zwischen den Menschen generell geschrieben. Wie wir miteinander umgehen, inwieweit oder ob wir überhaupt noch aufeinander achten. Meine Texte sind trotz vieler amüsanter Stellen immer schon gesellschaftskritisch gewesen. Und so ist es auch mit dem neuen Buch, in dem ich mich frage, was ein Leben überhaupt lebenswert macht. Was man zum Beispiel im Alltag ändern könnte, um aus einem gefüllten ein erfülltes Leben zu machen.

„ … und die große Chance unserer Zeit.“

Sie nehmen sich nicht weniger als den Sinn des Lebens vor. Was genau hat Sie ins Grübeln gebracht?

Es ist natürlich eine Frage, die sich durch mein Leben zieht. Sie verschwindet nur oft hinter meinem überladenen Alltag. Aber ich glaube, dass wir gerade am Anfang eines großen gesellschaftlichen Umbruchs stehen, der für viele auch mit Einschränkungen verbunden sein wird. So werden wir gezwungen sein, uns die Frage nach diesem Sinn ernsthaft zu stellen. Die vorgegebenen Werte zu hinterfragen und uns darauf zu besinnen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Das ist die große Chance unserer Zeit.

Sie sind Jahrgang 1975 und in Berlin-Köpenick aufgewachsen. Welche Kindheitserinnerungen an die DDR haben Sie noch?

Es war die glücklichste Zeit meines Lebens, denn ich war ein behütet aufwachsendes Kind.

Doppelt so viel Erfahrung wie mit dem DDR-Verständnis von real existierenden Sozialismus haben Sie mit dem Kapitalismus. Ihre bisherige Bilanz in punkto Lebensqualität?

Materiell geht es mir sehr gut, aber wirkliche Lebensqualität, die, nach der sich heute so viele – und natürlich auch ich – sehnen, hat nichts damit zu tun, sein Leben nach Konsum auszurichten. Man verdrängt das oft, aber wir sind nun mal auf das Selbstverständnis konditioniert, dass Konsum glücklich macht. Und die Symptome dieses Irrtums spüren wir gerade mehr denn je.

Sie klopfen die gesamtdeutsche Entwicklung nach Umbrüchen ab. Was haben Sie in Ihrer Biografie als entscheidende Ereignisse ausgemacht?

Das Buch handelt von den beiden großen gesellschaftlichen Umbrüchen meines Lebens: dem Mauerfall und unserer unruhigen Gegenwart, in der sich viele Biografien einschneidend ändern werden. Zeiten, in denen man sich die Frage stellt, worauf es im Leben eigentlich ankommen sollte. Ich habe lange angenommen, dass es keinen größeren Bruch als die Wende für mich als Ostdeutschen geben würde. Seit einigen Jahren begreife ich allerdings, dass ich mich im zweiten Umbruch befinde – und diesmal betrifft es uns alle.

Wie haben Sie den Paradigmenwechsel 1989 erlebt?

Plötzlich gab es alle Möglichkeiten, man war nicht mehr in diesem Korsett gefangen. Ich war frei, das zu tun, was ich machen wollte. Hätte es die DDR weiterhin gegeben, wäre ich heute ein vollkommen anderer Mensch. Es war der große Schnitt meiner Biografie. Innerhalb kürzester Zeit verschob sich alles. Positiv wie negativ. Zwischenmenschliche Werte zum Beispiel, die ich als selbstverständlich und wichtig empfand, wurden plötzlich als Schwächen gesehen.

Im Vorwort stellen Sie fest, „dass diese Gesellschaft eine Therapie nötig hat“, Sie selbst eingeschlossen. Wie kamen Sie auf diese Diagnose?

Wir sind so angepasst an die Konsumgesellschaft, dass deren Werte unser Selbstverständnis durchdringen. Wir haben gelernt, ausschließlich anhand unserer Erfolge bewertet zu werden und andere zu bewerten. Wir denken in den falschen Kategorien, wir denken in Gewinnern und Verlierern. Wir sind zu Kapitalisten im Zwischenmenschlichen geworden. Unser Wertesystem des Gegeneinanders ist so verzerrt, wir müssen das dringend neu justieren.

„Authentizität und Individualität – die großen Sehnsüchte.“

Was ist unserer Gesellschaft abhanden gekommen – Ihrer Beobachtung nach?

Die Selbstbeurteilung jedes Youtube-Stars und jedes Influencern ist die Antwort, obwohl gerade solche Leute genau dem Gegenteil entsprechen: Authentizität und Individualität. Das sind die großen Sehnsüchte. Generell habe ich den Eindruck, dass viele Leute sich selbst spielen. Jeder verkauft sich anderen – und vor allem sich selbst. Die Menschen entfernen sich immer weiter von sich selbst.

Wie haben Sie Ihr Themenspektrum abgesteckt?

Ich beziehe es auf das Alltägliche, auf das Zwischenmenschliche, die unmittelbaren Beziehungen zu den Menschen, mit denen wir zu tun haben. Wenn viele etwas im Kleinen ändern, ändert sich auch das Große.

Der Sinn des Lebens ist so individuell wie die einzelnen Menschen. Ihre persönliche Definition?

Es geht gar mir nicht um die große philosophische Frage nach dem Sinn des Lebens. Das ist so ein Brocken, das erschlägt mich. Ich würde die Frage ändern, sie anwendbar machen: „Was für ein Mensch möchte ich sein? Und wofür möchte ich die kurze Zeit, in der ich lebe, nutzen?“

Von welchen Werten oder Orientierungen versprechen Sie sich am meisten für die Gesamtgesellschaft und das Miteinander?

Ein Bewusstsein füreinander, Empathie und einen Blick, der nicht endet, wenn es nicht mehr nur um rein persönliche Interessen geht.

„… Schreiben als erlösende Ablenkung.“

„Schreiben hat die Freundin ersetzt“, haben Sie 2015 in einem Videoclip bekundet. Wie würden Sie es jetzt formulieren?

Das war auf meine ersten Jahre als Autor bezogen, in denen ich ich neben der Arbeit in einer Werbeagentur in meiner Freizeit geschrieben habe. Ich hätte es gar nicht hinbekommen, zeitlich eine Freundin und zwei Jobs unter einen Hut zu bringen. Was auch hineinspielte, war, dass es lange Zeit nur einen Zustand gab, in dem ich nicht schreiben konnte: unerfüllte Liebe oder Beziehungsprobleme. Das zu überwinden war die letzte Entwicklung, die ich als Autor gemacht habe. Die Hälfte des neuen Buches habe ich geschrieben, während ich in einer sehr ungesunden Beziehung war. Da war das Schreiben dann die erlösende Ablenkung.

Als ganz junger Mann haben Sie eine Art Schnupperausbildung im Buchhandel gemacht. Ihre tollste Erfahrung damals?

Ich hatte das Glück, in einer literarischen Buchhandlung in Berlin-Pankow zu arbeiten, in der auch viele Schriftsteller Kunden waren. In der Nähe hat Christa Wolf gewohnt, die immer nur telefonisch bestellt hat. Wenn ich ihr die Bücher vorbeigebracht habe, haben wir immer noch eine Stunde zusammengesessen und geredet. Daran erinnere ich mich immer noch sehr gern.

Und welche Bedeutung haben Bücher für Sie?

Lebensbegleiter sind Dostojewski, Antonio Tabucchi und Milan Kundera. Bei meiner Sinnsuche halfen und helfen mir Alain Badiou, Arno Gruen und Erich Fromm.