„Ein Meisterwerk. Ein wilder und ungewöhnlicher Mix, der das ganze Krimigenre revolutioniert“, schwärmt Arne Dahl. Alle feiern Niklas Natt och Dag und sein vielfach preisgekröntes Debüt „1793“. An den Sensationserfolg knüpft der schwedische Autor nun an: „1794“ führt knöcheltief in den Morast der historischen Wirklichkeit, die viele promillereichen Trost suchen ließ. Am liebsten hätte Niklas Natt och Dag den Kneipenbesuchern persönlich Klatsch und Tratsch abgelauscht oder dem verschuldeten Nationaldichter Carl Michael Bellman Papier, Tinte und Feder ins Gefängnis gebracht … Für uns hat er seine „Schatzkammer historischer Quellen“ geöffnet.​

Ihr Nachname klingt – zumindest für Nicht-Schweden – ziemlich außergewöhnlich. Was bedeutet Natt och Dag?
Als ältestes noch existierendes Adelsgeschlecht Schwedens haben wir ein Familienwappen, das seit 1280 überliefert ist und das eine blaue und eine goldene Hälfte hat. Davon hergeleitet ist Natt och Dag, auf Deutsch „Nacht und Tag“.

Was macht für Sie das ausklingende 18. Jahrhundert zum idealen historischen Rahmen für Ihre Romane?
Das Zeitalter der Aufklärung ist für jeden Autor äußerst ergiebig. Man kann seine Romanfiguren Ideen vertreten lassen, die sich sehr modern ausnehmen und mit dem Wertesystem der heutigen westlichen Demokratien übereinstimmen – obwohl es damals eine im Wesentlichen noch feudal geprägte Gesellschaft war. In gewisser Weise ein Widerspruch – aber es passt zur menschlichen Natur, dass die anscheinend unschuldigen und fortschrittlichen Ideen Rousseaus zu einem Katalysator der Französischen Revolution wurden.

Wenn Ihr neuer Roman „1794“ ein historisches Gemälde wäre: Welche Farbtöne würden vorherrschen?
Schwarz und Rot, mit vielen grauen Zwischentönen und etwas Braun.

An welchen Maler würde das Bild vielleicht erinnern?
Francisco de Goya.

„Ich wollte etwas Ähnliches wie Eco versuchen …“

Warum Kriminalromane?
Die Hauptquelle meiner Inspiration ist schon immer Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“. Als ich ihn in jungen Jahren las, hielt ich ihn für einen spannenden Thriller um mysteriöse Morde in einem mittelalterlichen Kloster. Später habe ich ihn ein weiteres Mal gelesen und konnte kaum glauben, wie viel Geschichtliches und welche komplexen historischen Lektionen mit der Handlung verwoben sind. Das großartige Talent von Eco zeigt sich auch darin, dass diese beiden Dimensionen einander nicht stören, sondern ergänzen. In meinen Träumen wollte ich etwas Ähnliches versuchen.

„1794“ stellen Sie ein Zitat von Carl Michael Bellman voran. Mal abgesehen davon, dass er den Ruhm eines schwedischen Nationaldichters hat: Wofür schätzen Sie persönlich den Schriftsteller und Komponisten?
Als Teenager war ich aus verschiedenen Gründen von Bellman besessen und lernte Gitarre und Flöte spielen, um seine Worte singen und seine Musik spielen zu können. Beides ist meiner Überzeugung nach in der schwedischen Kultur unübertroffen. Bei ihm ist die ganze Bandbreite an Emotionen im Spiel: Er macht sich lustig über bestimmte Eigenheiten seiner Figuren – nicht selten Säufer oder Prostituierte. Aber er blickt auch mit großem Mitgefühl auf ihr elendes Leben. Bellman ist der Grund dafür, dass „1793“ überhaupt zustande kam. In den schwedischen Ausgaben sind zahlreiche Bellman-Zitate im Text versteckt: Auf diese Art habe ich ihm meine Reverenz erwiesen. Bisher weiß ich nicht, ob das irgendwer bemerkt hat.

Wie würden Sie die Lebensumstände der Menschen in Stockholm 1794 beschreiben?
In einer Stadt, wo jedes zweite Kind nicht einmal seinen zweiten Geburtstag erlebte, war für die meisten Menschen das Leben kurz, schwer, ungesund und von Sorgen geprägt. Man tröstete sich mit Alkohol: In der „Stadt zwischen den Brücken“, der heutigen Altstadt Stockholms, gab es über 700 Ausschankstellen – oft mehrere in einem Treppenhaus.

„Damals grassierte Inkompetenz bei der Regierung.“

Für den Auftakt des ersten Kapitels haben Sie eine gereimte Sentenz von Isak Reinhold Blom (1762-1826) gewählt. Dieses Zitat lässt nichts Gutes ahnen, oder?
Im Volk hatte das Jahr 1794 die Bezeichnung „Die Eiserne Zeit“.1794 lag die Wirtschaft noch sehr im Argen. Um die Verhältnisse zu verbessern, beschloss die Interimsregierung, Farbe zu verbieten – vor allem bunte Kleidung. Die Überlegung war, die Armen gar nicht erst in Versuchung zu bringen, das wenige Geld, das sie verdienten, für kostspielige importierte Stoffe auszugeben. In Wirklichkeit wurde Kleidung vererbt und umgearbeitet, weshalb die neue Verordnung kontraproduktiv war. Um ihr nämlich zu entsprechen, mussten viele Menschen neue, eben einfarbige Kleider erstehen, was ihre ohnehin schon schlechte Lage noch weiter verschlimmerte. Im August 1794 wurde auch noch der Kaffee verboten. Als das diplomatische Corps sich weigerte, auf Kaffee zu verzichten, wollte die schwedische Regierung Zwang ausüben, wodurch sie sich fast ganz Europa zum Feind machte. Wie man sieht, grassierte damals Inkompetenz bei der Regierung …

Im Nachwort zu „1793“ haben Sie es als größten Gewinn bezeichnet, die historischen Verhältnisse und Fakten zu recherchieren. Wie war es bei der Arbeit an „1794“? Worüber haben Sie am meisten gestaunt?
In einer Monographie über das Irrenhaus von Danviken stieß ich auf die sogenannte „swing machine“, also „Schleudermaschine“. Dabei handelt es sich um eine große Zentrifuge, auf die der Patient geschnallt wurde. Dann wurde er so schnell wie möglich herumgeschleudert, bis ihm Blut aus den Augen und der Nase trat. Die wissenschaftliche Überzeugung war damals, die Geisteskrankheit komme daher, dass die Seele irgendwie in den Körper geschlüpft war und man sie an die richtige Stelle zurückholen könne, indem man den Körper einem hinreichend großen Schock aussetzt. Nach einiger Zeit wurde ein Arzt zur Überprüfung hinzugezogen. Sein sehr trockener Kommentar: Die Maschine sei zur Therapie von Geisteskrankheit wenig geeignet, dafür aber erstaunlich wirksam, wo Abführmittel versagten.

In „1793“ und „1794“ treffen historische Persönlichkeiten auf erfundene Romanfiguren. Wie würden Sie das Verhältnis von überlieferten Fakten und Fiktion beschreiben?
Das Ideal wäre es, einen Plot zu erfinden, der die Leerstellen zwischen tatsächlichen historischen Ereignissen ausfüllen könnte. Die Grundregel dafür ist, nichts an der geschichtlichen Wirklichkeit zu ändern und die historischen Gestalten so genau und fair darzustellen, wie es die existierenden Quellen erlauben. Anfangs dachte ich, es würde ungeheuer schwer werden, meine Fiktion in die Epoche einzupassen. Aber das Gegenteil war der Fall: Je mehr ich mich in die Zeit vertiefte, desto mehr glichen sich meine Vorstellungen den historischen Gegebenheiten an.

„Der Fall beruht auf Schriften von Marquis de Sade.“

Ausgangspunkt ist klassischerweise ein Verbrechen. Ein überlieferter realer Fall? Oder Fiktion?
Die Details des Falles sind fiktiv, beruhen aber auf den Schriften des Marquis de Sade und haben insofern ihre Entsprechung in der Epoche. Andererseits wurde in „1793“ der Fall angeregt durch die Hinrichtung von Robert François Damiens im Jahr 1757. Er wurde vor einem Pariser Mob gevierteilt, war als bloßer Torso mit baumelndem Kopf noch am Leben, wie man in den Memoiren Casanovas und bei anderen nachlesen kann. In „1794“ gibt es eine Szene, die sich um dieses Ereignis dreht. Gestützt habe ich mich auf Peter Weiss’ Stück „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“.

Hauptermittler sind – wie schon in „1793“ – zwei ganz unterschiedliche Männer. Was ist Ihnen wichtig bei der Charakterisierung und Entwicklung der Charaktere?
In gewisser Weise stellen sie Ideale dar. Cecil Winge aus „1793“ verkörpert den Kult der Vernunft, wie ihn die Aufklärung betrieb. Sein jüngerer Bruder ist Teil meines Versuchs, einen weiteren wichtigen Aspekt in der Philosophie des 18. Jahrhunderts zu beleuchten, der mich sehr interessiert.

Die Quintessenz? Der Kern?
Es ist der Konflikt zwischen zwei Formen der Unvernunft, wobei Rousseau auf der einen und de Sade auf der anderen Seite steht. Beide stimmen darin überein, dass die Vernunft nicht die Hauptantriebskraft der Menschheit ist und dass die Gesellschaft, die sie vorfinden, viel zu wünschen übrig lässt. Rousseau zieht die Schlussfolgerung, dass der Mensch von Natur aus gut ist, aber durch die Gesellschaft korrumpiert wurde. Marquis de Sade glaubt das Gegenteil: Die Übel der Gesellschaft sind nichts anderes als eine Widerspiegelung unserer wahren Natur.

Sie sind nicht nur Autor, sondern auch Musiker und spielen Instrumente aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Welche? Und wie kamen Sie auf die japanische Bambuslängsflöte Shakuhachi?
Ich dilettiere ein wenig auf der Gitarre, der Laute, der Mandoline und der Violine. Gegen Ende von Donna Tartts Roman „Der Distelfink“ heißt es, dass die Dinge, die man liebt, einen ebenso wählen, wie man sie wählt: „Es ist ein Flüstern aus einer schmalen Gasse: He, du da!“ So erging es mir mit der Shakuhachi. Ein eigenartiger, klagender Laut, den ich zufällig auf einer Schallplatte hörte, ließ mich nicht mehr los. Um ihn aufzuspüren, tat ich alles, was in meiner Macht stand. Und es stellte sich heraus, dass einer der weltweit besten Spieler außerhalb Japans ganz in meiner Nähe wohnte und bereit war, mir Stunden zu geben. Sein Bruder hatte das Haus meines Vaters gekauft. Zufälle gibt es!

Und welche Bedeutung schreiben Sie der Musik in „1794“ zu?
In „1794“ versuche ich, meinen Musikerkollegen etwas Gutes zu tun. Zur Schlussszene gibt es ein Musikstück, das als Kanon in D-Dur kenntlich gemacht wird. Da das Jahr der Komposition ebenfalls erwähnt wird, bin ich mir doch ziemlich sicher, dass jeder Leser sofort versteht: Wir sprechen da über Euren Nürnberger Johann Pachelbel. Sein Kanon in D-Dur ist eine beliebte Melodie für Hochzeiten. Geschrieben ist es für ein Streichquartett, drei Violinen und ein Cello. Die Violinen haben wunderbare, komplizierte, großartige Stimmen, die in der zauberhaftesten Harmonie zusammenspielen, während das Cello die gleichen acht einfachen Noten immer und immer wieder spielen muss. Über das Stück gibt es eine Theorie: Pachelbel soll eine Cellistin zur Freundin gehabt haben, die ihm den Laufpass gab, und der Kanon war seine Form, sich an ihr zu rächen. Ich garantiere, dass niemand, der den Kanon am Ende von „1794“ erkennt, ihn für seine oder ihre Hochzeit aussuchen würde. Da tue ich also Cellisten einen Gefallen. Und ich trete für die Rechte von Frauen ein, Komponisten den Laufpass zu geben.

„Buchhandlungen sind die besten Orte der Welt.“

Bei Hugendubel am Stachus im Herzen von München wurde der weltweit erste Escape Room in einer Buchhandlung eröffnet – ein enormer Erfolg. „1794“ ist hier das große Thema des aktuellen Rätsels 2020. Ihre Botschaft an die Teilnehmer?
Ich sag mal so: Was soll’s, wenn es Ihnen nicht gelingt, aus dem Escape Room herauszukommen? Wer möchte denn überhaupt eine Buchhandlung verlassen? Buchhandlungen sind die besten Orte der Welt.

Welche Erfahrungen haben Sie in Escape Rooms gemacht?
Ich bin Schriftführer im Vorstand der von Eltern geführten Kita, in die meine Kinder gehen. Jedes Jahr gibt es eine Challenge zwischen dem Vorstand und dem Personal. Dabei habe ich aus leidvoller Erfahrung gelernt, dass ich ein Totalausfall bin, was Escape Rooms anbelangt.

Fans von „1793“ aufgepasst – das Rätsel um die Uhr geht in die zweite Runde!

Spielt exklusiv bei uns den Escape Room „1794“ (2 bis 4 Personen) basierend auf dem gleichnamigen Roman von Niklas Natt och Dag. Taucht in die Zeit der skrupellosen Stockholmer Unterwelt ein, kämpft mit Winge, dem Juristen und Ermittler, gegen das Verbrechen und helft ihm, seine geliebte Taschenuhr wieder zu finden. Nur so kann wieder Ordnung ins Chaos kommen und Winge das Verbrechen lösen.

Buchhandlung Hugendubel am Stachus
Karlsplatz 12 • 80335 München
Tel.: 089 – 30 75 75 75
Email: service@hugendubel.de

Tickets für den Escape Room
unter: www.eventbrite.de