Steffen Kopetzky gilt als einer der wichtigsten und vielseitigsten Schriftsteller unserer Zeit. Seinen Status hat er sich mit literarischen Hochkarätern erschrieben, die spannend wie Thriller sind. Nach seinen im Fernsehen und Feuilleton umjubelten Bestsellern „Risiko“, „Propaganda“ und zuletzt „Monschau“ übertrifft er sich nun selbst mit „Damenopfer“. Eine vielstimmige Hommage an die Revolutionärin Larissa Reissner (1895 – 1926), die charismatische Verkörperung einer neuen Zeit – mit Strahlkraft für unsere Gegenwart!

Aus Ihren großen Romanerfolgen könnte man herauslesen, dass Sie ein Faible für Hauptfiguren haben, die gegen den Strom schwimmen. Eine zutreffende Vermutung?
Jede Schriftstellerin, jeder Autor muss einen eigenen Weg finden – eine Grundbedingung des Schreibens. Es könnte also sein, dass es eine gewisse natürliche Anziehung von eigensinnigen Charakteren und Schriftstellern gibt.

Welche Situationen und Charaktere interessieren Sie beim Schreiben generell am meisten?
Was ich sehr liebe, ist die Schilderung großer, nicht selten leicht orgiastischer Zusammenkünfte, wo ich unterschiedliche, gegensätzliche, ja vielleicht sogar einander feindliche Charaktere miteinander in Szene setzen kann. In „Grand Tour“ vor über zwanzig Jahren war es das Finale am Silvesterabend am Brenner. In „Monschau“ der rauschhafte „Pockenkarneval“ von Düren, in „Damenopfer“ die dämonisch-abgedrehte Buchpremiere in der Villa auf Schwanenwerder.

Die Heldin Ihres aktuellen Romans heißt Larissa Reissner. Wer war sie?
Oh, sie war sehr vieles. Zum Beispiel das Vorbild für die „Lara“ in dem Roman „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak. Früher das It-Girl der Petersburger Literatenszene nach 1900. Sie war eine Dichterin, Journalistin und eine Aktivistin der Weltrevolution. Ein Kind ihrer Epoche und doch eine ganz besondere Frau – das spürten schon ihre Zeitgenossen.

Was sind die drei wichtigsten Eigenschaften von Larissa?
Sie versteht es, sich in die unterschiedlichsten Menschen einzufühlen und sie zu begeistern, meistert neue Situationen und ist ausgesprochen tapfer. Eine geborene Anführerin und Kapitänin. Ihr letzter Satz auf dem Sterbebett: „Jetzt begreife ich erst, in welcher Gefahr ich bin.“

Welchen historischen Stellenwert hat diese mutige Frau?
Zu ihren Lebzeiten war sie eine der prominentesten jungen Bolschewiken, man sah in ihr die „Jugend der Revolution“. Da sie 1926 so früh und tragisch verstorben ist, wurde sie zu einer Legende. So wurde sogar ein Stück über sie geschrieben: „Optimistische Tragödie“ von Wischnewski, das war über Jahrzehnte eines der weltweit am meisten gespielten sowjetischen Stücke.

Was fasziniert Sie persönlich an Larissa Reissner?
Sie muss eine unglaubliche empathische Energie und Wandelbarkeit besessen haben. Die Regisseurin Asja Lacis berichtet in ihren Lebenserinnerungen, dass Larissa als Gymnasiastin in Petersburg beim Ausgehen stets ein zahmes Chamäleon auf der Schulter sitzen hatte. Inzwischen denke ich, dass das vielleicht wirklich ihr Totemtier war – denn sie ging durch so viele Lebenswelten und überall kam sie klar – ob in der Literatenwelt des späten Zarenreichs, während der Revolution, im Bürgerkrieg auf der Wolga, auf dem diplomatischen Parkett oder als Agentin der Komintern in Deutschland.

Was sind die größten Herausforderungen und Zerreißproben, denen sie sich stellen muss?
Da gibt es viele, aber eine in sich gewiss schmerzliche, widersprüchliche Geschichte ist für mich ihr Weg von der Aktivistin gegen den Krieg, die sich vehement und entschieden für das Ende des Ersten Weltkriegs einsetzte, zur Kommissarin der Wolga-Flotte, also einer aktiven politischen Offizierin im Bürgerkrieg. Dieser Zwiespalt ist für die ganze kommunistische Bewegung zentral.

„Larissa Reissners Ziel war die Weltrevolution.“

Welche Vision treibt Larissa Reissner an?
Sie war überzeugt, dass die Revolution sich keinesfalls mit Russland zufriedengeben konnte, sondern zunächst das westliche Europa und dann den Rest der Welt erfassen müsse. Die Kolonien sollten befreit, die Arbeiter aller Länder vereinigt werden, um der Ausbeutung des Planeten durch den Kapitalismus ein Ende zu setzen. Mit einem Wort: Larissa Reissners Ziel war die Weltrevolution.

Wie haben Sie Ihre Hauptschauplätze von Berlin über Moskau bis Kabul gewählt?
Ich bin einfach der Geschichte von Larissa Reissners Leben gefolgt. In Kabul war sie von 1921 bis 1923 zusammen mit ihrem Mann Botschafterin und ausgerechnet dort am Hindukusch entdeckte sie, wie schon viele vor und nach ihr, die großen Linien der Geopolitik. Zurück in Moskau suchte sie 1923 den Weg nach Deutschland, das sie gut kannte. Zwischen 1903 und 1908 hatten die Reissners im Exil in Berlin gelebt, da war Larissa also zwischen acht und zwölf Jahre alt. Auf der normalen, öffentlichen Grundschule, die sie besuchte, lernte sie Deutsch wie eine Muttersprache.

Wodurch war Moskau zur Welthauptstadt der Revolution prädestiniert?
Eigentlich war man sich sicher, dass die Revolution viel eher in Deutschland an der Zeit wäre, denn nirgendwo sonst gab es eine vergleichbare Organisation der Arbeiterbewegung. Aber durch die Verwerfungen des Ersten Weltkrieges kam es dann im Russischen Reich erst zu einer allgemeinen Revolution und dann im Oktober 1917 zum Putsch der Bolschewiki. Moskau wurde sozusagen außerplanmäßig Welthauptstadt der Revolution.

Larissa lebt so riskant, dass man an russisches Roulette denkt. Worauf setzt sie tatsächlich? Glück oder Strategie?
Maschinen an und volle Kraft voraus – den Furchtlosen gehört der Sieg! Das war ihre Herangehensweise.

„Bereit, alles für die Revolution zu opfern …“

Ihr Romantitel „Damenopfer“ weckt unterschiedliche Assoziationen. Wie deuten Sie „Damenopfer“?
Einerseits ist das „Damenopfer“ ein Trick beim Schach. Man opfert die wertvollste Figur, aber man gewinnt die Partie. Andererseits waren idealistische Kommunisten wie Larissa bereit, alles für die Revolution zu opfern, auch ihr persönliches Glück und ihre Gesundheit.

Ebenso außergewöhnlich wie Ihre Heldin ist die Form, die Sie gewählt haben, um ihre Geschichte zu erzählen. Welche Ideen und kulturgeschichtlichen Bezüge haben Sie dabei beflügelt?
Es war so, dass gleich das erste Bild, das ich von Larissa zu sehen bekam, das Foto von ihrer Beerdigung war, wo sie von sechs trauernden Männern im offenen Sarg durch eine riesige Menschenmenge getragen wird. Mit ihrer weißen Haube, die etwas Mittelalterliches hat, sieht sie immer noch ergreifend schön aus. Natürlich dachte ich an „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, bei Puschkin wurden daraus „Sieben Ritter“. Und so kam mir langsam der Gedanke, alles rund um ihre Beerdigung zu gruppieren. Natürlich bedeutete das für mich – in dieser Form zum ersten Mal – eine intensive literarische Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod“. Es war eine manches Mal schmerzliche, immer intensive Arbeit, die es nötig machte, mir selbst über vieles klar zu werden und auch den Schmerz, den wir alle kennen, den Schmerz, jemanden Geliebten zu verlieren, zuzulassen. Abgesehen davon, war die literarische Beschäftigung mit diesem nach dem Thema „Liebe“ wichtigsten Sujet ungeheuer reizvoll. Ich habe sehr viele Schilderungen von Beerdigungen und auch das orthodoxe Bestattungswesen, das schon sehr eigen ist, studiert und dabei einiges über diese ganze Kultur gelernt.

Larissas Geschichte erzählen Sie nicht einfach chronologisch, sondern stellenweise wie eine Art Chor. Wie haben Sie die Stimmen ausgewählt und was ist der zusätzliche Gewinn dabei?
Neben der im Präsens gehaltenen Handlung, in der wir eine zwischen Kabul und Berlin agierende Larissa erleben, sollte da etwas wie ein Chor sein, wie in der griechischen Tragödie, der ihr Leben kommentiert und beklagt. Angefangen bei den Totengräbern, die in der kalten Februarerde ihr Grab ausheben, über die Vermutungen und Erinnerungen, die im Salon Anna Achmatowas über sie zur Sprache kommen, und die Verehrung eines Matrosen für die kampfesmutige Genossin bis zu Leo Trotzki: Alle tragen etwas bei, erinnern sich, lassen Larissa wiederauferstehen. Die Lesenden sind gefordert, dieses Multiversum selbst zusammenzusetzen und damit ein gleichsam sphärisch-dreidimensionales Bild einer ganzen Epoche zu erschaffen. Außerdem versuche ich, in jedem Roman eine eigene, neue Form zu finden. Insofern ist „Damenopfer“ für mich ein ganz außergewöhnlicher Höhepunkt meiner bisherigen Arbeit.

„Literatur wird eine Brücke sein.“

In „Damenopfer“ deutet sich immer wieder an, wie wichtig den Romanfiguren Literatur ist. Wie erklären Sie sich diesen Stellenwert?
Larissa war Literatin durch und durch und lebte von Jugendtagen an in Schriftstellerkreisen. Aber es hat schon auch mit der traditionell großen Bedeutung der Literatur in Russland zu tun, vor allem die Lyrik erfreute sich größter Beliebtheit. Alle konnten Gedichte auswendig, sie waren wie eine Art von zweiter Umgangssprache, mit der man das Unaussprechliche ausdrücken konnte. Heute freilich leben, genau wie früher, die wichtigsten russischen Autoren im Exil. Aber eines Tages werden die Russen wieder Teil der europäischen Familie sein, und ihre Literatur wird eine bedeutende Rolle dabei spielen. Sie wird die Brücke sein.

Welche Bedeutung hat die russische Literatur für Sie selbst gewonnen und welche AutorInnen und Werke sind Ihnen wichtig geworden?
Um ehrlich zu sein, beschränkte sich vor „Damenopfer“ meine Leseerfahrung hauptsächlich auf Vladimir Nabokov, den ich allerdings verehre. Als Heranwachsender habe ich Gogol gelesen, der mir sehr gefiel. Begeistert hat mich Bulgakows „Der Meister und Margarita“. Aber das war es schon gewesen. Deshalb stellte ich mir jetzt zunächst eine gewaltige Leseliste zusammen. Es war Winter, und ich igelte mich in unserem Haus mit vielen Büchern ein, bekannten wie Tolstois „Krieg und Frieden“ und eher vergessenen wie denen von Boris Pilnjak. Hinzu kamen Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam. Besonders Mandelstam hat mich fasziniert. Ich bin sehr glücklich, sein Werk jetzt etwas besser zu kennen. Aber ich habe mich auch mit wichtigen Zeitgenossen wie Dmitry Glukhovsky und Vladimir Sorokin beschäftigt.

„Larissa würde versuchen, den bedrohlichen Lauf der Dinge zu ändern.“

Angenommen, Larissa Reissner würde im Hier und Jetzt leben: Wo würde sie auf die Barrikaden gehen und wofür würde sie sich heute wahrscheinlich einsetzen?
Sie würde vermutlich zu denen gehören, die heute an vorderster Front versuchen, die fatalen Folgen des fossilen Zeitalters, der Umweltzerstörung, der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zu stoppen. Da geht es nicht nur um die Erderwärmung, sondern eben auch um die gnadenlose Verschwendung, die wir betreiben und unter der die Ärmsten der Welt leiden. Wenn man zum Beispiel jemals eine Müllkippe in Kenia oder Malaysia mit weggeworfenen Billigklamotten gesehen hat, auf denen dann die Ärmsten der Armen nach einem Auskommen suchen, wenn man die Trockenheit ländlicher Gebiete mit den Konsequenzen für die Kleinbauern versteht, die Abholzungen der Urwälder für Tierfutter für uns, den reichen Westen – dann weiß man, wir brauchen eine globale Revolution, ein neues Denken. Und Larissa wäre eine von denen, die versuchen würden, den so bedrohlichen Lauf der Dinge zu ändern. Vielleicht würde sie auch zu denen gehören, die versuchen, Russland wieder zu einem freien Land zu machen.