

Auch als eBook auf Hugendubel.de erhältlich
Lalena Hoffschildt ist von Kindesbeinen an dem Lesen verfallen – die Ausbildung zur Buchhändlerin, die sie 1995 bei Hugendubel am Marienplatz antrat, war quasi zwingend. Aktuell ist Lalena im Filialleitungsteam am Stachus tätig – und auf Instagram unter @lalenaparadiso aktiv. Die Interview-Serie #ZehnFragenAn entstand mehr oder minder durch Zufall. Heute interviewt sie für uns den Autor, Übersetzer und Literaturkritiker Jan Wilm.
1. Für mich ist das immer wieder erstaunlich: Kommt da plötzlich aus dem Nirgendwo ein Schriftsteller daher – dein Roman „Winterjahrbuch“ wirkt, als hättest du schon immer geschrieben. Wie entstand dieses Buch?
Aus dem Wortgeschlinge, das sich permanent im Kopf und im Herzen ansammelt, ist es im Nachhinein sehr schwierig, einen Ausgangspunkt auszumachen. In Wahrheit misstraue ich Ausgangspunkten. Da ich mich nicht an meine Geburt erinnern kann, habe ich vielleicht immer gelebt, und weil ich mich an meinen Tod nicht erinnern werde, werde ich weiterleben, bis die Sterne gestorben sind.
Jorge Luis Borges sagte einmal, die Tiere seien unsterblich, da sie kein Bewusstsein des Todes besitzen. Ich werde auch kein Bewusstsein des Todes besitzen, und ich besitze kein Bewusstsein für den Anfangspunkt und den Endpunkt eines Buches, ob ich es nun geschrieben oder gelesen habe. Ich meine, jedes Buch lebt erst im Lesen, erst wenn die lesenden Augen aus den schwarzen Zeichen Bilder und Töne machen, erst dann kommt es zu einem Buch. Wie kam es zu diesem Buch? Es interessiert mich viel eher, wie das Buch zu meinen Lesenden kommt, und die Vorstellung, dass die Worte, die einmal in meinen Träumen und in meinem Körper zu Hause waren, in die Körper und Träume anderer Menschen einziehen, erfüllt mich, sagt das Kind in mir, falls es ein Kind in mir gibt, erfüllt mich mit einem ganz naiven Gefühl von Magie. Jan Wilm, mein Erzähler, sucht aber einmal nach einer ähnlichen Frage, wie Du sie mir stellst, und er sinniert, warum er an einem Schreibprojekt über Schnee arbeiten sollte, das gleichzeitig ein Schreibprojekt über eine verlorene Frau sein könnte, dürfte, müsste. Mit Hilfe von F. Scott Fitzgerald, Philip Roth und Julian Barnes kommt er zu dem Schluss, dass nur die Verbindung zweier gegenteiliger Dinge den Geist zum Schreiben bringt: „Und wenn ich von dir schreiben wollte, was wäre dein Gegenteil? Ich? Oder genügt es, den Schnee als dein Gegenteil zu entwerfen, weil du keinen Schnee mehr erfahren wirst, weil du ihn nicht mehr mit mir erfahren wirst? Oder ist alles das, alles hier, mein bisschen Schnee, dieses aberwitzige Schneeprojekt – ist das alles eigentlich nur eine Ablenkung, die eigentliche Ablenkung, nämlich die von dir, während ich mich schreibend eigentlich zu dir hinlenken sollte? Um dich zu exorzieren?“
2.
Jedes Kapitel in deinem Roman ist mit einem Song überschrieben, eine „Winterjahrbuch“-Playlist gibt es auf Spotify. So etwas kenne ich bislang aus Unterhaltungsromanen und Jugendbüchern, von beiden Genres bist du himmelweit entfernt – Wie kam es dazu?
In solchen Kategorien denke ich nicht: Kategorien wie „Unterhaltungsroman“. Das ist ein Wort, das manche Menschen positiv wenden, um sich gegen jene zu verteidigen, die sie beschuldigen, sie läsen etwas Falsches; ein Wort, das manche Menschen negativ wenden, um andere Menschen auszugrenzen, deren Lust, deren Spaß beim Lesen ihnen verdächtig erscheint. Jede Leseerfahrung kann potentiell unterhaltend sein, ob man nun P.G. Wodehouse liest oder Ror Wolf oder Virginia Woolf oder Ilse Aichinger oder Janosch oder Dr. Seuss oder Lawrence Block oder Lee Child. Eigentlich ist jedes Buch nur dann NICHT unterhaltend, wenn die Musik nicht stimmt, die Musik der Worte, die auf der Seite nicht zum Singen kommt, die Musik, die die Figuren miteinander sprechen und natürlich die Musik der Lesenden, die nicht auf den Text eingestimmt sind, mit dem sie es zu tun haben. Ich lehne Unterscheidungen ab zwischen Unterhaltungsliteratur und – was ist dann eigentlich die andere Literatur? Für mich ist jede Literatur potentiell unterhaltend, weil Lesen für mich Unterhaltung ist, Unterhaltung und Lust für den Geist. Ich lehne derartige Einschnürungen und Grenzlegungen ab, weil sie einengen, einengen beim Lesen und ganz besonders einengen beim Schreiben. Literatur ist die Logik der Offenheit, und da darf besonders der Schreibvorgang nicht von Verboten oder Reinheitsvorstellungen umzirkelt und umstellt sein. Schreiben ist schließlich an sich eine Grenzübertretung, und das soll es bitte schön bleiben.
Nur das erste Kapitel des Romans ist mit einem Songtitel und seinen Interpreten überschrieben. Die verschiedenen Textteile des Romans sind anschließend durch Zwischentitel voneinander getrennt, indem stets Songtitel sowie Ihre Interpretinnen und Interpreten genannt werden, und diese Musiken kann man zwar alle hören, sie funktionieren aber auch als kommentierende und kontrastierende Zeichen bei stiller Lektüre (keine Lektüre ist still, weil der Geist singt.)
3. Du hast ein Buch geschrieben, das viel Raum einnimmt beim Lesen einerseits, dabei aber sehr viel Interpretationsspielraum lässt, andererseits. Hattest du ein Ziel, hattest du überhaupt einen Plan? Oder hat es dich einfach fortgerissen?
Jeder schreibende Mensch weiß, dass er die volle Kontrolle über seinen Text hat und gleichzeitig vollends von seinem Text kontrolliert wird. Meine Bücher sind nicht schlauer als ich, aber ich weiß nicht mehr als meine Bücher. Ich meine, jede Vorstellung einer Sprachkreatur – die der Schriftsteller oder die Schriftstellerin ist –, die ohne Ziel schreibt, kann nur das Bild eines äußerst naiven Hanswurstes ergeben, dessen Schreibe man mit unbedingter Skepsis betrachten sollte. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass das intendierte Ziel des Schreibens nicht für die Lesenden auf eine Weise erkennbar sein darf, dass sich der lesende Blick nur auf dieses eine Ziel einschießt und schon an dieses Ziel denkt, während noch der feuernde Zauber jedes Lesemoments wirksam bleiben sollte, bevor man das Buch zuschlägt. Mein „Winterjahrbuch“ gehört mir nicht mehr. Es ist, in ganz wortwörtlicher Weise, ein Geschenk an Leserinnen und Leser, ich schenke es in ihr Leseleben aus und hoffe, dass meine Sprache lesend zum Feiern taugt. Ludwig Wittgenstein meinte einmal, die philosophischen Probleme fangen dort an, wo die Sprache feiere, wo sie ausgelassen sei. Ich sage, die Literatur fängt dort an, wo die Sprache feiert, wo sie ausgelassen vergröbern UND verfeinern kann, gerade wie ihr beliebt, wo man die Sprache laufenlassen kann, wo die Sprache etwas Auslauf bekommt. Und wenn sie mich mitnimmt, mich fortreißt, bin ich dankbar, vor allem als Leser. Mein Erzähler Jan Wilm sieht das möglicherweise anders, doch ich habe ihn lange nicht gesprochen, weshalb ich nur zitieren kann, was er über die Freiheit der Interpretation und den Bedeutungszwang der Sprache zu sagen hat, vielleicht hilft uns das weiter: „Bevor mein Geist sich entscheiden mag, genug von dir zu haben, entscheide ich: Ich werde dich nicht in deiner Sprache beschreiben und dich nicht in eine Gegenwelt hinüberformen. Und wenn ich es doch tue, werde ich es in einer anderen Sprache tun, in einer viel dunkleren Sprache, einer Sprache, die wie die schwerste Asche ist, dunkelstes Pech, das auf einem weißen Schnee liegt, und meine vorsichtigen Schritte wären wie Buchstaben, aber ich würde mit ihnen nichts in den Schnee einschreiben, sondern mit jedem Schritt nur das Pech abtragen, das auf dir abgelagert wäre. Ist es nicht tröstlich, dass manches unter der Einzäunung der Bedeutung hindurchzuschlüpfen weiß und so den Zeichen entkommt?“
4. „Ich bin der Zwischenraum zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich nicht bin“, schreibt Fernando Pessoa, an den ich beim Lesen von „Winterjahrbuch“ immer wieder denken musste. Warum „Jan Wilm“, weshalb trägt deine Figur deinen Namen? Oder bist das tatsächlich du, hinter den Spiegeln?
Als Schriftsteller wäre ich es nicht wert, Pessoa den Madeira im Café A Brasileira einzuschenken – da ist es wieder, das Geschenk – und alles, was heute gesagt werden kann, haben Schreibende wie Pessoa (Kafka, Cervantes, Beckett, Woolf, Wolf, Walser, Coetzee, Aichinger, Shakespeare, Borges, Mayröcker, Austen und endlos so weiter) schon wesentlich besser gesagt. Es gibt einen weiteren Zwischenraum, nämlich den Zwischenraum zwischen dem Menschen, den ich ich nenne und dem Menschen, der ich einmal als Toter sein werde. Weil Sprache über das ungewisse Terrain zwischen dem Ausgedrückten und dem Nicht-Ausdrückbaren gleitet, muss Schreiben sich mit diesem Ich-als-Toter konfrontieren, und durch diese Loslösung von sich selbst kann man zur Sprache finden. Neben dem Zwischenraum zwischen sich selbst und sich selbst als anderer gibt es aber noch viele Zwischenräume, die die Literatur betasten kann: Zum Beispiel den Zwischenraum zwischen meinem schreibenden Ich und anderen Schreibenden, und den schönen Zwischenraum zwischen meinem schreibenden Ich und den Menschen, die meine Worte lesen. Diese Zwischenräume können mich ausschließlich in tiefste Demut vor dem Gegenüber versetzen, in eine Demut, der die akribistische Arbeit am Text folgen muss, eine unvergleichliche Aufgabe und eine edle Verantwortung gegenüber den unbekannten lesenden Augen, die über meine Worte fallen – und eine Verantwortung gegenüber meinen eigenen Augen, die über die Worte anderer fallen. Irgendwo begegnen sich diese Augen vielleicht, und in meiner Vorstellung ist dieser Zwischenraum der Text, das Buch, der Roman. Dort wird man mich finden, dort bin ich zu Hause.
5. „Everything you can think of is online“, diesen Satz habe ich im „Winterjahrbuch“ gefunden.
Ist das wirklich so, geht das Einzigartige verloren? Widerlegst du das nicht indem du solch einen Roman geschrieben hast?
Ich habe das gerade einmal gegoogelt und kann Jan Wilm widerlegen, denn das „Winterjahrbuch“ ist online nicht zu lesen. Man muss offline gehen, man muss irgendwie in die Stille fallen, in eine Tasche voller Aufmerksamkeit hineinfinden, und dann stößt man auf das Einzigartige, weil – new age alert – man dort sich selbst findet, und man selbst ist naturgemäß einzigartig, jeder und jede. Wie Montaigne über das Philosophieren sagte: Philosophieren heißt sterben lernen. Ganz richtig, aber: Lesen heißt auch sterben lernen. Und weil jedes Zeitkörnchen, das sich von unseren Körpern löst, eine verstorbene Sekunde ist, ist es höchste Zeit, das Sterben zu lernen. Denn Sterben lernen, das heißt nichts anderes als Leben. Das Einzigartige geht nicht verloren, so lange Menschen lesen. Selbst wenn es nur noch ein Buch auf der Welt gäbe, und alle Menschen würden es lesen, so läsen sie alle ein anderes Buch, weil sie alle einzigartig sind. So existieren heute auf der Welt unendlich viele Bücher. In einer Buchhandlung wie der Deinen, liebe Lalena, stehen die Regale voller uneingrenzbarer Möglichkeiten. Betritt eine einzige Kundin oder ein einzelner Kunde den Verkaufsraum, so potenzieren sich die dort ausgelegten Bücher mit einem Schlag ums Tausendfache, weil jedes Buch von einem Menschen auf die verschiedensten Arten gelesen werden kann. So muss das Lesen niemals aufhören, und das wird es auch nicht.
6. Einsamkeit zieht sich wie ein roter Faden durch dein Buch, irgendwie liest es sich so, als hättest du es nachts geschrieben, liege ich richtig oder falsch?
Irgendwo ist auf der Erde immer Nacht, somit liegst du richtig und falsch, wie ich auch. Mein Erzähler Jan Wilm verbringt ein Jahr in der letzten Stadt der US-amerikanischen Westküste, bevor die – wie der französische Philosoph Jean-François Lyotard einmal sagte – „Mauer des Pazifiks“ beginnt, und in dieser Stadt findet Jan Wilm die Nacht als Freundin, lavendelfarben, palmenfarben, von Grillen durchzirpt, als Ort der Gedanken. Doch er findet die Nacht auch als Feindin, wenn aus der Stille die Geister steigen, die Geister der Verlorenen und Vergessenen. Er denkt abwechselnd etwa so: „Ich genieße es, wie sich langsam die Räume leeren, wie sich draußen die Nacht in die riesige Himmelsmenge über der Stadt gießt.“ Und: „Dass die Eltern noch da sind, wenn das Kind in den Schlaf muss, bedeutet dem Kind, dass das Schlafen nicht Sterben heißt. Das Kind, dessen Eltern tot sind, stirbt jedoch jede Nacht.“
7.
So poetisch dein Roman ist, diese Frage drängt sich förmlich auf: Was bedeuten Gedichte für dich?
Im deutschen Sprachraum kommt das Gedicht von der Verdichtung, der Verdichtung der Sprache, der Bilder, der Klänge, von denen die Worträume eines Textes durchdrungen (durchsungen) sind. Insofern besteht für mich lesend meist kein Unterschied zwischen Lyrik und Prosa und Drama und Philosophie und Theorie. Sprich, der Unterschied besteht nicht, weil mich jene Literatur interessiert, die verdichtet ist. Ich kann dies bei Sappho und Homer finden, wie ich es auch bei Raymond Chandler und Mavis Gallant finden kann, bei Henrik Ibsen wie bei Anton Čechov, bei Susan Sontag wie bei Arthur Schopenhauer, bei Rita Felski wie bei Jacques Derrida.
8.
Du führst einen Literatur-Blog Wilmvorlesungen.de, hier besprichst du Bücher, die in den wenigsten Buchhandlungen im Stapel liegen. Wo kaufst du ein, im stationären Handel oder online?
Deutschsprachige Bücher ausschließlich im stationären Buchhandel, fast ausschließlich in unabhängigen Buchhandlungen, sofern ich nicht an einem Ort bin, wo diese unverfügbar sind. Fremdsprachige Bücher, besonders fremdsprachige Theorie und antiquarisch erhältliche Bücher, finde ich zunächst als Licht online und verwandle sie durch eine Bestellung zu Büchern, die ich in Händen halten kann. Online wie offline gilt: Je mehr Waren eine Buchhandlung vertreibt, die keine Bücher sind, desto seltener wird man mich dort antreffen.
9. Als Übersetzer, z.B. für die umwerfende Maggie Nelson, bist du auch tätig; was gefällt dir an dieser Arbeit?
Übersetzen ist die intensivste Form des Lesens, die wir kennen. In einer idealen Welt wäre für jedes Buch, das man liest, so viel Zeit, es in alle Sprachen der Welt zu übersetzen. Erst dann könnte man von Lesen als etwas sprechen, das zu einer Form von VERSTEHEN führt. Weil ich aber der Meinung bin, dass Verstehen der falsche Ansatz für Kunstwahrnehmung ist, ist es mir wichtig, so zu lesen, dass ich NICHT verstehe. Das bedeutet, einen Text zu verinnerlichen, den Text in mir auszugießen und ihn in mir leben zu lassen, die Worte auf die Zunge zu nehmen und sie zerfallen zu spüren, die Sätze zu zerschneiden und in mir neu zusammenzusetzen, einen Text auswendig zu lernen, ihn, wie es im Französischen und im Englischen heißt, mit dem Herzen zu kennen. Das Übersetzen erlaubt einem unbedeutenden Menschen wie mir, so zu lesen, als wäre ich in Kontakt mit etwas Bedeutungsvollem, als wäre ich in der Lage, bedeutungsvoll zu lesen, bedeutungsvoll zu sein.
10. Wie hat Karen Köhler so schön zu meiner Frage 10 geschrieben; „immer diese fucking Fee …“, und ich frage trotzdem wieder: Stell dir vor, eine Fee kommt vorbei und gibt dir 3 Wünsche frei, welche wären das?
Sophokles ließ den Chor in Ödipus auf Kolonos sprechen, dass es den Erdenbewohnern am ehesten zu wünschen wäre, nie geboren worden zu sein, da ihnen so Zwietracht und Krieg und Leid und Schmerz erspart bliebe. Würde ich mich für meinen ersten Wunsch von Sophokles inspirieren lassen, hätte ich diesen ersten Wunsch niemals wünschen können. Wäre er also nicht in Erfüllung gegangen, und wo wäre ich dann? Ein rätselhaftes Zen-Kōan, dessen paradoxale Lösung ich für mich behalte. Nicht für mich behalten werde ich aber den herzlichen Dank für dieses nette Gespräch.