Lalena Hoffschildt ist von Kindesbeinen an dem Lesen verfallen – die Ausbildung zur Buchhändlerin, die sie 1995 bei Hugendubel am Marienplatz antrat, war quasi zwingend. Aktuell ist Lalena im Filialleitungsteam am Stachus tätig – und auf Instagram unter @lalenaparadiso aktiv. Die Interview-Serie #ZehnFragenAn entstand mehr oder minder durch Zufall. Heute interviewt sie für uns den Autor Colum McCann. Das englischsprachige Originalinterview finden Sie im Anschluß.

1. Mr McCann, wie können Sie so eindringlich über Terror und endlosen Krieg schreiben, ohne verrückt zu werden?
Ja, es war wirklich schwer, dieses Buch zu schreiben. Es gab Zeiten, da hatte ich das Gefühl zu entgleisen. Nicht direkt verrückt zu werden, aber tatsächlich aus dem Gleichgewicht zu geraten. Die Welt verdunkelte sich für mich: Ich musste an Brechts Zeilen denken: „In the dark times / Will there also be singing? / Yes, there will also be singing / About the dark times.“ *). Dunkelheit macht mir nicht so viel Angst. Und, alle Schriftsteller sind ein bisschen verrückt. Doch ich fühlte eine sehr große Verantwortung für diese Geschichte. Ich wollte alles richtig machen. Nicht nur für Rami und Bassam, auch für Abir und Smadar. Zusätzlich dachte ich die ganze Zeit: Mein Schmerz ist nicht annähernd so tief wie der von Rami und Bassam.

(* Das Zitat stammt aus Bertolt Brechts Exilgedicht „An die Nachgeborenen“ aus dem Svendborger Gedichtzyklus. Das sehr bekannte englische Zitat findet sich im deutschen Original nicht.)

2. Ihr neuer Roman „Apeirogon“ spielt in Jerusalem und bietet einen sehr emotionalen und dennoch unparteiischen Blick auf die verfahrene Lage der Länder Israel und Palästina. Wie sind Sie als in den USA lebender Ire zu diesem Thema gekommen?
Vor fünf Jahren reiste ich mit einer Gruppe von Leuten aus meinen beiden liebsten Wohltätigkeitsvereinen, Narrative 4 und Telos, nach Israel. Wir waren eine große Gruppe und es war ein Kurztrip, dennoch hatten wir einige geplante Treffen mit israelischen Schriftstellern, palästinensischen Musikern, Siedlern, Soldaten und Sicherheitsexperten. Gegen Ende besuchten wir die Stadt Bait Dschala in der Nähe von Jerusalem. Wir gingen in so ein kleines Büro, einige steile Stufen hinauf. Dort saßen zwei Männer und stellten sich als Rami und Bassam vor, irgendwelche Männer an irgendeinem Ort, nichts Ungewöhnliches. So kam mir das zumindest vor, in diesem Moment. Doch dann begannen sie mir von Smadar und Abir zu erzählen, ihren Töchtern, die sie beide in dem Konflikt verloren hatten. Und ich kann Ihnen sagen, sie entzogen der Luft jeglichen Sauerstoff damit. Das war so intensiv, ich hatte das Gefühl, sie erzählten diese Geschichte zum ersten Mal. Natürlich war das nicht so, die beiden hatten diese Geschichte schon hunderte Male erzählt. Ich war tief berührt und etwas in mir änderte sich für immer. Ich wusste ziemlich früh, das ich über die beiden schreiben wollte, musste. Ich wusste, dass es riskant war und dass es viel Zeit brauchen würde. Aber ich liebe das Risiko und ich hatte Zeit.

3. Die Struktur Ihres Romans ist sehr ungewöhnlich – und dann dieser exotische und bedeutungsvolle Titel … Wie sind Sie nur auf all das gekommen?
Was soll ich sagen? Ich wusste, das wird schwierig, mit diesem Titel. Aber dafür ist er einzigartig. Und ich vertraue meinen Lesern, ganz besonders meinen deutschen. Ganz ehrlich: Sie gehören zu den stärksten, den belastbarsten Lesern, willig, ein Risiko einzugehen und tief einzutauchen. Ein Apeirogon ist eine geometrische Figur mit einer unendlichen Anzahl von Seiten. Das klingt unmöglich, verrückt und wunderschön, alles auf einmal – und das ist es auch. Du kannst Teil einer unendlichen Form sein und dennoch an jedem endlichen Punkt landen. Ich bin über dieses Wort gestolpert, als ich meinen Roman „Transatlantik“ schrieb. Ich suchte nach einem Wort, das unendlich viele Seiten bezeichnet. Ich merkte es mir für später und wusste dann sofort: Das wird mein Titel. So manch einer versuchte mir das auszureden, aber ich fand es perfekt. Ich bin sehr stolz auf meinen Verlag, dass er das mitgemacht hat und dahinter steht.
Und die Struktur? Ich kann mich gar nicht genau erinnern, wann ich darauf kam, aber es war ziemlich früh. Ich wollte versuchen, ein Buch zu schreiben, das die allgemein akzeptierten israelisch/palästinensischen Narrative aufbrechen sollte und vielleicht sogar die gewohnte Form des Erzählens. Ich dachte schon eine ganze Weile darüber nach, wie ich einen Roman schreiben könnte, der unsere durch das Internet veränderte neue Art zu denken, zu fühlen und sogar zu atmen widerspiegelt.
Eigentlich wollte ich 50 Kapitel, dann 100 und dann – ein Jahr später mitten im Schreibprozess – kam es mir, dass Rami und Bassam die Geschichte ihrer Töchter erzählten, um sie am Leben zu halten, so wie Scheherezade, und ich dachte „Aha, es müssen 1001 Kapitel sein!“ Es war wie ein Blitzschlag. Und dann dachte ich: Ich hätte gern, dass man das Buch in zwei Richtungen lesen kann. Also gibt es 500 Kapitel aufwärts und 500 Kapitel abwärts, beginnend und endend mit Kapitel 1. Ich bin aber kein Mathematiker, das ist eher wie Musik. Ich fing an mich wie der Dirigent eines Orchesters zu fühlen. Ich träume davon, dass eines Tages jemand wie Daniel Barenboim die Musik hierzu schreibt.

4. Zugvögel sind auf dem Cover und Zugvögel sind auch einer der roten Fäden, die sich durch den Roman ziehen. Können Sie uns verraten, was sie Ihnen bedeuten, wofür sie stehen?
Ein Schriftsteller sollte nicht allzu viel erklären, ich denke der Leser ist klüger als der Autor. Aber ich will Ihnen folgendes sagen … ich hoffe, dass der Leser sich mit den Vögeln verbindet, die von überall her überall hin fliegen. Der Leser wird tatsächlich zu einem dieser Vögel. Wir alle sind ein Teil dieser Geschichte. Wir sind Komplizen. Und die Vögel sind natürlich wunderschön. Und so rätselhaft.

5. Geschichte und Fiktion in „Apeirogon“, „Der Tänzer“ über Nurejev oder „Die große Welt“ über den Seilartisten Philippe Petit: Was fasziniert Sie daran, Geschichten über existierende Leben zu schreiben?
Das ist eine wirklich wichtige und schwierige Frage, weil sie das Problem anspricht, was wahr ist und was nicht. Was wirklich ist und was nicht. Diese ganze Idee von Fakeness und Fake News, Fiktion und Non-Fiction, Wahrheit und Post-Wahrheit. Das Verhältnis zwischen Fiktion und Wahrheit war schon immer kompliziert, heute ist es das umso mehr. Wo ziehen wir eine Grenze? Ich habe in anderen Interviews gesagt, dass Fakten biegsam sind. Sie können manipuliert und so lange hin und her geschoben werden, bis sie genau das aussagen, was du willst. Aber die tiefere Wahrheit liegt direkt in unseren Herzen – und das menschliche Herz ist ganz Chaos und Entwicklung. So versuche ich die Welt mit meiner Vorstellungskraft zu verschmelzen, um letztendlich etwas Ehrliches zu schaffen.
Ich glaube an die Wahrheit. Und die Wahrheit kann sich überall zeigen, in einem Roman oder einem Sachbuch. Und da wir wissen, das Wahrheit nichts Eindeutiges ist, müssen manchmal neue Formen gefunden werden. Ich gebe dem Schriftsteller keinen Vorzug gegenüber dem Journalisten oder dem Romanautor gegenüber dem Essayisten, ich möchte nur das richtige Wort an die richtige Stelle setzen. Runtergebrochen geht es eigentlich um den Schreibprozess. Meine erfundenen Charaktere sind für mich so real wie „wirklich“ lebende Personen.

6. 
Glauben Sie, dass ein Künstler einen anderen Blick auf eine Krise hat als die breite Masse, als ein „ganz normaler“ Mensch?
Ein Künstler sollte immer Teil der ganz normalen Menschen sein, oder noch besser, ein Teil der Gesellschaft. Aber manchmal muss der Künstler einfach seine Nase in den Wind halten. Ein kleines bisschen vorausschauen, um die Ecke blicken. Wir sollten versuchen Dinge zu sagen, die die Menschen „wissen“, die sie aber nicht gelernt haben auszudrücken.

7. Was, glauben Sie, werden die Folgen der Corona-Krise sein?
Wir spüren unsere Ohnmacht und unsere Macht. Ohnmächtig sind wir, indem wir uns verblüfft umsehen, was alles um uns herum passiert. Aber gleichzeitig mächtig, weil alles, was wir tun Folgen hat. Jeder Schritt, den wir tun, jede Türe, die wir öffnen, jedes Mal, wenn wir uns entscheiden, eine Maske zu tragen oder auch nicht zu tragen, hat eine Auswirkung auf die Welt. Dieses Virus kam von einem kleinen Ort und überflutete die ganze Erde. Alles was wir tun, hat Folgen.

8.
 Sie sind auf der Longlist für den Booker Prize. Das ist die höchste Auszeichnung im englischsprachigen Raum. Gratulation und viel Glück! Das Preisgeld beträgt 50.000 £, was würden Sie damit machen, Mr McCann?
Nun ja, ich denke natürlich nicht, dass ich gewinnen werde. Aber ich würde das Geld sehr gerne an meinem liebsten Wohltätigkeitsverein Narrative 4 spenden.

9.
 Ich bin mir sicher, Sie besitzen sehr viele Bücher. Welches ist das schönste in Ihren Regalen?
Mein Vater schrieb Bücher über Fußball, Rosen und irische Geschichte. Meine wertvollsten Bücher sind von ihm. Er starb vor 5 Jahren, aber er war und ist sehr wichtig für mich.

10.
 Stellen Sie sich vor, Sie hätten drei Wünsche frei, welche wären das?
Ich wünsche mir, das Rami und Bassam den Friedensnobelpreis bekommen. Ich wünsche mir, das Sinn und Verstand zurückkehren in die USA, nachdem Covid und Trump verschwunden sind. Ich möchte morgen aufwachen und immer noch lieben.

 
 

English version

1. How can you possibly write so intensly about the horrors of terrorism and endless war, without going insane?
Yes, it was a really difficult book to write. There were times I did feel like I was going off the rails. Not quite insane, but certainly a little off-kilter. The world went dark on me. But then I remembered Brecht’s line: „Will there be singing in the dark times? Yes, we will be singing about the dark times.“ And the darkness doesn’t frighten me that much. And all writers are slightly mad anyway. In addition, I felt a great responsibility to the story. I wanted to get it correct. Not just for Rami and Bassam but for Abir and Smadar too. In addition to this, one thing I had to remember was that my pain would never be anywhere near equivalent to the pain that Rami and Bassam.

2. „Apeirogon“, your new novel is set in Jerusalem and has a very emotional unjudging view to the conflicts of the torn countries Israel and Palestine. How did this topic come to you, as an Irish writer, living in USA?
Five years ago I went to Israel and Palestine with a group from two of my favourite non-profits, Narrative 4 and Telos. There was a big group of us and it was a whirlwind trip but we got to visit with several different people – Israeli writers, Palestinian musicians, settlers, soldiers, artists, security experts. It was an incredible trip, brilliantly curated and deeply nuanced. And on my second to last night we went to the town of Beit Jala, just outside Jerusalem. We walked into this little office, up a rickety flight of stairs. These two men were sitting there and they introduced themselves as Rami and Bassam. Ordinary men in an ordinary place. Or so it seemed at that initial moment. And then they began to tell me about their daughters, Smadar and Abir, both of them lost in the conflict. I have to tell you, they pinched every ounce of oxygen from the air. It seemed to me like it was the first time they had ever told the story. Of course it wasn’t. They had told it hundreds of times before. But I was deeply moved and forever changed. And I knew fairly early on that I wanted to write about them. I knew it was risky and it would take some time, but I like risk, and I had the time.

3. The structure of your novel is unusual, you chose 1001 chapters and the 1001 is set in the middle. Some chapters are only one sentence long. And then this very meaningful and exotic title. Where did all those ideas come from?
What can I say? I knew it would be a tough title. But it would also be unique. And I trust my readers, especially my German ones! I’m not just playing to the crowd here. I honestly find my German readers to be among the strongest around. They are willing to take risks and to go deep. An apeirogon is a shape with a countably infinite number of sides. It sounds crazy and impossible and beautiful all at once – and it is. You can be part of an infinite shape and land on any finite point within it. I stumbled upon the word when I was writing TransAtlantic. I was looking for a word to suggest infinite sides. I tucked it in my back pocket and I knew immediately that it would be the title. Some people tried to talk me out of it, but I thought it was perfect. And I’m really proud of my publishers for having the bravery to stick with it. As for the structure, honestly I can’t remember when I hit upon the structure but it was fairly early on. I wanted to try to write a book that disrupted some of the accepted narratives around Israel and Palestine, and, I suppose, the accepted narrative form. I’d been thinking for a while about writing a novel that echoes some of the ways the Internet has shaped the way we think and feel and even breathe. I originally thought I would do it in fifty chapters and then maybe a hundred and then – about a year into the process – it struck me that Rami and Bassam were telling the stories of their daughters to keep them alive, sort of like Scheherezade, and I thought, Ah-ha, it has to be 1,001. It was like a bolt of lightening for me. And then I thought I would like for the book to be read in two directions, so I have 500 chapters up and 500 chapters down, beginning and ending in chapter 1. But I’m not such a mathematician. It’s more like music to me. I began to feel like the conductor of an orchestra. I have a dream that someone like Daniel Barenboim might one day create a musical score for this book.

4. The birds of passage, on the cover to your novel, they seem like one red thread … could you explain, what they mean to you, what they are standing for?
A writer should never explain TOO much because I think the reader is always more intelligent than the writer anyway. But I will say this … I hope that the reader relates to the birds who are flying in from everywhere. The reader, in fact, becomes one of those birds. That is to say, we are all involved in this story. We are, in fact, complicit. And the birds are beautiful too. And so mysterious.

5. History and fiction; in „Apeirogon“, „The Dancer“ about Nurejev or „Let the world spin“ about Philippe Petit, what’s the fascination about writing fiction about existing lives?
This is a really important and difficult question because it goes to the heart of what’s true and what’s not true. About what is real and what is not. This whole idea of “fakeness” and “fake news.” Fiction, non-fiction. Truth, post-truth. The relationship between fiction and truth has always been complicated but even more so nowadays. Where do we draw the line? I have said in other interviews that facts are mercenary things. They can be manipulated and shipped off to do whatever work you need them to do. But the deeper truth relies on the human heart – and the human heart is a messy and constantly evolving place. So I like to blend the real world with my imagination in the hope that I can create something honest. I believe in truth. And truth can come both in fiction and non-fiction. And given the fact that truth is messy, we sometimes have to invent new forms. I don’t privilege the poet over the journalist, or the fiction writer over the essayist. I just like the proper word put in the proper place. On a very simple level it’s all about story-telling. My invented characters are as real to me as the ones who “actually” live!

6. Do you think the point of view of an artist to a crisis, might be different to those of „common“ people?
The artist should always be one of the “common” people, or even better the community. But sometimes an artist has to lead with his or her chin. We have to be a tiny bit ahead of the curve. We have to try to say things that people “know,” but haven’t yet learned how to express.

7. What’s your point of view, what might be the impact of the corona crisis?
That we feel simultaneously meaningless and meaningful at the same time. Meaningless in the sense that we just wonder what the hell is going on around us. But meaningful in the sense that everything we do matters … every step we take, every door we open, every time we choose to wear or not wear a mask, we are having an effect on the world. This virus came from a small place and took over the world. Everything we do matters.

8. You are longlisted for the Booker Prize, congrats and good luck to you. 50.000 £ is for the winner, what would you do with it?
Well I don’t think I will win! But I would love to have some money to give to my favourite charity, Narrative 4.

9. I’m pretty sure you own loads of books, whats the most beautiful one you have in your shelves?
My father wrote books about football and about roses and also about Irish history. My most treasured books are his. He died five years ago now, but he was and still is enormously important to me.

10. Wish make a wish, imagine three wishes are granted, what would those be?
I want Rami and Bassam to win the Nobel Peace Prize. I want some sense of sanity and decency to return to the United States after the Covid and Trump are gone. And I want to wake up tomorrow still in love.