Walzertakt und Marschmusik

ES IST EIN LAND, über das man sich zu Tode ärgert und wo man trotzdem sterben will.“ Sigmund Freuds Sentenz von 1919, deren zweite Hälfte er gut 20 Jahre später revidieren muss, spricht vielen aus dem Herzen. Aus gutem Grund eröffnet der aus Mähren stammende und in Wien praktizierende Vater der Psychoanalyse den Reigen in Manfred Flügges neuem Meisterwerk: Es beleuchtet Mythen und Wahrheiten über den „Anschluss“ Österreichs an Hitlers Deutsches Reich im März 1938 und über den Einmarsch der Nationalsozialisten in Wien. Diesen traumatischen Schlüsselmoment der europäischen Geschichte vergegenwärtigt der vielfach ausgezeichnete Autor im Wechsel von historischer Darstellung, Essay und Lebenserzählungen. Flügge fächert ein breites Spektrum an Perspektiven auf: Akteure und Opfer, bekannte Größen und fast vergessene Vertreter des Kultur- und Geisteslebens, neben dem pointierten Formulierer Freud etwa Egon Friedell, Robert Musil, Franz Werfel und Hugo Bettauer, Autor des Bestsellers „Stadt ohne Juden“. Ausführlich zitiert wird auch Kurt Schuschnigg, Österreichs abgesetzter Kanzler, der am 11. März 1938 seinen tragischsten Irrtum treffend in Worte fasst. Flügge setzt ein eindrucksvolles Schicksalspanorama in Szene, das sich wie ein spannender Zeitroman liest – inklusive ideengeschichtlicher Dimension. Das Stimmungsklima illustrieren aussagekräftige Beispiele von Ravels Ballettmusik „La Valse“ bis zum Lieblingswitz von 1938 über Mussolini, Hitler und Dollfuß. Ein Glanzstück der literarischen Historiografie!