Gipfeltreffen der Dekadenz

ENGLANDS literarischer Großmeister ist ganz in seinem Element: Booker-Preisträger Julian Barnes zieht lustvoll und mit lässiger Eleganz alle Register in seinem brillanten Porträt der Belle Époque. Mit beeindruckendem Kenntnisreichtum entfaltet er ein schillerndes Panorama der Zeit zwischen den Kriegen von 1870/71 und 1914 bis 1918. Ein Buch wie eine Bühne, auf der Barnes von der Bohème bis zur Politik prägende Gestalten lebendig werden lässt. Großer Auftritt für ein „wundersames Trio“, das im Jahr 1885 gemeinsam aus dem heimischen Paris nach London reist – auf „ästhetische Einkaufstour“: Zwei der Herren, Edmond de Polignac (verhinderter Prinz) und Robert de Montesquiou (Graf), stammen aus altem Adel und sind dem eigenen Geschlecht zugeneigte Bonvivants. Der Dritte im Bund – aus guten Gründen Barnesʼ Titelheld – ist bürgerlicher Herkunft und ein Womanizer: Dr. Samuel-Jean Pozzi (1846-1918), verdienter Pionier der Gynäkologie, überdies Modearzt der Prominenz und Liebling der Frauen, darunter die Schauspielerin Sarah Bernhardt, die „Docteur Dieu“ vergötterte. In den Salons wurde er irdischer angehimmelt: als „L’Amour médecin“, „Doktor Liebe“. Nicht zuletzt war er ein kunstsinniger, belesener Freigeist, der Darwin ins Französische übersetzte und den Austausch zwischen Frankreich und England förderte. Perfekter Stoff also für den frankophilen Engländer Julian Barnes: Ein glänzendes Plädoyer, an der Idee Europas festzuhalten, vor allem aber eine faszinierende Kulturgeschichte mit einzigartigen, erhellenden Bildbetrachtungen. Exquisites Lesevergnügen!