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Das heimische 6 x 3 Meter grosse Buchregal sagt alles: Thorsten Kretzschmar ist begeisterter Leser und Buchhändler. „über den Tellerrand schauen“, das ist es, was der 44-jährige Filialleiter in der Berliner Hugendubel-Filiale am Europacenter an „seiner“ Filiale auch so schätzt: Neues ausprobieren, Kollegen wie Kunden auf noch unbekanntes Terrain führen. Digital oder Analog – für ihn existieren beide Lesemöglichkeiten bestens nebeneinander, ohne sich auszuschliessen.

Ihr bevorzugtester Leseplatz?
Gerne in der Küche, umgeben von Stapeln noch ungelesener Zeitungsartikel, die warten müssen, bis das spannende Buch gelesen ist.

Ihre verrückteste Leidenschaft?
Fahrradfahren! 365 Tage, bei jedem Wetter. So komme ich in Berlin auch immer pünktlich an.

Ihr erstes Leseerlebnis?
Meine erste „erfolgreiche“ Leselektüre war Dieter Nolls „Die Abenteuer des Werner Holt“. Auch heute noch ein wichtiger Roman.

In welcher Romanverfilmung wären Sie die Idealbesetzung?
In der Verfilmung von Dostojewskis „Der Spieler“ der Hauslehrer Aleksej Iwanowitsch. Etwas wagen, um zu gewinnen.

Wem wären Sie gerne begegnet? 
Isaak Babel, um mir über seine Erlebnisse in der „Reiterarmee“ berichten zu lassen, sowie von den Schwierigkeiten, sich treu zu bleiben, wenn man an etwas glaubt.

Ihr tollstes Erfolgserlebnis?
Mit dem Rennrad in Frankreich den Mont Ventoux erklommen – ich hab’s nicht nur nach oben geschafft, sondern auch die 30 Kilometer (ohne Karte) zurück zum Ferienhaus.

Was sammeln Sie mit Begeisterung?
Meine Leidenschaft ist seit Jahrzehnten das Sammeln von Schallplatten, was an sich nicht verrückt ist, aber ich kaufe gern von einzelnen Titeln mehrere Exemplare – weil sie aus verschiedenen Ländern kommen oder aus verschiedenfarbigem Vinyl gepresst sind. Ich behaupte deshalb gern, dass sich das eher „ansammelt“, als daß ich es „sammle“.

Welche Lebensempfehlung aus einem Buch haben Sie am konsequentesten umgesetzt? Mit welchem Ergebnis? 
Eine Lebensempfehlung fällt mir schwer – ich würde Hermann Hesse zitieren: „Wir müssen Dostojewski lesen, wenn wir elend sind …“ – besser als jede Lebenshilfe: den Protagonisten geht es oft schlechter als einem selbst und man fühlt sich besser …

Worin besteht Ihr verkanntes Talent, dessen Entdeckung längst überfällig ist?
Als Talent würde ich bezeichnen, ähnlich wie MacGyver irgendetwas, mit egal was, reparieren zu können.

Mit wem würden Sie gerne mal im Aufzug stecken bleiben?
Ich hätte gern Egon Bahr gedankt für das, was er in den Jahren der deutschen Teilung für die deutsch-deutsche Verständigung getan hat.

Ihre Gründe, Buchhändler zu werden und auch heute noch gern zu sein?
Als Buchhändler wird meine Neugierde nahezu täglich geweckt – durch interessante Inhalte, andere Sichtweisen, tolle Gestaltung und neue Entdeckungen. Die Klassiker-Reihe des MARE-Verlages ist ein schönes Beispiel dafür. Und was sonst: Ich lese gern! Jeden Tag.

Welches Kundenkompliment hat Sie am meisten gefreut?
Ein schönes Kompliment aus der letzten Zeit: „Schön, dass Sie weiter aufhaben – was würde ich nur ohne Sie machen?“. Der Berliner Buchhandel durfte ja trotz Lockdown als „geistige Tankstellen“ geöffnet bleiben.

Wie viele Bücher lesen Sie im Durchschnitt pro Woche?
Ich lese jeden Tag 2 oder 3 Zeitungen und da bleibt oft leider nur am Wochenende Zeit für Bücher – im Monat also leider nur ein Buch komplett.

Zu seinen persönlichen Lesetipps hat Thorsten Kretzschmar einige sehr lesenswerte Einführungsworte:

Mark Twain „Bummel durch Deutschland“ – einer der größten Humoristen seiner Zeit ist hier als Vorläufer von Loriot zu entdecken – garstig, böse und den Deutschen den Spiegel vorhaltend. Es hat sich 130 Jahre nach erstem Erscheinen nichts geändert und man erkennt sich, seine Freunde und „die Deutschen“. Und bitte merken: Twain ist KEIN Kinderbuchautor, als den wir ihn immer noch sehen.

Fjodor M. Dostojewski „Der Spieler“ – bitte in der grandiosen Übersetzung von Svetlana Geier lesen. Eine tolle und auch so typisch russische tragische Geschichte über Glück im Spiel und Pech in der Liebe. Eine kleine und so feine Geschichte, die man immer wieder neu lesen kann.

Herman Melville „Moby Dick“ – ja, ein Monster an Buch, in dem „alles“ und meiner Meinung nach jede Geschichte enthalten ist – ein Buch für Alles. Die „Jagd“ nimmt nur einen kleinen Teil des Buches ein und es ist interessant zu lesen, wie jeder Protagonist mit seiner eigenen Stimme spricht. Wohl auch deshalb ein grandioser Misserfolg zu Melvilles Lebzeiten und heute ein Welterfolg. Ich bevorzuge die Übersetzung von Friedhelm Rathjen – allein der Streit über seine Übersetzung könnte eine Geschichte für sich sein. Wer nicht lesen will, für den gibt es eine grandiose Lesung (kein Hörspiel), vorgetragen von Christian Brückner – die dauert auch nur 30 Stunden und es gibt mit ihm nochmal völlig neue Seiten der Geschichte zu entdecken (Parlando Verlag, ISBN 9873941004771 für 24,99 €).

Als vierte Empfehlung ist auf meiner Liste Werner Bräunigs „Rummelplatz“ – ein Roman über den Aufbruch in der jungen DDR, allerdings nah am Menschen und ohne jede Verklärung. Und auch wieder ein „tragischer“ Roman, da sein Autor mit diesem tollen Buch an der Realität der DDR-Politik gescheitert ist. Als Autor verfemt und aufs Abstellgleis gedrängt, dann als Bauarbeiter gearbeitet und jung verstorben. Das Manuskript wurde aus dem Müll gerettet und erst über 30 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht.

Mark Twain
„Bummel durch Deutschland“
Insel TB
10,– €
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Fjodor Dostojewskij
„Der Spieler“
Fischer TB
12,– €

Auch als eBook und Hörbuch auf Hugendubel.de erhältlich.

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Herman Melville
„Moby-Dick oder: Der Wal“
Jung und Jung
45,– €
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Werner Bräunig
„Rummelplatz“
Aufbau
12,99 €

Auch als eBook auf Hugendubel.de erhältlich.

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