Lalena Hoffschildt ist von Kindesbeinen an dem Lesen verfallen – die Ausbildung zur Buchhändlerin, die sie 1995 bei Hugendubel am Marienplatz antrat, war quasi zwingend. Aktuell ist Lalena im Filialleitungsteam am Stachus tätig – und auf Instagram unter @lalenaparadiso aktiv. Die Interview-Serie #ZehnFragenAn entstand mehr oder minder durch Zufall. Heute interviewt sie für uns die Autorin Zaia Alexander. 

1. Denis Scheck sagt über deinen Roman: „Endlich ein moderner Hexenroman…“ Ist er das? Und was hat dich auf dieses Motiv gebracht?
Der Begriff hat mich überrascht: Hexenroman. Aber er ist eingängig und bleibt hängen, was natürlich Vorteile hat. Nur für die Leser*innen, die das Buch in der Hoffnung gekauft haben, Hexen auf Besen zwischen L.A.’s Hochhäusern aus Stahl und Glas herumfliegen zu sehen, die Zaubersprüche skandieren, um das nächste Erdbeben abzuwehren, oder einen Zauberstab schwingen, um eine Hauptrolle im nächsten Hollywood-Blockbuster zu landen, war es vielleicht etwas irreführend. Da ist es gut, dass einige Kritiken, die auf diese schlagzeilen-verdächtige Bezeichnung folgten, dem Roman etwas gründlicher auf die Spur kommen.
Wenn ich meinen Roman unter einem Schlagwort zusammenfassen sollte, würde ich ihn einen Bildungsroman nennen. Oder einen Entwicklungsroman, auch wenn die Entwicklung hier eher spät im Leben stattfindet. Aber Parzival war auch ein Spätzünder! Erst, als er älter ist, fällt ihm die richtige Frage ein, um den dahinsiechenden Amfortas zu retten und den Heiligen Gral zu finden – oh herr, sag, was tut dir weh? – Lou fällt die richtige Antwort auf die Frage des dahinsiechenden Mentors „Was gibt’s Neues“ auch erst ein, nachdem der Mentor schon lange nicht mehr da ist. Lou und Parzival haben viel gemeinsam, ich bin sogar sicher: Wenn Parzival und ich ein Kind hätten, wäre es Lou.
Aber im Ernst: dieses Buch dreht sich um einen Lernprozess. Und dieser Lernprozess schließt das Erinnern ein, die Erinnerung an versunkene Träume, Intuitionen, die man vielleicht als Kind einmal hatte. Das rufen die Hexer in Lou wieder wach. Lerne, dich an deine Träume, deine Wünsche zu erinnern, die durch die Zurichtungen des Erwachsenwerdens verschüttet wurden. Durch die Hexer lernt sie so zu leben, wie sie es sich im Grunde gewünscht, aber nie hinbekommen hat, bis ihr jemand „die Chance einer Chance“ gibt. Und im Gegenzug braucht sie nichts weiter zu tun, als eine unabhängig denkende, kultivierte Person zu werden, die auf einer tiefen Ebene die Geheimnisse und das Wissen, die in der Sprache stecken, versteht, eine Person, die alles hinterfragt. Denn was machen Hexer? Sie verwandeln Dinge. Auch Lou. Mit ihrer Hilfe durchläuft Lou eine echte, dauerhafte und positive Metamorphose. Das ist für mich Magie, und deshalb spreche ich von Hexern.
Harry Potter braucht Dumbledore, Lou braucht den Mentor, Parzival braucht Kundry, niemand sagt einfach nur Hokuspokus und schon gibt’s ein Happy End.

2. Deine Protagonistin ist eine Suchende, dabei aber irgendwie sehr passiv. Steht sie für dich als Prototyp für die Thirtysomethings?
Ich glaube nicht, dass ich in der Lage wäre, einen Prototyp für irgendeine Gruppe zu schaffen. Dreißig ist das richtige Alter für Lou, denn im Alter von 30 hat man genug von der Welt erlebt und genug von sich selbst gesehen, um zu wissen, was funktioniert und was nicht. In diesem Alter werden auch die Zweifel klarer formulierbar. Dann weiß man: jetzt oder nie, aber es ist noch nicht zu spät. Und Lou geht entschlossen durch diese sich langsam schließende Tür. Sie ist schnell genug, um zu erkennen, dass alles, wovon sie immer geträumt hat, jetzt zum Greifen nah ist. Warum also weiter dagegen ankämpfen? Um was zu verteidigen? Einen verlorenen Posten? Um eine falsch verstandene Unabhängigkeit zu behaupten? Wir hängen von allen möglichen Dingen ab, vom Elternhaus, von Lebensumständen, von Ehepartnern, Chefs, Strukturen etc. Der Mentor schlägt vor: Statt dich dauernd zu beschweren, solltest du lieber eine Romanze mit Wissen eingehen. YES, YES, YES! Abhängigkeiten gibt es, aber man kann zwischen ihnen wählen. Hier haben wir etwas so unverschämt Logisches und Vorteilhaftes, dass einige Leute es tatsächlich nicht sehen: die lebensbejahende „Chance, eine Chance zu haben“, die Lou, vielleicht auf magische Weise, gegeben wurde.

Was man auch bedenken sollte: Die Situation in den USA ist, was Bildung betrifft, nur schwer mit der in Deutschland vergleichbar. Studieren kostet viel Geld. Es ist nicht so einfach, eine Universität zu besuchen. Deshalb betrachte ich Lou ganz und gar nicht als passiv. Nein, ihre Reflektionen über das, was sie erlebt, wie sie die Hexer erlebt, die sie ja auch nicht immer ganz kapiert, und ihr andauerndes Hinterfragenmüssen finde ich nicht nur teilweise ziemlich witzig, sondern es veranschaulicht auch, dass es ihre Wünsche sind, die wie einen Schatz zu heben ihr die Hexer helfen. Ein schlechter Haarschnitt ist kein allzu hoher Preis für einen Doktortitel. Dazu erhält sie noch eine coole Tochter und eine Katze. Und damit hätten wir doch ein Happy End, trotz Tod und Verlust, die auch eine Rolle spielen. Lou lernt zu lieben und Verantwortung für ihr Leben und das von Tochter und Katze zu übernehmen, beide Seelenverwandte, die dank der Hexer „aus dem Blauen heraus“ in ihrem Leben auftauchen.

3. L.A. ist wunderbar gegenwärtig. Du hast dort lange gelebt, was macht diesen Ort für dich besonders?
L.A. wird immer ein Teil von mir sein, ganz gleich, wie viel Zeit ich im Ausland verbracht habe. Es gibt die Düfte von Salbei, Zitrusblüten, Salz und Meer, die mich immer begleiten. Die mexikanisch beeinflusste Architektur und die kobaltblauen Malibu-Kacheln, die Palme, die ich immer noch vor meinem Fenster in Potsdam sehe, obwohl es eigentlich eine Lärche ist. Da sind die schlaflosen nächtlichen Fahrten durch leere Straßen, die milde Brise, durchtränkt vom Duft nach Nachtjasmin, hohe glänzende Palmwedel, die am schwarzen Sternenhimmel kratzen, die nicht zur Jahreszeit passenden Hitzewellen und das knackige Winterblau. Diese Jahreszeiten, die Menschen, die an Orten mit „echten“ Jahreszeiten leben, nie wirklich wahrnehmen.
L.A. ist tatsächlich magisch; es gibt eine Unterströmung, die mit der Topographie und der Geogeschichte des Ortes zusammenhängt. Darüber spreche ich im Kapitel Rio Xingu. Die Energie des Wassers, das vor tausenden Jahren einmal die Canyons hinabströmte, verführt noch heute die Autofahrer dazu, diese Canyons hinunterzurasen. Die etwa dreißigtausend verlorenen Sprachen der amerikanischen Ureinwohnerstämme mit all ihren Geheimnissen sind in der immerfort bebenden Erde begraben. Die deutschen Auswanderer entdeckten das Magische des Lichts und errichteten ihre Filmstudios, aber auch das Illusorische dieses Lichts entging ihnen nicht.  Man spricht von L.A. als dem Ende der Welt. Für mich ist es Anfang und Ende. Nichts ist wie L.A.

4. Wie hast du das Schreiben für dich entdeckt?
Ich habe mein ganzes Leben lang geschrieben. Ich muss Tausende von Seiten geschrieben haben, von denen ich die meisten im Laufe der Jahre vor der Fertigstellung zerstört habe. Andere sind in Hunderten von Ordnern auf verschiedenen Computern begraben, die ich in meinem Leben hatte und die ihr Leben immer vorzeitig aufzugeben scheinen. Leider habe ich selten etwas fertig gestellt, und ich habe nie jemandem gezeigt, was ich vorhatte. Wie kann man jemanden darum bitten, Fragmente zu lesen? Erst als ich nach Deutschland zog und anfing, mit der Möglichkeit von zwei Sprachen zu experimentieren, oder besser gesagt zwei Sprachen zur Verfügung hatte, konnte ich nicht nur diesen Roman, sondern auch ein Theaterstück, ein Hörspiel und ein paar Kurzgeschichten tatsächlich zu Ende schreiben. Aber diese fertigen Texte sind relativ neu.

5. Deine Muttersprache ist Amerikanisch. Wie kommt es, dass du einen Roman deutscher Sprache geschrieben hast?
Eigentlich habe ich zwei Romane geschrieben, einen auf Englisch mit dem Titel „A Long Spell of Earthquake Weather“ und eben „Erdbebenwetter“ auf Deutsch. Das Interessante daran: Es gibt kein Original und keine Übersetzung oder zwei Originale und zwei Übersetzungen. Was mich betrifft, ist eine Sprache nie genug.

6. Jetzt kommt die Corona-Frage, das brennt mir natürlich unter den Nägeln. Keine Veranstaltungen und Lesereisen: Da ist es schwer einen Debütroman publik zu machen. Wie geht es dir damit?
Ich arbeite seit vielen Jahren als Übersetzerin und bin es als solche nicht unbedingt gewohnt, im Rampenlicht zu stehen. Auf gewisse Weise hat mir der Virus also Zeit verschafft, mich daran zu gewöhnen, mich öffentlich zu äußern, nicht über irgendeine Autorin, die ich übersetze, sondern über meine eigene Arbeit, was eine völlig andere Geschichte ist.
Nach all der Zeit, all der Arbeit im Verborgenen ist es natürlich enttäuschend, so wenig von dem Spaß zu haben, der mit der Veröffentlichung eines Buches ja auch einhergeht. Aber ein Teil von mir ist erleichtert, dass ich mich auf das Schreiben meines neuen Buches konzentrieren und mit der meditativen Arbeit des Übersetzens weitermachen kann.
Abgesehen davon bin ich unglaublich dankbar für Plattformen wie die Eure, die mir eine Bühne bieten, auf der ich über dieses Buch sprechen und meine Gedanken auf andere Art und Weise sammeln kann. Während des Schreibens habe ich über all das nicht nachgedacht, nicht einmal unbedingt während des Lektorats, das auch wieder andere Perspektiven auf das Buch eröffnet hat. Es ist wirklich interessant, „objektiv“ über das nachzudenken, was ich vorhatte.

7. Was inspiriert dich zum Schreiben?
Morgens an meinen Schreibtisch zu gehen, ist eine Praxis, die mich aufheitert, beruhigt und erfrischt. Es ist auch das einzige Zuhause, das ich kenne, und vielleicht sogar einer der wenigen Bereiche meines Lebens, der Beständigkeit und Sicherheit bietet, auch wenn die Arbeit nicht immer „produktiv“ ist. Das Schreiben ist hochspannend, es unterhält mich, tröstet mich, und wenn es gut läuft, kann ich sogar etwas erleben, das einer Euphorie nahe kommt, die süchtig macht.

8.
 Welche 3 Bücher haben dich zuletzt begeistert?
Virginia Woolfs „Die Wellen“. Woolf schafft in einem nicht einmal besonders langen Satz ein ganzes Universum. Außerdem Nikolai Gogols Kurzgeschichten, insbesondere „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“. Gogols Geschichten sind absurd, verzweifelt und urkomisch zugleich, seine verlorenen Figuren sind für mich so etwas wie verwandte Seelen, so nah, als hätte ich mit einigen von ihnen mein Leben verbracht. Und beim dritten Buch handelt es sich um Hjalmar Söderbergs „Doktor Glas“. Die erdbebenwetterartige Atmosphäre, die zu Wahnsinn und Mord führt, hat mich völlig berauscht. Aber eine vierte Schriftstellerin muss ich unbedingt noch hinzufügen, weil sie immer präsent ist: Lucia Berlin! Ihre vielen Leben, der dunkle Humor angesichts wirklich verheerender Umstände sind unglaublich inspirierend und ein riesiger Trost für diejenigen von uns, die es nicht so leicht hatten.

9.
 Was kommt als nächstes, schreibst du weiter?
Ja. Aber ich wage es nicht, darüber auch nur ein Wort zu verlieren, denn im Grunde bin ich lächerlich abergläubisch.

10.
 „Hex-hex!“ Zaia Alexander hat 3 Wünsche frei, welche wären das?
Als Kind habe ich diese Frage immer mit dem Wunsch nach drei weiteren Fragen ad infinitum beantwortet, aber das hat mich nie irgendwohin geführt. Nun möchte ich die drei Wünsche in einen einzigen großen Wunsch fassen, der die ganze Unendlichkeit freier Wünsche enthält. Dazu muss ich mich allerdings an eine eher obskure öffentliche Persönlichkeit wenden, die diesen Wunsch ohne Umschweife und in aller Deutlichkeit geäußert hat, und ich hoffe, Du gestattest mir, sie hier zu zitieren.
In kürzlich entdeckten Textfragmenten der Chronistin Luce Ovide stieß ich auf folgende Passage: „In meiner Version von einer besseren Welt gibt es keine Hierarchie, die den Mann an die Spitze stellt. Ich spreche von man in jeglichem Sinne des Wortes: der Spezies, des Geschlechts, des Patriarchats. Sobald wir die Hierarchie als wertschöpfendes System abgeschafft haben, wird der Rest sich fügen. Tiere, Kinder, Frauen, die Erde selbst, auf der wir stehen, brauchen keine Angst mehr um das Fortdauern ihrer Existenz zu haben.“