Herausforderungen können ihm anscheinend nicht groß genug sein – oder ihn zumindest nicht aufhalten. Dass er zurzeit für eines seiner bisher kühnsten Buchprojekte die Sternbilder unterschiedlichster Kulturen auf allen Kontinenten erforscht, ist typisch für Raoul Schrott. 1964 in Landeck / Tirol geboren, lockte ihn schon früh die Welt jenseits seiner Bergheimat. Kein Zweifel, Schrott hat das Gen der großen Entdeckungsreisenden und zugleich den Geist eines Universalgelehrten mitbekommen. Rund um den Globus hebt er kulturelle Schätze und bringt sie in neuem Licht zum Funkeln. Literarisch mit allen Wassern gewaschen, ist er z.B. bei seiner Übersetzung von Homers „Ilias“ gegen den Strom geschwommen und als Romancier zu neuen Ufern aufgebrochen, z.B. in seinen Seefahrerepen „Finis Terrae. Ein Nachlass“ und „Eine Geschichte des Windes“, 2019 zum 500-jährigen Jubiläum von Magellans erster Weltumsegelung.

Besonders am Herzen liegt ihm die Dichtung – weil sie vereint, was uns Menschen, unser Denken und Fühlen ausmacht und es wie keine andere Kunstform auf den Punkt bringt. Die Faszination der Poesie erschließt Schrott auf vielfältige Weise – von „Gehirn und Gedicht“, seinem erhellenden Gemeinschaftswerk mit dem Neuropsychologen Arthur Jacobs, bis zu seinen eigenen Gedichten. Einen überraschenden Bogen spannt er in seinem Band „Die Kunst an nichts zu glauben“.

„Der Griff nach den Sternen“

Raoul Schrott

Da zieht er gleich in den Bann, wenn er die frühchristlichen Mosaike von Ravenna zum Leuchten bringt und ein imaginäres Traktat aus dem 18. Jahrhundert – das „Manual der transitorischen Existenz“ – zutage fördert. Aber er poliert keine Heiligenscheine. Statt alter Ikonen präsentiert er poetische Momentaufnahmen gewöhnlicher Menschen von heute – und was die Kassiererin und den Architekten, den Flüchtling, die Primatenforscherin und all die anderen im Innersten bewegt: Streiflichter der Suche nach dem irdischen Glück.

„Der Philosoph“

ist nicht jede frage eine formulierung der lust
und nicht jede antwort ein verlust
die verwirklichung des glücks ewig außer reichweite?
egal welche prämisse ich ausarbeite
es bleibt eine anstrengung die nirgends hinführt
auch am längsten tag ist das leben zu kurz
scheinen wir dafür gleichsam zu jung
und dennoch erstarrt vor jedwedem umschwung
die berge schweigen · sie wirken nicht einmal ungerührt
einfach nur da – fels ruhend in seinem sturz
der milan kreisend im aufwind · erst goldrot dann braun
es ist in nichtssagende stille
dass der himmel die greifbare nähe des seins verkündet –
quarz und gneis · ihr glitzern im grauen
welt als vorstellung · und wille
wie er in die verirrungen unseres kleinmuts mündet:
alles leid resultiert aus dem glauben
sich seines unglücks erwehren zu müssen
statt schönheit im scheitern zu finden
auf den wiesen beginnt man bald das fallobst zu klauben
und die äste am fenster sind voll von walnüssen
ihre ganglien innen weiss schwärzen die rinden
einem die hand. dies sind die kronen
der schöpfung: und hier ist wo wir wohnen

Veröffentlicht in Raoul Schrott „Die Kunst an nichts zu glauben“ © 2015 by Carl Hanser Verlag GmbH & Co.KG, München