WILLKOMMEN IM BAYERISCHEN WALD: Aus Franken angereist, bringen wir zwar kein Zertifikat in Niederbayerisch für Fortgeschrittene mit, aber gewisse Grundkenntnisse und einige Fragen. Beides verdanken wir Nicole Lingens Debütkrimi mit Hauptschauplatz im niederbayerischen Bogen und mit dem tollkühnen Titel „Suppenbrunzer“. Hinter dieser humorigen Wortschöpfung verbirgt sich ein Objekt, dessen offizielle Bezeichnung auf uns nicht weniger abenteuerlich wirkt: Heilig-Geist-Kugel. Kugel? 

Alle Fotos: © Susanne Halfmann

Im Hinterkopf hatten wir eigentlich: Der Heilige Geist weht, wo er will. Da kann es wohl nicht schaden, dass wir dem Phänomen in einem Luftkurort auf die Spur kommen wollen, obwohl sich das eigentlich nur nebenbei so ergeben hat. Ausfahrt Zwiesel also – auf zum Hauptgrund unseres Besuchs: Josef Krottenthaler, Holzbildhauer. Besser gefällt uns die volkstümliche Bezeichnung: Herrgottsschnitzer.

„Herrgottsschnitzer mit eigener Zeitrechnung“

Wer von der Spezialisierung auf religiöse Motive vorschnell auf Entrücktheit schließt, ist allerdings auf dem Holzweg bei Herrn Krottenthaler. Bodenständig wirkt er – wie sein Haus mit dem liebevoll gepflegten Bauerngarten. Kaum hat er uns hereingebeten, kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Unter einem Dach sind aufs Schönste Wohnlichkeit und Lebenswerk vereint: Schon im Flur begrüßen uns Engel, ein ganzer Chor. Weitere Exemplare finden sich an allen Ecken und Enden. Schwebende Leichtigkeit mit goldenen Flügeln … Heiter wirken sie, die Himmelsboten – genau wie der Hausherr selbst. Er wirkt umso vitaler, je mehr er ins Erzählen gerät. Dass man ihn für viel jünger als 83 hält, liegt weniger am kleinen goldenen Ohrring als an seiner Begeisterung, wenn er vom Familienleben mehrerer Generationen und von seinem Handwerk spricht. Und außerdem lebt Josef Krottenthaler sowieso nach seiner eigenen Zeitrechnung. Wie lang er braucht, bis aus einem Stück Holz beispielsweise ein Schutzheiliger wird? Das kann der Schöpfer heiliger Heerscharen beim besten Willen nicht sagen: „Ich schau‘ beim Schnitzen nicht auf die Uhr.“

„Vom Holzklotz zum Heiligen Geist“

Flankiert von Sankt Blasius, Sankt Christophorus, Sankt Vitus & Co. gehen wir einen Stock tiefer, ins Kellergeschoss. Dank der Hanglage des Hauses gibt es hier – wie in einem Atelier – ein großes Fenster. Und das ist ganz entscheidend für Josef Krottenthalers zeitlichen Rhythmus: „Zum Arbeiten nutz‘ ich das Tageslicht. Wenn’s dunkel wird, hör‘ ich auf.“ Schwer zu sagen, was uns mehr beeindruckt: wie Josef Krottenthaler in sich ruht oder was er geschaffen hat. Jedenfalls übertrifft es alle unsere Vorstellungen, was wir in seiner Werkstatt sehen: Unmengen Pinsel und Farbtöpfe, Werkzeug und allüberall Nothelfer, Heilige Familien mit und ohne Hirten, Schafe und Weise aus dem Morgenland – und an der Decke ein Firmament voller Heilig-Geist-Kugeln, große und kleine, in den unterschiedlichsten Ausführungen. Josef Krottenthalers Standortvorteil ist es, in der Glasstadt Zwiesel zu leben: So konnte er immer aus dem Vollen schöpfen, was mundgeblasene Kugeln anbelangt – nach alter Handwerkskunst. Als ein befreundeter Lieferant starb, hat Josef Krottenthaler der Witwe den kompletten Kugelnachlass abgekauft. Die alte Tradition liegt ihm so sehr am Herzen, dass er sie nicht nur bewahrt, sondern unermüdlich weitervermittelt.

„Wie Meisterstücke und Lehrlinge Schliff bekommen“

Einen Ehrenplatz an der Wand über der Werkbank hat die anmutige Madonna aus Lindenholz, die er am Ende seiner Lehrzeit geschaffen hat. 1958 war das. Glücklich macht ihn, dass er selbst 35 Lehrlinge ausbilden konnte. Und dass ihm, beispielsweise auf dem Weihnachtsmarkt, immer noch gern Kinder und Erwachsene über die Schulter schauen. Wir bekommen dazu ebenfalls Gelegenheit: Im Handumdrehen schnitzt er aus einem kleinen Stück Holz den Körper einer Taube – das Symbol für den Heiligen Geist, also das Innenleben der Kugeln. Die Einzelteile, ob bemalt oder naturbelassen, werden durch eine schmale Öffnung ins Innere der Glaskugeln befördert – in Filigranarbeit, nach demselben Prinzip wie die Buddelschiffe. „Ich bin dankbar, dass ich das noch kann, dass die Augen noch so gut sind und die Hände ruhig genug“, sagt Josef Krottenthaler. Aktuell in Arbeit hat er die Namenspatrone seiner 13 Geschwister. Und er hat noch viel vor – mit Blick auf seinen Schuppen voll Holz, das Glaskugel-Vermächtnis und die inzwischen betagte Schleifmaschine, die fürs Foto sogar noch Funken sprüht und auch sonst zuverlässig ihren Dienst tut. Sie war ein Überraschungsgeschenk aus Dänemark, von einem Kollegen und Vater eines Auszubildenden, der viel mitbekommen hatte bei Josef Krottenthaler – fürs Handwerkliche und fürs Leben. So hofft der Lehrmeister, dass die jüngere Generation die alte Tradition weiterleben lässt – genau wie er selbst: mit individueller Handschrift. Während er den Rohling seiner Taube dreht und wendet und überlegt, wie die Flügel aussehen sollen, erklärt uns Josef Krottenthaler, dass Heilig-Geist-Kugeln gern zu Geburt und Taufe geschenkt werden. Und dass es sie früher in fast jedem Haus gab: im „Herrgottswinkel“ in der Wohnstube oder über dem Esstisch. Wenn die heiße Suppe aufgetragen wurde, stieg der Dampf auf zur Heilig-Geist-Kugel, kondensierte und tropfte herunter …

Ein „Suppenbrunzer“ – oder etwas weniger deftig – eine „Heilig-Geist-Kugel“ spielt auch eine Rolle in dem gleichnamigen Krimi von Nicole Lingen. Mehr zur Autorin und ihrem neuen Werk erfahren Sie hier: