Als Geheimtipp für den Nobelpreis ist Julian Barnes längst im Spiel. Namhafte Auszeichnungen wurden ihm bereits zugesprochen, etwa der Booker-Prize, der Prix Médicis und – als einem „der herausragendsten europäischen Erzähler und Essayisten“ – der Siegfried-Lenz-Preis. Seine letzten Glanzstücke: „Der Lärm der Zeit“ und „Vom Ende der Geschichte“, die Inspiration zu seinem neuen Roman. In „Die einzige Geschichte“ vereint der Londoner Schriftsteller virtuos Leidenschaften und Lebensthemen, wie die Unzulänglichkeit der Erinnerung. „Julian Barnes schreibt die besten Liebesromane“ (Denis Scheck).

Bekannt ist Barnes nicht zuletzt für die Kunst, vom ersten Satz an in den Bann zu ziehen. In seinem neuesten Roman geht er gleich aufs Ganze: „Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden?“ Obwohl der Leser schon zu Beginn – und an etlichen weiteren Stellen – vertraulich angesprochen wird, als säße er mit dem Erzähler an der Bar oder in der Bibliothek am Kamin, besteht kein Anlass, sich bequem einzurichten.

„Lieber groß lieben und groß leiden.“

Hier läuft es nicht auf einen harmlosen Psychotest hinaus. Fehlentscheidungen lassen sich nicht einfach ausradieren, denn Julian Barnes geht es um die große Liebe und um die existenziellen Fragen, die sie aufwirft – an die seine Liebenden aber im entscheidenden Moment keinen Gedanken verschwenden. Die verheißungs- und verhängnisvolle Gefühlsamplitude kennt am Anfang nur absoluten Überschwang. Die Höhen und Tiefen lotet Julian Barnes nicht an einer klassischen Boy-meets-Girl-Konstellation aus, sondern an Paul (19) und Susan (48). Flirtet Barnes, der nach seinem Oxford-Studium als Austauschlehrer Englisch in der Bretagne unterrichtete und Frankreich als seine „intellektuelle Heimat“ bezeichnet, etwa mit Pariser Verhältnissen? Stand das aktuelle Präsidentenpaar Pate? Nein, bei Barnes beginnt die Amour fou vor 1968. Und zwar im „Börsenmaklergürtel“ um London. Im Vorort „The Village“ sind die Regeln klar: Ehe, durchschnittlich 2,4 Kinder, Eigenheim. Doch für eine solche „Liguster- und Kirschlorbeerzukunft“ hat Paul nur Spott übrig, als er nach dem ersten Semester seines Jurastudiums die Ferien bei seinen Eltern verbringt. Nie, aber auch nie will er so werden wie all die anderen, die er abfällig Carolines und Hugos nennt – die etablierte Mittelschicht, die sich im Tennisklub trifft. Ausgerechnet da besiegelt sich das Schicksal von Paul und Susan.

„Gutes Spiel, Partner!“

„Gutes Spiel, Partner“, wird zu ihrer Losung auf dem Platz und im Bett. Dass Susan verheiratet ist, stört Paul ebenso wenig wie der Altersunterschied. Im Gegenteil, für ihn ist es die Gelegenheit, über die Konventionen zu triumphieren. Setzt Barnes, Autor des Welterfolgs „Flauberts Papagei“ sowie ein großer Bewunderer und Kenner von Frankreichs „erstem modernen Romancier“, die literarische Ehebruch-Tradition von „Madame Bovary“ fort? So leicht macht er es weder sich noch dem ungleichen Paar. Als selbsternannter „Absolutist der Liebe“ scheitert Paul am eigenen Anspruch – und irgendwann vergeht Susan ihr perlendes Lachen, dem er als Erstes verfallen ist. Als die beiden, wie einst beim Versagen der Bremsen auf einem sommerlichen Autoausflug, den Abgrund vor Augen haben, entfaltet Barnes seine Bestform.