NORMAN DAVIES, Jahrgang ’39, macht Geschichte zum Abenteuer. Ganz in seinem Element ist der konstruktive Querdenker unter den renommiertesten Historikern unserer Zeit als Entdeckungsreisender. Das zeigt eindrucksvoll sein Welterfolg „Verschwundene Reiche – Die Geschichte des vergessenen Europa“ und nun erst recht sein neues Meisterwerk „Ins Unbekannte“. Der Untertitel verspricht „Eine Weltreise in die Geschichte“, aber das Buch bietet noch viel mehr, denn die historische Spurensuche ist zugleich ein Selbstversuch – ähnlich der „Italienischen Reise“ von Davies’ Geistesverwandtem Goethe eine „Schule des Sehens“. Wer als Leser mit Norman Davies an Bord geht, kann sich einzigartiger Horizonterweiterung sicher sein – und auf alles gefasst machen, inklusive Verzauberung. Das Opus magnum eines begnadeten Erzählers!

Keineswegs die einzigen guten Gründe fürs Mitreisen als Leser sind die ausgewählten Ziele. Aber schon das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass hier etwas anders ist: Da steht zum Beispiel Mannahatta statt Manhattan oder Tejas statt Texas. Davies verwendet vorzugsweise die Ortsbezeichnungen der Einheimischen, unter anderem ein Hinweis, dass Leser Land und Leute auf lebendige Art kennenlernen werden – ein Versprechen, das etwa in Houston beim XXL-Steakessen mit Kulturbeilage eingelöst wird. Ob kulinarisch oder musikalisch, Davies macht vertraut mit den feinen Unterschieden zwischen Tex-Mex, Mex-Mex und Mix-Mex und mit texanischen Sprachgepflogenheiten, die Würze bekommen durch mexikanische Einsprengsel. Und die Mentalität der Einheimischen? Nach feiner englischer Art weiß Norman Davies sich aus der Affäre zu ziehen und zitiert John Steinbeck: „Texas ist ein Geisteszustand … mehr als das … eine Religion.“ Davies präzisiert ausführlich, denn „wer Texas verstehen will, muss seine Geschichte und deren geografischen Rahmen verstehen.“ Und das gilt auch für alle anderen angesteuerten Ziele, insbesondere Aserbaidschan.

„ … von allem eine Geschichte.“

Es sieht fast nach einer kommunikativen Bruchlandung aus, was sich da abspielt bei der Ankunft in der Hauptstadt Baku auf dem „Heydar Alyiev Flughafen“. Das Visum hat einen Haken – beziehungsweise das Datum vom Folgetag. Da könnte man ein Auge zudrücken? Der dienstbeflissene Kontrollbeamte schüttelt den Kopf, obwohl es doch nur noch drei Stunden bis morgen sind. Ob das Pokerface wirkt, das Davies, der emeritierte Professor mit Karrierestationen in London, Harvard, Stanford und Columbia, auch beherrscht? Als effektiver erweist sich der Trumpf im Ärmel. Die Episode gehört zu den realsatirischen Bravourstücken im Buch. Davies darf dann doch einreisen, alte und ultramoderne Architektur wie die „Flame Towers“ bestaunen und durch Baku streifen – beziehungsweise durch die Geschichte von Zaristen, Kommunisten, Bolschewiki, Separatisten … Helden, deren Denkmäler in Trümmern liegen. Davies: „Es gibt von allem eine Geschichte.“ Von Orten sowieso, aber auch von Objekten, wie beispielsweise von den Briefmarkenalben der Familie Davies: Das alte, gebundene war mit seinen Länderseiten irgendwann nicht mehr zeitgemäß, das neue indes spiegelt die Zeit – als Loseblattsammlung, die sich ergänzen lässt und vom Wandel zeugt. Ganz im Sinne von Davies, der wissen will, was die Welt bewegt und Menschen dazu bringt, sich auf die weitesten Wege zu machen. Sein eigener Antrieb? Fernweh und Forschergeist, unter anderem. Jedenfalls will er die Welt nicht einfach nur umrunden, sondern am liebsten auch aus den Angeln heben – zumindest Denkweisen, auch die eigene. Norman Davies: „Für mich als Historiker war die faszinierendste Erkenntnis meiner Reise, dass das traditionelle Zeitkonzept der Maori völlig anders ist als unser eigenes … Sie stehen sozusagen mit dem Gesicht zur Vergangenheit und beobachten das Tun von Göttern und Vorfahren … und gehen rückwärts in die Zukunft.“