Glück, Gulag und Gedächtnislücken

MILLENNIUMS-SILVESTER in Minsk: Eben von Moskau in die weißrussische Hauptstadt gezogen, beginnt für Alexander nicht nur wegen der Jahrtausendwende eine neue Zeitrechnung – sein zweites Leben, nachdem sein erstes durch eine grausame Laune des Schicksals in Trümmern liegt. Dem 30-Jährigen erscheint die Zukunft leer wie die große Wohnung, in der seine wenigen Habseligkeiten so verloren wirken, wie er sich fühlt. Da hat ihm die alte Dame von nebenan gerade noch gefehlt: Tatjana Alexejewna ist über 90, sehr direkt und von einem unerschütterlichen Mitteilungsbedürfnis getrieben. Einen Hehl macht sie weder aus ihrer Alzheimerdiagnose noch aus ihrer Furcht, dass ihr Gedächtnis sie immer mehr im Stich lässt. Tatjana kämpft gegen das Vergessen, Alexander möchte nichts lieber als das. Dennoch: Wie viel die beiden trotz aller Unterschiede verbindet, spüren sie bei ihren Treffen zum Tee, der so schwarz ist wie Tatjanas Humor. Und den bewahrt sie auch, als sie ihre dramatische Lebensgeschichte erzählt, die das 20. Jahrhundert umspannt: von der Kindheit in London über Stalins „Großen Terror“ bis in die postsowjetische Gegenwart. Während die schönsten und schmerzvollsten Erinnerungen Gestalt gewinnen, erkennen Tatjana und Alexander in der Tragödie des Gegenübers das eigene gebrochene Herz. Gemeinsam schließen sie einen Pakt gegen das Vergessen. Ein großer russischer Roman, der sich durch lebendige Charaktere und aufwendig recherchierte historische Einblicke auszeichnet – die Entdeckung des Meistererzählers Sasha Filipenko, der als vielseitiger Autor alle Register zieht und tief berührt.