Schmetterling im Schnee

Als wichtigste Stimme der südkoreanischen Gegenwartsliteratur ist Han Kang bekannt durch ihre mehrfach preisgekrönten Kurzgeschichten und Romane. „Die Vegetarierin“, 2016 ausgezeichnet mit dem „Man Booker International Prize“ weckte weltweit die Aufmerksamkeit für ihr Ausnahmetalent. Ihr Debüt gab sie 1993 als Dichterin – und die ist sie geblieben: Auch ihre Prosa funkelt vor Poesie. Auf besondere Weise gilt das für ihr neues, wohl persönlichstes Buch, das auf 160 gehaltvollen Seiten den ganzen Bogen des Lebens umspannt. Vom Babyhemdchen bis zum Totenhemd reicht die Liste der Inspirationen, mit denen sich die Autorin auf die Reise ans andere Ende der Welt begibt. Wie ein Schatten verfolgen sie ihre Kindheitserinnerungen: Aufgewachsen ist sie im Wissen um den Tod ihrer älteren Schwester, der nach der Geburt nur zwei Lebensstunden vergönnt waren. Nun hofft die Autorin, für den unaussprechlichen Verlust Worte zu finden – in einer europäischen Stadt, in der ihr die Sprache fremd ist und zugleich die Atmosphäre ihrer Trauer eine Stimme gibt und ihr Inneres zum Klingen bringt: Warschau mit all den Erinnerungen an das Ghetto, den Aufstand und die Seelen der Toten. Schneeflocken wählt die Meisterin der leisen Töne als Auftakt für ihre Etüde in Weiß: Weiß wie der letzte Schmetterling im Herbst, die Gischt oder das Glitzern des zugefrorenen Meeres und wie die halbmondförmigen Reiskuchen zum Erntedankfest daheim in Korea – wo Weiß nach traditionellem Verständnis neben Reinheit auch das Versprechen auf ein Leben im Jenseits symbolisiert. Große Literatur!