EIN GENIESTREICH: Die vielfach preisgekrönte US-Autorin Barbara Kingsolver übertrifft sich selbst mit ihrer Neuschöpfung von Charles Dickens‘ Klassiker „David Copperfield“. Ihr „Demon Copperhead“ führt ins Herz der Appalachen von heute. Den Abgehängten einer ganzen Region gibt sie eine eigene unverwechselbare und kraftvolle Stimme – die ihres rothaarigen Titelhelden, der allen Widrigkeiten zum Trotz sein Glück sucht. Der Millionenbestseller aus den USA wurde ausgezeichnet mit dem „Women’s Prize for Fiction“ und dem Pulitzer-Preis. Ein Welterfolg!​

Ihr neuer Roman scheint für Sie eine besondere Herzensangelegenheit zu sein. Was macht „Demon Copperhead“ für Sie so bedeutsam?
In diesem Roman geht es um mein Volk und meine Heimat. Die Appalachen sind eine eigenständige Region der USA mit unserer eigenen Geschichte und Kultur. Wir finden uns in den amerikanischen Medien nicht wieder. Die ländliche Hälfte unserer Nation fühlt sich unsichtbar und abgetan. Das gilt besonders für die Appalachen, die der Welt vor allem durch Stereotypen bekannt sind: das dumme Landei, das bedauernswerte Bergvolk, das in Unwissenheit und Armut lebt. Ich denke, das Wichtigste, was ich als Schriftstellerin tun kann, ist, meinem Volk eine Stimme zu geben. Durch Geschichten, die uns nuanciert, mitfühlend und authentisch zeigen, wollte ich unsere Kultur und unsere Landschaft auf den Schirm bringen. Da ich jetzt zu Leser:innen in Deutschland spreche, hat sich herausgestellt, dass er viel größer ist, als ich mir vorgestellt habe.

„Demon Copperhead“ gilt als das große Epos der Appalachen. Was ist für Sie das Wissenswerteste über diese Region?
Es gibt so vieles, was an uns interessant ist: unsere schönen, wilden Landschaften, unsere starke Verbundenheit mit der Familie und der Gemeinschaft, unser Geschichtenerzählen. Wir sind Menschen, die viele Sachen machen können: Quilts, Musik, sogar Schwarzgebranntes. Wir sind das Produkt unserer Geschichte, in einer Region, die von äußeren Interessen stark ausgebeutet wurde. Über Jahrhunderte hinweg, angefangen bei den Holzfällerunternehmen bis hin zum Kohlebergbau, haben diese Rohstoffindustrien bewusst andere Beschäftigungsmöglichkeiten ausgeschlossen, um sich einsatzbereite Arbeitskräfte zu sichern. Das Ergebnis ist, dass wir eine der ärmsten Gegenden des Landes sind, mit einem erschreckend eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Chancen. Das hat eine Kultur des Einfallsreichtums und der Widerstandsfähigkeit hervorgebracht. Anstatt mich für unsere Rückständigkeit zu schämen, war es für mich ein lebenslanger Prozess, Stolz auf all die faszinierenden Fähigkeiten zu entwickeln, die uns überleben haben lassen. Das möchte ich mit anderen Menschen teilen, sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Region.

„Die Offenbarung kam, als ich das Haus von Charles Dickens besuchte.“

Bahnbrechend für die Entstehung von „Demon Copperhead“ scheint eine Reise nach England gewesen zu sein. Was wurde Ihnen da zum Schlüsselerlebnis oder Geistesblitz?
Ich habe jahrelang über diesen großen Roman aus den Appalachen nachgedacht, den ich schreiben wollte. Ich fühlte mich durch den Umfang und die Düsternis eingeschüchtert. Wer will schon über strukturelle Armut und Waisenkinder lesen? Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
Die Offenbarung kam, als ich das Haus von Charles Dickens in Broadstairs, England, besuchte, wo er „David Copperfield“ geschrieben hat. Ich fand im Internet heraus, dass es jetzt ein Gasthaus ist, und mietete mich am Ende einer Lesereise für ein Wochenende ein. Ich hatte keine wirklichen Erwartungen, war aber von Mr. Dickens‘ kleinem Arbeitszimmer am Ende des Flurs im Obergeschoss sehr beeindruckt. Ich saß lange Zeit an seinem Schreibtisch und dachte über die Wut nach, die ihn bewegte. Waisenkinder, Armut? Ja. Die ganze Welt wartete auf sein nächstes Kapitel. Ich spürte es in Form eines Befehls: Ich musste dieses Buch schreiben. Das Wichtigste aber war, dass er mir sagte: Lass das Kind die Geschichte erzählen. Ich dachte: „Okay, ich werde DEIN Kind die Geschichte erzählen lassen.“ Ich schlug mein Notizbuch auf und begann, meinen eigenen „David Copperfield“ zu schreiben, und zwar genau dort, an seinem Schreibtisch.

Zwischen Dickens‘ „David Copperfield“ um 1850 und Ihrem „Demon Copperhead“ von heute sind rund 170 Jahre vergangen. Was ist gleichgeblieben? Worin sehen Sie die Parallelen?
Leider haben sich zu viele Dinge nicht geändert. In den USA ist institutionelle Armut immer noch ein entscheidender Faktor für die Erfolgschancen eines Kindes. Die Kluft zwischen den reichsten und den ärmsten Menschen ist größer denn je. Die Sicherheitsnetze, die Kinder in Armut schützen sollen, sind so schlecht finanziert, dass sie manchmal überhaupt keine Hilfe sind. Wir haben jetzt Gesetze gegen Kinderarbeit und Menschenhandel, aber diese Dinge passieren immer noch, manchmal auf so alltägliche Weise, dass sie kaum wahrgenommen werden. Wenn das Pflegesystem als gewinnorientiertes Unternehmen betrieben wird, sind die Kinder zum Beispiel der Ausbeutung ausgesetzt.
Etwas anderes, das sich nie ändert, ist die Versuchung für glückliche Menschen, über die Probleme der Unglücklichen hinwegzusehen oder die Opfer für ihr Schicksal verantwortlich zu machen. Demon drückt dies an einer sehr traurigen Stelle in seiner Erzählung so aus: „In solchen Momenten kommt eine gemeine Seite der Menschen zum Vorschein, bei der sie sich nur fragen, was der Unglückliche getan hat, um in seine missliche Lage zu kommen. Sie bauen eine Mauer, um das Unglück fernzuhalten.“ Die Absicht dieses Romans war es, diese Mauer einzureißen und einige unglückliche Leben auf eine Weise zu erforschen, die die Leser:innen auffordert, ihnen direkt in die Augen zu sehen und Mitgefühl zu empfinden.

„Es war wie ein Meisterkurs bei dem Meister selbst.“

In Ihrem Romanvorwort verraten Sie: „Während der nächsten zwei Jahre schrieb ich mit Dickens an meiner Seite.“ Wie meinen Sie das genau?
Während der gesamten drei Jahre, die ich an diesem Roman schrieb, lag Mr. Dickens‘ David Copperfield aufgeschlagen auf meinem Schreibtisch, nur wenige Zentimeter von meinem rechten Ellbogen entfernt. Seite für Seite, Kapitel für Kapitel legte ich die Handlung meines Romans direkt über seine. Jede seiner wichtigen Figuren wurde zu meiner, unter einem neuen (aber leicht erkennbaren) Namen: Peggoty ist Mrs. Peggot; Steerforth ist Fast Forward; Murdstone ist Stoner; und so weiter. Ich brauchte einige Figuren, die Dickens nicht zur Verfügung stellte (vor allem Demons besten Freund Maggot), und ich habe die sehr lange Handlung von „David Copperfield“ manchmal gekürzt oder gestrafft. Natürlich habe ich Einstellungen und Berufe modernisiert und seine weiblichen Figuren radikal umgestaltet, um sie interessant zu machen. (Ehrlich gesagt, weiß ich viel mehr über Frauen als Dickens.) Aber technisch gesehen bin ich bei meiner Umsetzung treu geblieben. Dickens war der populärste Schriftsteller seiner Zeit – warum sollte man daran rütteln? Es war wie ein Meisterkurs bei dem Meister selbst. Ich lernte Dinge über Tempo, Charakter u​nd Stimme, die mich für den Rest meines Schriftstellerlebens begleiten werden.

„Von der Ohnmacht zur Ermächtigung.“

Was verkörpert Demon Copperhead für Sie und was symbolisiert dieser Name?
Ich würde ihn nicht auf ein paar Sätze reduzieren wollen. Er ist eine ganze Geschichte. In literarischer, symbolischer Hinsicht steht er für einen Ort, für ein Volk, für den Übergang vom Kind zum Erwachsenen, von der Ohnmacht zur Ermächtigung. In vielerlei Hinsicht verkörpert er das Überleben selbst. Ich hoffe, dass er für viele verschiedene Leser:innen viele verschiedene Bedeutungen haben wird.

Sie haben Demon eine ganz eigene, unverwechselbare Stimme und einen besonderen Erzählstil gegeben. Worauf kam es Ihnen da beim Formulieren und bei der Wortwahl an?
Meine größte Herausforderung bestand darin, dass dieser Junge Ihre Liebe und Ihren Respekt gewinnen und dabei genauso klingen sollte wie er selbst. Es ist schwer, das jemandem zu erklären, der es noch nie erlebt hat, aber der Akzent und die Diktion der Appalachen werden im restlichen Amerika so sehr verspottet, dass schon wenige Worte die Leute zum Lachen bringen können. Als ich Kentucky verließ, um an einer Universität im Mittleren Westen der USA zu studieren, lachten die Leute jeden Tag über meinen Akzent und meine Sprache. Professoren machten eine Show daraus, meinen Akzent zu „korrigieren“. Selbst Fremde hielten mich auf dem Bürgersteig an und forderten mich auf, bestimmte Wörter oder Ausdrücke zu sagen, die sie komisch fanden. Ich lernte, die Demütigung zu vermeiden, indem ich meine Sprache änderte. Jetzt mache ich das, was Linguisten „Code-Switching“ nennen: Ich spreche mit Familie und Freunden auf die eine Art und Weise und mit Außenstehenden neutraler.
Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass die Sprache der Appalachen nicht falsch ist. Es ist ein verfolgter Akzent, aber dennoch unsere eigene Standardsprache. Also habe ich Demon eine appalachische Stimme gegeben, ohne mich zu schämen. Ich habe dafür gesorgt, dass er sich auf seine eigene Art und Weise artikulieren kann, auch wenn er ungebildet ist. Ich habe keine Wörter falsch geschrieben, um zu zeigen, wie er sie ausspricht (das finde ich sehr herablassend), sondern habe andere Wege gefunden, um seine Regionalität zu vermitteln. Ich habe in den ersten Kapiteln die Wörter vermieden, die zum Lachen anregen, und mich stattdessen auf poetische Wendungen konzentriert, die für unsere Region typisch sind. Nach und nach habe ich Sie in seine Welt eingeführt.

Wie würden Sie die Welt beschreiben, in die Demon hineingeboren wird?
Der Ausgangspunkt meiner Zeitleiste war 1996: das Jahr, in dem Purdue Pharma sein extrem süchtig machendes Schmerzmittel Oxycontin auf den Markt brachte. „Eingeführt“ ist ein zu höfliches Wort für die Art und Weise, wie sie unsere ländlichen Bezirke ins Visier nahmen und ihr Medikament so aggressiv vermarkteten, dass innerhalb weniger Jahre eine tragische Zahl von Menschen süchtig wurde und an einer Überdosis starb. So viele traurige Geschichten begannen mit einer legalen Verschreibung durch einen Arzt wegen chronischer Schmerzen oder eines Arbeitsunfalls. Highschool-Schüler:innen mit Sportverletzungen waren häufige Opfer. Genau diese Umstände bilden einen Wendepunkt in meiner Geschichte, so dass ich etwa zehn Jahre zurückspulte und Demon Mitte der achtziger Jahre als Sohn einer alleinerziehenden Mutter in einem Wohnwagen geboren wurde, in einer Welt, die von den Führungskräften der Pharmaindustrie als ideales Ziel ausgemacht wurde: viel zu wenige Ärzte, die sich um zu viele Patient:innen kümmern, um eine sorgfältige Aufsicht zu gewährleisten. Viele Behinderungen und Arbeitsunfälle durch schwere Arbeit. Menschen ohne Wahlmöglichkeiten oder viel Einfluss auf ihr Leben.
In diesem Roman geht es um viel mehr als um Schmerzmittel und Sucht, aber die böswillige Ausbeutung durch eine fremde Industrie – in diesem Fall durch Purdue, die unsere Schmerzen ausbeuten will – diente als Ausgangspunkt für die größere Geschichte, die ich erzählen wollte.

„Ich habe die Frauen in ihrem vollen menschlichen Potenzial entwickelt.“

Die vier Töchter der Pegotts sind ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, vor allem June, die Älteste, und Mariah, die Jüngste. Wofür stehen diese Gegensätze und wie typisch ist das für Frauenleben in dieser Gesellschaft?
Die Peggot-Töchter – und ganz allgemein die Frauen in diesem Roman – sind glaubwürdigere Charaktere als die Frauen in „David Copperfield“, wie ich bereits erwähnt habe. Anstatt sie, wie Dickens es tat, nur als Folie für die männliche Handlung zu verwenden, als papierdünne Engel oder Teufel, hat es mir gefallen, diese Frauen in ihrem vollen menschlichen Potenzial zu entwickeln. Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen gibt es Fürsorger:innen (Mrs. Peggot, Tommy, Tante June), furchterregende Soziopathen (Fast Forward, Mouse) und alles, was dazwischen liegt. Das macht eine gute Fiktion aus, und meine kreative Herausforderung besteht darin, mich in jede Art von Persönlichkeit gleichermaßen hineinzuversetzen, auch in die schrecklichen. Ich muss sie alle lieben – oder zumindest verstehen, wie sie ticken. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Bandbreite an Persönlichkeiten etwas Spezifisches für die Appalachen ist, außer dass jedes Drama aus den Appalachen eine Ensemblebesetzung erfordert. Wir sind hier sehr stark in unsere Familien eingebettet. Wir kennen jede Person in der Stadt und wissen alles über sie. Wir sind Menschen, die aus Gemeinschaft bestehen.

Von klein auf ist es Demons großer Traum, das Meer zu sehen. Was steckt hinter dieser Sehnsucht, an der er festhält, egal, wie unwahrscheinlich die Erfüllung ist?
Diese Idee hatte ich von Anfang an, in jener Nacht, als ich an Dickens‘ Schreibtisch saß und aus dem Fenster auf den dunklen Ozean blickte. Jede Romanfigur braucht eine große Sehnsucht, etwas anderes als die offensichtlichen Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Liebe. Von dem Moment an, als ich mir meinen Erzähler vorstellte, fühlte ich seine rauflustige, rothaarige Empörung, sein großes, verletztes Herz und seine Sehnsucht, das Meer zu sehen. Das macht Sinn. Kinder, die in meinem Heimatort in Armut aufwachsen, haben einen sehr begrenzten Horizont. Die meisten werden nie einen Reisepass haben. Sie werden in diesem Land leben und sterben, ohne jemals weit zu kommen. Das Meer ist eine siebenstündige Autofahrt entfernt, und für manche Kinder könnten es genauso gut der Mond und die Sterne sein. Ich wollte, dass mein Demon sich nach dem Mond und den Sternen sehnt.

„Es gibt keinen ,falschen‘ Weg, einen Roman zu verstehen.“

Täuschen wir uns oder steckt in Ihrem Roman eine Menge Zuversicht, dass sich die Welt eben doch verändern lässt?
Haben Sie es so verstanden? Wunderbar. Es gibt keinen „falschen“ Weg, einen Roman zu verstehen. Mein Teil des Werks ist fertig, und jetzt übergebe ich es den Leser:innen – es gehört jetzt Ihnen. Jede:r Leser:in bringt ein anderes Lebenswissen, andere Hoffnungen und Ängste in das Leseerlebnis ein und nimmt daraus eine einzigartige Form von Nahrung mit. Das ist es, was ich an Literatur liebe: Sie ist persönlich. Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen genau das gibt, was Sie brauchen.